Verwaltungsrecht

Antrag auf Ehegattennachzug bei erloschenem Visum zur Ausübung einer Au-Pair-Tätigkeit

Aktenzeichen  Au 1 E 20.1183 ; Au 1 S 20.1214

Datum:
7.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24614
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123 Abs. 1
AufenthG § 5 Abs. 1, Abs. 2 § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 81 Abs. 5
GKG § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1

 

Leitsatz

Ein Anspruch auf Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis iSd. § 5 Abs. 2 S. 2 liegt nur dann vor, wenn es sich um einen strikten Rechtsanspruch handelt, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt.  Hierfür genügt weder eine Soll- noch eine Ermessensvorschrift, selbst wenn im Einzelfall ein atypischer Fall vorliegt oder das Ermessen „auf Null“ reduziert ist (vgl. st.Rspr. BVerwG, U. v. 12.7.2018 – 1 C 16/17, BeckRS 2018, 18382; BVerwG, U. v. 10.12.2014 – 1 C 15/14, BeckRS 2015, 41164). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die am … 1997 geborene Antragstellerin ist indonesische Staatsangehörige. Sie begehrt die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung bzw. die Erteilung einer Duldung.
Sie reiste am 25. April 2018 mit einem bis zum 22. Oktober 2018 gültigen Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein. Dieses war mit folgendem Zusatz versehen: „Gilt nur für eine Au-Pair-Tätigkeit bei der Familie, *.“ Zudem wurde unter anderem die Nebenbestimmung getroffen, dass der Aufenthaltstitel mit „Beendigung dieser Tätigkeit oder mit Bezug öffentlicher Leistungen“ erlösche.
Mit Schreiben vom 12. Juni 2018 wurde der Au-Pair-Vertrag von der Familie * mit sofortiger Wirkung gekündigt, woraufhin die Antragstellerin in ihr Heimatland zurückflog. Am 20. Juli 2018 schloss sie einen neuen Au-Pair-Vertrag mit der Familie * aus * und trat am 12. September 2018 die Stelle an. Mit Formblattantrag vom 19. Oktober 2018 stellte sie einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ihre neue Au-Pair-Stelle, über den das damals zuständige Landratsamt * nicht entschied. In den Akten befindet sich lediglich ein Anhörungsschreiben vom 7. November 2018 zur Ablehnung des Antrags. Zudem legte die Antragstellerin die Kopie einer Fiktionsbescheinigung vor. Die Tätigkeit bei der Familie * endete am 9. Juli 2019.
Mit Schriftsatz vom 11. September 2019 ließ die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 18d AufenthG beantragen. Sie wohne seit dem 1. August 2019 in * und beabsichtige, am 1. Oktober 2019 im dortigen Krankenhaus ein Freiwilliges Soziales Jahr abzuleisten.
Am 20. Februar 2020 heiratete die Antragstellerin einen deutschen Staatsangehörigen. Den für den 24. März 2020 vereinbarten Termin bei der deutschen Botschaft in Jakarta zur Beantragung eines Visums zum Ehegattennachzug konnte sie aufgrund der Einschränkungen des Flugverkehrs wegen der Covid-19 – Pandemie nicht wahrnehmen. Aus diesem Grund erteilte ihr die Antragsgegnerin am 18. März 2020 eine Duldung, die bis zum 18. Juni 2020 gültig war.
Mit Schriftsatz vom 6. Mai 2020 ließ die Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Ehegattennachzugs beantragen. Die Forderung nach der Einholung eines Visums sei für sie nicht realisierbar, da sie und ihr Ehemann in absehbarer Zeit nicht nach Indonesien reisen könnten. Es gebe eine weltweite Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Zudem habe ihr die deutsche Botschaft in Jakarta mitgeteilt, dass ein Visum nur an indonesische Staatsbürger mit dauerhaftem Wohnsitz in Indonesien erteilt werden könne. Die Einholung eines Visums sei daher mit tatsächlichen und rechtlichen Unwägbarkeiten verbunden. Auf der Grundlage der ihr erteilten Duldung könne sie nicht arbeiten. Das Visumverfahren sei auch deshalb nur eine Formalie, da bereits im Rahmen der Eheschließung die Legalisierung der Personaldokumente der Antragstellerin bei der Botschaft erfolgt sei. Hinsichtlich des Absehens vom Visumverfahren liege eine Ermessensreduzierung auf Null vor, da die Nachholung unzumutbar sei und es sich angesichts der bereits geprüften Dokumente um einen bloßen Formalismus handle.
