Aktenzeichen 19 ZB 20.2436
ZPO § 85 Abs. 2
Leitsatz
1. Das Verschulden eines Bevollmächtigten, insbesondere eines Rechtsanwalts, steht gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleich, gilt also als Verschulden des Vertretenen. (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein schuldhaftes Handeln von Hilfspersonen des Rechtsanwalts, insbesondere von Büropersonal, kann unter dem Gesichtspunkt des sog. Organisationsverschuldens dem Rechtsanwalt zurechenbar sein. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
19 ZB 20.2436 2020-12-01 Bes VGHMUENCHEN VGH München
Tenor
I. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
Gründe
I.
Der Kläger wendet sich mit seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen den Beschluss des Gerichts vom 1. Dezember 2020 (19 ZB 20.2436), mit dem der Antrag auf Zulassung der Berufung wegen Versäumung der Begründungsfrist verworfen wurde. Laut Aktenlage war in dem Verfahren auf Zulassung der Berufung ein Schriftsatz zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung innerhalb der Zweimonatsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht bei Gericht eingegangen. Nach Zustellung dieses Beschlusses am 8. Dezember 2020 stellte die Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 10. Dezember 2020 neben der Einlegung eines unbenannten Rechtsmittels einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags trägt die Klägerbevollmächtigte im Wesentlichen vor, dass sie die Begründung für den Antrag auf Zulassung der Berufung mit Schriftsatz vom 19. November 2020 per Telefax am 20. November 2020 an das Gericht übersandt habe. Sie sei daher davon ausgegangen, dass die Frist vom 25. November 2020 somit eingehalten worden sei. Erst aufgrund des Beschlusses des Gerichts vom 1. Dezember 2020 sei ihr aufgefallen, dass die Begründung vom 19. November 2020 zwar an das richtige Gericht und die richtige Faxnummer, jedoch versehentlich unter dem falschen Aktenzeichen übersandt worden sei. Entgegen der sonstigen stets fehlerfreien Praxis habe sich die Rechtsanwaltsfachangestellte Z. versehentlich im gerichtlichen Aktenzeichen geirrt, sodass der Schriftsatz zwar fristwahrend am 20. November 2020 vorab per Telefax an das richtige Gericht, jedoch unter unrichtigem Aktenzeichen übersandt worden sei, sodass die Begründungsfrist unbemerkt verstrichen und dieses Versehen erst am heutigen Tag beim Verfassen des hiesigen Schriftsatzes entdeckt worden sei. Die Rechtsanwaltsfachangestellte Z. sei seit 2007 in ihrem Aufgabenbereich tätig und arbeite stets äußerst zuverlässig und beanstandungsfrei. Bedauerlicherweise sei es in diesem einzigen Fall trotz sonst absoluter Zuverlässigkeit der Rechtsanwaltsfachangestellten zu einem Fehler bei der Übernahme des richtigen gerichtlichen Aktenzeichens gekommen. Zur Glaubhaftmachung wurde eine eidesstattliche Versicherung der Rechtsanwaltsfachangestellten Z. vorgelegt, in der diese versichert, dass der Schriftsatz der Klägerbevollmächtigten hinsichtlich des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund ihrer Angaben erstellt und ihr zur Bestätigung vorgelegt worden sei. Die darin sie betreffenden vorgetragenen Tatsachen versichere sie an Eides statt. Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war als Anlage der Schriftsatz der Klägerbevollmächtigten vom 19. November 2020 beigefügt.
II.
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht gewährt werden. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren; ein Verschulden des Bevollmächtigten muss er sich wie eigenes Verschulden zurechnen lassen (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen.
Der Kläger war nicht ohne Verschulden verhindert, die gesetzliche Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO einzuhalten. Es liegt ein Verschulden der Klägerbevollmächtigten vor. Dieses muss sich der Kläger zurechnen lassen.
„Verschulden“ i.S.v. § 60 VwGO ist anzunehmen, wenn der Beteiligte die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (stRspr; vgl. BVerwG, B.v. 26.6.2017 – 1 B 113.17 u.a. – juris Rn. 5 m.w.N.). Das Verschulden eines Bevollmächtigten, insbesondere eines Rechtsanwalts, steht dabei gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleich, gilt also als Verschulden des Vertretenen. Ein schuldhaftes Handeln von Hilfspersonen des Rechtsanwalts, insbesondere von Büropersonal, ist als solches dem bevollmächtigten Rechtsanwalt und damit auch der Partei nicht zurechenbar, da eine dem § 278 BGB entsprechende Vorschrift über die Haftung für das Verschulden von Erfüllungsgehilfen im Prozessrecht fehlt. Allerdings können Fehler von Hilfspersonen auf eine in der eigenen Verantwortungssphäre des bevollmächtigten Rechtsanwalts liegende Ursache zurückzuführen sein, im Hinblick auf die diesen unter dem Gesichtspunkt des sog. Organisationsverschuldens ein eigener Schuldvorwurf treffen kann (vgl. BayVGH, B.v. 14.5.2013 – 11 B 12.1522 – juris Rn. 11). In dem Wiedereinsetzungsantrag ist deshalb darzulegen, dass kein schuldhaftes Handeln des Prozessbevollmächtigten vorliegt, sondern dieser hinreichende organisatorische Maßnahmen getroffen hat (vgl. BVerwG, B.v. 10.4.2017 – 1 B 66.17 – InfAuslR 2017, 261 Rn. 2).
Die Klägerbevollmächtigte trägt vor, dass mit dem Schriftsatz vom 19. November 2020 der Antrag auf Zulassung der Berufung rechtzeitig begründet worden sei. Nur durch einen Irrtum der Rechtsanwaltsfachangestellten sei dieser Schriftsatz unter dem falschen Gerichtsaktenzeichen übersandt worden. Mit diesem Vortrag ist nicht glaubhaft gemacht, dass die Prozessbevollmächtigte des Klägers kein Verschulden an der Versäumung der Antragsfrist trifft (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Das Gericht hält es nicht für ausreichend wahrscheinlich, dass der Schriftsatz vom 19. November 2020 tatsächlich als Begründung für den Antrag auf Zulassung der Berufung durch die Klägerbevollmächtigten gedacht war. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass in dem Schriftsatz vom 19. November 2020 im Eingangssatz darauf hingewiesen wird, dass mit diesem Schreiben gemäß richterlicher Anordnung vom 9. November 2020 Stellung genommen werde. Denn das Gerichtsschreiben vom 9. November 2020 erging nicht in dem Zulassungsverfahren 19 ZB 20.2436, sondern in den Verfahren 19 C 20.2112 und 19 C 20.2113, in denen sich der Kläger gegen die Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe im Klage- und Eilverfahren wendet. Da sich die Klägerbevollmächtigte ausdrücklich auf das in diesen Verfahren versandte Gerichtsschreiben bezieht, ist es für das Gericht nicht nachvollziehbar, dass sich dieses Schreiben dennoch als die Begründung für den Antrag auf Zulassung der Berufung darstellen soll. Insoweit liegt es eher nahe, dass die Klägerbevollmächtigte eben doch – wie im Einleitungssatz ausgeführt – eine Stellungnahme in den Verfahren 19 C 20.2112 und 19 C 20.2113 abgeben wollte (es sei denn, die Klägerbevollmächtigte hätte sich darüber geirrt, für welches Verfahren diese Stellungnahme erfolgen soll. Jedoch würde auch dieser Irrtum zu einem Verschulden der Klägerbevollmächtigten führen, da sie in diesem Fall die notwendige Sorgfalt außer Acht gelassen hätte, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten wäre). Aber auch der Inhalt des Schreibens vom 19. November 2020 enthält keine klaren Hinweise darauf, dass es sich um die Begründung für den Antrag auf Zulassung der Berufung handeln soll. So fehlt völlig die (grundsätzlich erforderliche ausdrückliche) Nennung von Zulassungsgründen nach § 124 Abs. 2 VwGO und weiterhin auch eine Auseinandersetzung mit der angefochtenen Entscheidung, was für eine Einhaltung des Darlegungsgebots nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO aber erforderlich wäre. Aus diesen Gründen erscheint es für das Gericht wenig wahrscheinlich, dass der Schriftsatz vom 19. November 2020 tatsächlich als Begründung für den Antrag auf Zulassung der Berufung gedacht war und nur versehentlich mit dem falschen Gerichtsaktenzeichen gefertigt wurde. Im Übrigen wäre es auch Aufgabe der Klägerbevollmächtigten gewesen, bei der Unterschriftsleistung auf dem fertigen Schriftsatz zu prüfen, ob dieser dem richtigen Verfahren zugeordnet wurde, d. h. ob das richtige Gerichtsaktenzeichen auf dem Schriftsatz vermerkt wurde. Daher liegt hier ein Verschulden der Klägerbevollmächtigten selbst vor, dass sich der Kläger auch gem. § 173 VwGO, § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss. Auf einen evtl. vorliegenden (weiteren) Irrtum der Rechtsanwaltsfachangestellten kommt es daher entscheidungserheblich nicht an.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 3 VwGO. Eine Streitwertfestsetzung ist entbehrlich, da mangels entsprechendem Gebührentatbestand Gerichtsgebühren nicht anfallen.