Mit Schreiben vom 8.Juni 2020 ließ die Antragstellerin zudem die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 84 Abs. 3 und Abs. 5 AufenthG beantragen.
Mit Bescheid vom 6. Juli 2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag vom 11. September 2019 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 18d AufenthG ab (Ziffer I. des Bescheids), ebenso den Antrag vom 11. September 2019 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG (Ziffer I.I.). In Ziffer I.II. lehnte sie die Anträge vom 6. Mai 2020 und 8. Juni 2020 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ab. In Ziffer II. wurden die Anträge vom 11. September 2019 sowie 8. Juni 2020 auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung abgelehnt. Die Antragstellerin wurde aufgefordert, der Antragsgegnerin ihren indonesischen Reisepass bis zum 17. Juli 2020 auszuhändigen (Ziffer III.). In Ziffer IV. wurde für den Fall der Nichtbeachtung ein Zwangsgeld in Höhe von 500,00 EUR angedroht. In Ziffer V. wurde die Antragstellerin aufgefordert, das Bundesgebiet bis zum 30. Juli 2020 zu verlassen und in Ziffer VI. die Abschiebung nach Indonesien angedroht. In Ziffer VII. wurde hilfsweise die Erteilung einer Duldung abgelehnt. Das Visum der Antragstellerin sei durch die Beendigung der Tätigkeit bei der Familie * erloschen. Seitdem sei sie nicht mehr im Besitz eines gültigen Aufenthaltstitels gewesen. Von der Gültigkeit der auflösenden Bedingung im erteilten Visum sei auszugehen. Die Einreise mit dem erforderlichen Visum sei eine allgemeine Erteilungsvoraussetzung. Von ihr könne nur unter bestimmten Voraussetzungen und im Rahmen der Ausübung von Ermessen abgesehen werden. Nachdem die Antragstellerin nach ihrer ersten Tätigkeit als Au-Pair in ihr Heimatland zurückgekehrt sei, sei sie am 12. September 2018 illegal in das Bundesgebiet eingereist und halte sich seitdem illegal hier auf. Ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sei gegeben. Damit fehle eine Erteilungsvoraussetzung, so dass kein zwingender Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug bestehe. Aufgrund des unerlaubten Aufenthalts ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel habe die Staatsanwaltschaft * bereits einen Strafbefehl erlassen, der allerdings noch nicht rechtskräftig sei. Die Nachholung des Visumverfahrens sei auch nicht unzumutbar. Die Antragstellerin habe Familienangehörige in Indonesien und könne sich bei diesen während des Visumverfahrens aufhalten. Eine Reise nach Indonesien sei rechtlich und tatsächlich möglich. Es bestünde eine Flugverbindung. Auch die Ermessensabwägung falle zu Ungunsten der Antragstellerin aus. Bei der Einholung des erforderlichen Visums handle es sich nicht nur um eine bloße Förmlichkeit, sondern um ein elementar wichtiges Steuerungsinstrument für die Zuwanderung in das Bundesgebiet. Die Antragstellerin halte sich seit dem 12. September 2018 illegal im Bundesgebiet auf und sei sogar einer Beschäftigung nachgegangen. Aufgrund ihrer Deutschkenntnisse sei sie in der Lage gewesen, die Nebenbestimmungen zu ihrem Visum zu verstehen. Die Antragsgegnerin habe sie bei ihrer Heirat unterstützt, da sie mehrfach die Ausreise zur Nachholung des Visumverfahrens zugesichert habe. Zudem sei das Gebot der Gleichbehandlung zu beachten. Ermittlungen der Ausländerbehörde hätten ergeben, dass die Antragstellerin einen Sondertermin zur Beantragung eines Visums zum Familiennachzug bei der deutschen Botschaft in Jakarta erhalten könne. Die weltweite Reisewarnung wegen der Covid-19 – Pandemie gelte nur für nicht notwendige touristische Reisen, nicht aber für Reisen zur Nachholung des Visumverfahrens. Die Nachholung des Visumverfahrens sei auch nicht entbehrlich. Da die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht vorlägen, könne auch kein Aufenthaltstitel nach § 18b AufenthG sowie § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG erteilt werden. Eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis komme nicht in Betracht, da die Ausreise möglich sei. Die von Indonesien verhängte Einreisesperre gelte nur für ausländische Staatsangehörige. Auch der Flugverkehr zwischen Indonesien und Deutschland finde statt. Der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie stünde der Forderung nach der Einhaltung des Visumverfahrens nicht entgegen. Die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung komme nicht in Betracht, da der Aufenthaltstitel der Antragstellerin bereits mit Beendigung ihrer ersten Au-Pair-Beschäftigung erloschen sei. Die Pflicht zur Hinterlegung des Nationalpasses ergebe sich aus dem Gesetz. Eine Duldung der Antragstellerin komme nicht in Betracht, da angesichts des vorliegenden Nationalpasses eine Ausreise möglich und ihr eine Ausreise zur Nachholung des Visumverfahrens auch zumutbar sei.
Die Antragstellerin ließ zunächst mit Schriftsatz vom 7. Juli 2020 Untätigkeitsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erheben, in welche mit Schriftsatz vom 20. Juli 2020 der Bescheid vom 6. Juli 2020 einbezogen wurde. Über die Klage ist noch nicht entschieden (Au 1 K 20.1182). Ferner beantragt sie Eilrechtsschutz. Die Antragstellerin sei am 23. Juni 2018 in ihr Heimatland zurückgereist, nachdem sie am 11. Juni 2018 Opfer eines Sexualdelikts geworden sei und ihre Gastfamilie den Au-Pair-Vertrag gekündigt habe. Nachdem sie sich stabilisiert habe, habe sie sich bei der deutschen Botschaft in Jakarta erkundigt, ob sie mit demselben Visum wieder in die Bundesrepublik Deutschland einreisen dürfe. Sie habe die Auskunft erhalten, dass dies möglich sei, auch wenn sie bei einer anderen Gastfamilie beschäftigt werde. Nach ihrer Wiedereinreise am 12. September 2018 habe sie sofort ihre Tätigkeit als Au-Pair aufgenommen und am 19. Oktober 2018 die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis beantragt. Die Ausländerbehörde habe ihr eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt. Über den Antrag sei ebenso wenig entschieden worden wie über ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Absolvierung eines Freiwilligen Sozialen Jahres im Krankenhaus *. Nach der Heirat am 20. Februar 2020 habe die Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis beantragt und nach entsprechender Aufforderung durch die Antragsgegnerin einen Termin bei der deutschen Botschaft in Jakarta zur Beantragung des Visums vereinbart. Der für den 22. März 2020 vorgesehene Flug nach Jakarta sei aufgrund der Corona-Virus-Pandemie storniert worden. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug. Es treffe nicht zu, dass sie nicht mit dem notwendigen Visum eingereist sei. Sie sei sowohl am 25. April 2018 als auch am 12. September 2018 mit einem gültigen Visum eingereist. Die auflösende Bedingung sei im Zweifel nichtig gewesen, sie sei jedenfalls nicht eingetreten. Die Bedingung „erlischt mit Beendigung dieser Tätigkeit“ sei zu unbestimmt, da nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne, ob und wann sie eintrete. Ob eine Au-Pair-Tätigkeit beendet sei, bedürfe ebenso wie bei einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Regelfall der wertenden Betrachtung einer Vielzahl von Faktoren. Die Bedingung dürfe nicht so ausgestaltet sein, dass der Ausländer gleichsam sofort in einen illegalen Aufenthalt gerate. Durch eine Auslegung der auflösenden Bedingung im Visum dahingehend, dass sie an die Beendigung der Au-Pair-Tätigkeit bei der Familie * geknüpft gewesen sei, sei eine Abwägung, ob nur aufgrund eines Wechsels der Au-Pair-Stelle ein Ausweisungsinteresse gegeben sei, nicht möglich. Die deutsche Botschaft in Indonesien habe der Antragstellerin deshalb auch vor der Wiedereinreise die Auskunft erteilt, dass es nicht auf die Beendigung der konkreten Au-Pair-Stelle, sondern vielmehr auf die Beendigung der Au-Pair-Tätigkeit als solcher ankomme. Etwas anderes mache aus Rechtsgründen keinen Sinn. Die weitere Anknüpfung an den Nichtbezug öffentlicher Leistungen mache deutlich, dass es nur allgemein um eine Tätigkeit gehen solle. Die auflösende Bedingung sei auch deshalb nicht eingetreten, da das Au-Pair-Verhältnis mit der Familie * nicht wirksam gekündigt worden sei. Ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung habe nicht vorgelegen. Dies könne letztlich dahingestellt bleiben, da die Antragstellerin bei der Botschaft keine falschen Angaben gemacht habe. Es habe eine ordnungsgemäße Einreise vorgelegen. Die Au-Pair-Tätigkeit sei bei der Wiedereinreise jedenfalls nicht beendet gewesen, sondern lediglich bei einer anderen Familie fortgeführt worden. Die Antragstellerin sei auch mit dem für die Einreise erforderlichen Visum eingereist, da auf den Zeitpunkt der Einreise abzustellen sei. Die Regelvoraussetzungen des § 5 AufenthG lägen damit vor. Selbst wenn man eine Einreise mit dem erforderlichen Visum verneine, dürfe die Antragstellerin im konkreten Fall nicht auf die Nachholung des Visumverfahrens verwiesen werden. Die Einhaltung der Visumregeln sei kein Selbstzweck. Sämtliche im Visumverfahren zu klärenden Fragen seien bereits im Legalisationsverfahren im Zusammenhang mit der Eheschließung von der Deutschen Botschaft geklärt worden. Vorliegend sei es deshalb nur eine bloße Förmlichkeit. Die Antragstellerin habe bei ihrer Wiedereinreise nicht bewusst das Visumverfahren umgangen und es gebe keine zu überprüfenden Dokumente, so dass die Voraussetzungen für eine Ausnahme von einer erneuten Visumpflicht gegeben seien. Der Antragstellerin sei die Durchführung des Visumverfahrens nicht zuzumuten. Aufgrund der eingeschränkten Tätigkeit der deutschen Botschaft sei die Dauer des Visumverfahrens nicht abzusehen. Daneben könne das Visumverfahren seine Steuerungs- und präventive Kontrollfunktion nicht mehr erfüllen. Bis zur Entscheidung über die Hauptsache sei der Antragstellerin eine Fiktionsbescheinigung auszustellen. Ein Anordnungsgrund liege vor, da die Antragstellerin beabsichtige, noch im September dieses Jahres ein Hochschulstudium aufzunehmen. Dies sei ohne Fiktionsbescheinigung nicht möglich. Zudem beabsichtige sie einen Kurzurlaub in Österreich.
Die Antragstellerin beantragt,
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin bis zur Entscheidung über die Hauptsache eine Fiktionsbescheinigung auszustellen, hilfsweise eine vorläufige Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG auszusprechen und über die Aussetzung der Abschiebung der Antragstellerin eine Bescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG auszustellen, bis die deutsche Botschaft in Indonesien wieder Visaverfahren durchführt und die allgemeine Reisewarnung des Auswärtigen Amts wegen der Corona-Pandemie aufgehoben wird.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 16. Juli 2020
die Ablehnung des Antrags.
Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid vom 6. Juli 2020.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Antragsgegnerin vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
1. Gegenstand des Antrags ist der Anspruch der Antragstellerin auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung und hilfsweise Erteilung einer Duldung.
2. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete strittige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Es kann dahingestellt bleiben, ob ein Anordnungsgrund vorliegt. Denn jedenfalls kann sich die Antragstellerin nicht mit Erfolg auf einen Anordnungsanspruch berufen.
a) Ein Anspruch auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 5 AufenthG besteht dann, wenn ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Fiktionswirkung hat. Nachdem die Antragsgegnerin mittlerweile die Anträge der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 6. Juli 2020 abgelehnt hat, ist weitere Voraussetzung eines Anspruchs auf Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen den ablehnenden Bescheid erhobenen Klage. Dies wurde im Verfahren Au 1 S 20.1214 beantragt und vom Gericht abgelehnt.
b) Ein Anordnungsanspruch ergibt sich nicht aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Die Antragstellerin hat ohne vorherige Durchführung des Visumverfahrens keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Ehegattennachzugs zu ihrem deutschen Ehemann nach dieser Vorschrift.
Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist dem Ehegatten eines Deutschen die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor. Die Antragstellerin hat am 20. Februar 2020 einen deutschen Staatsangehörigen geheiratet. Neben den besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 AufenthG müssen allerdings auch die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorliegen, die in § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG geregelt sind. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist.
aa) Welches Visum als das erforderliche Visum im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird (BVerwG, U.v. 16.11.2010 – 1 C 17/09 – juris Ls. 2 und Rn. 19). Das Bundesverwaltungsgericht begründet seine Auffassung mit der systematischen Stellung der Vorschrift bei den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen sowie dem Sinn und Zweck der Regelung. Diese dient nicht primär der Verhinderung oder Sanktion einer unerlaubten Einreise, sondern soll die Einhaltung des Visumverfahrens als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung gewährleisten (BT-Drucksache 15/420 S. 70; BVerwG, U.v. 16.11.2010, a.a.O., Rn. 19). Zudem würden nur bei einem solchen Verständnis der Vorschrift die in § 39 Nr. 2, 3 und 6 AufenthV vorgesehenen Ausnahmen eine eigenständige Bedeutung erlangen. In den dort geregelten Fällen einer nachträglichen Änderung des Aufenthaltszwecks würde andernfalls schon nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG die Beantragung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet zulässig sein (BVerwG, U.v. 16.11.2010, a.a.O., Rn. 19). Damit liegt die Regelerteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum bei der Antragstellerin bereits deshalb nicht vor, da sie bei ihren Einreisen nicht im Besitz eines nationalen Visums zum Zwecke des Ehegattennachzugs war.
bb) Die Antragstellerin ist auch nicht berechtigt, den Aufenthaltstitel zum Ehegattennachzug im Bundesgebiet einzuholen. In Betracht käme allenfalls die Ausnahmevorschrift des § 39 Satz 1 Nr. 1 AufenthV, wonach dies dann möglich ist, wenn ein Ausländer ein nationales Visum oder eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Die Antragstellerin ist allerdings nicht mehr im Besitz eines nationalen Visums, da das Visum für die Ausübung der Au-Pair-Tätigkeit bei der Familie * durch die Kündigung des Arbeitsverhältnisses erloschen ist. Zur Begründung wird auf die Ausführungen im Beschluss vom 7. August 2020 im Verfahren Au 1 S 20.1214 verwiesen.
cc) Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann von der Verpflichtung zur Einreise mit dem erforderlichen Visum abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen.
Ein Anspruch auf Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur dann vor, wenn es sich um einen strikten Rechtsanspruch handelt, der sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Das bedeutet, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind und die Behörde kein Ermessen mehr auszuüben hat. Hierfür genügt weder eine Soll- noch eine Ermessensvorschrift, selbst wenn im Einzelfall ein atypischer Fall vorliegt oder das Ermessen „auf Null“ reduziert ist (st.Rspr., vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 27; BVerwG, U.v. 10.12.2014 – 1 C 15/14 – juris Rn. 15).
Ein strikter Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheitert im vorliegenden Fall an dem Vorliegen eines Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, dessen Fehlen nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Regelerteilungsvoraussetzung darstellt. Nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen begannen hat. Ein solcher Verstoß gegen eine behördliche Entscheidung liegt nach der im Eilverfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage vor. Das Visum, das die deutsche Botschaft in Jakarta der Antragstellerin erteilt hat, war ausdrücklich nur gültig für eine Au-Pair-Tätigkeit bei der Familie * in *. Nachdem das Arbeitsverhältnis fristlos gekündigt worden war, kehrte die Antragstellerin in ihr Heimatland zurück und reiste erneut in das Bundesgebiet ein, um für die Familie * in * tätig zu werden. Dies widersprach der eindeutigen Nebenbestimmung im Visum, wonach dieses nur für eine Tätigkeit bei der Familie * gilt. Der Wortlaut ist dabei derart eindeutig, dass keinerlei Spielraum für eine Auslegung verbleibt. Zu den von der Botschaft im Rahmen der Visumerteilung für eine Au-Pair-Tätigkeit zu prüfenden Unterlagen gehören unter anderem ein Au-Pair-Einladungsschreiben mit einer genauen Aufgabenbeschreibung und der zwischen der Familie und der Au-Pair-Beschäftigten geschlossene konkrete Vertrag, der unter anderem auch die Verpflichtung zum Abschluss einer privaten Kranken- und Unfallversicherung enthält. Diese Überprüfung der konkret vereinbarten Arbeitsbedingungen im Rahmen des Visumverfahrens spricht dafür, dass das erteilte Visum nicht ohne Weiteres für ein neues Au-Pair-Verhältnis verwendet werden kann. Angesichts der zu prüfenden Unterlagen ist auch unwahrscheinlich, dass bei einer unmissverständlichen und vollständigen Darlegung des Sachverhalts die deutsche Botschaft in Jakarta tatsächlich die Auskunft erteilte, das Visum könne ohne Prüfung des konkreten Au-Pair-Vertrages auch für jedes andere Au-Pair-Verhältnis verwendet werden. Es spricht deshalb nach derzeitigem Stand vieles dafür, dass ein Ausweisungsinteresse vorliegt. Damit fehlt ein strikter Rechtsanspruch, der nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG eine Ausnahme von der Visumpflicht im Rahmen der Ausübung pflichtgemäßen Ermessens ermöglichen könnte.
Auch für die Annahme der Unzumutbarkeit einer Durchführung des Visumverfahrens nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG liegen keine ausreichenden Anhaltspunkte vor. Zunächst ist es der Antragstellerin grundsätzlich auch unter Berücksichtigung des besonderen Schutzes der Ehe gemäß Art. 6 GG zumutbar, in ihr Heimatland auszureisen und das Visumverfahren nachzuholen. Eine vorübergehende Trennung von ihrem Ehemann ist hinzunehmen. Sie und ihr Ehemann befinden sich hier in keiner anderen Situation als andere Familienangehörige, die ordnungsgemäß das Visumverfahren vom Ausland aus durchführen und ebenfalls vorübergehend noch nicht zusammen im Bundesgebiet leben können. Eine Abhängigkeit eines der Ehegatten von der dauernden Anwesenheit des anderen Ehegatten ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Auch die vorübergehende Rückkehr in ihr Heimatland ist der Antragstellerin zumutbar, da sie dort Familie hat und mit den dortigen Gegebenheiten vertraut ist. Es gibt derzeit zwar besondere Einschränkungen aufgrund der Covid-19 – Pandemie. Jedoch spricht nichts dafür, dass die Einhaltung der angeordneten und erforderlichen Schutzmaßnahmen der Antragstellerin nicht möglich und zumutbar sein könnte. Die bereits erfolgte Legalisierung der Personaldokumente im Zusammenhang mit der Eheschließung beschleunigt und vereinfacht das Visumverfahren, macht dessen Durchführung aber nicht unzumutbar.
Nach alledem war ein Ermessensspielraum der Antragsgegnerin hinsichtlich eines Verzichtes auf das Visumverfahren nicht eröffnet. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug liegt nicht vor.
c) Ebenso ergibt sich ein Anordnungsanspruch nicht aus einem Anspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Es wurde von der Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist.
Wie oben bereits ausgeführt, steht der besondere Schutz der Ehe gemäß Art. 6 GG der Pflicht zur Nachholung des Visumverfahrens nicht entgegen. Auch die Covid-19 – Pandemie führt nicht zu einem tatsächlichen oder rechtlichen Ausreisehindernis. Zwar gibt es gegenwärtig massive Einschränkungen im internationalen Luft- und Reiseverkehr. Die weltweite Reisewarnung des Auswärtigen Amtes gilt jedoch ausdrücklich nur für nicht notwendige touristische Reisen in das Ausland. Aufgrund einer Anfrage der Antragsgegnerin teilte die Botschaft in Jakarta mit, es fände weiterhin Flugverkehr zwischen Indonesien und Deutschland u.a. mit Qatar Airways statt. Auch eine Beantragung des Visums bei der Botschaft sei möglich. In Verbindung mit der Vorabzustimmung der Antragsgegnerin würde der Antragstellerin ein Sondertermin angeboten, so dass das Visumverfahren in einem zeitlich angemessenen Rahmen durchgeführt werden könnte. Diese von der Antragsgegnerin eingeholten Informationen und Zusagen werden von der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren nicht widerlegt. Sie hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Flugverbindungen zwischen Deutschland und Indonesien nicht nur massiv eingeschränkt, sondern gänzlich eingestellt wurden. Ihr Bevollmächtigter verweist hierzu lediglich auf die allgemeine Lage und legt nicht konkret und substantiiert dar, dass die Antragstellerin auch bei ernsthaften Bemühungen nicht in ihr Heimatland ausreisen und in angemessener Zeit wieder nach Deutschland zurückkehren könnte. Ebenso wenig macht sie glaubhaft, dass der Antrag auf Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug von der Deutschen Botschaft in Jakarta entgegen der Zusagen nicht entgegengenommen und bearbeitet würde.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterliegender Teil hat die Antragstellerin die Verfahrenskosten zu tragen. Die Streitwertfestsetzung folgt den Vorgaben der §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. den Ziffern 8.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.


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