Arbeitsrecht

Arbeitgeber, Berufung, Arbeitsunfall, Versicherungsschutz, Unfallversicherung, Revision, Widerspruchsbescheid, Behandlungskosten, Eingliederung, Erinnerung, Widerspruch, Teilnahme, Auskunft, Fragebogen, gesetzlichen Unfallversicherung, bisheriges Vorbringen, Ergebnis der Beweisaufnahme

Aktenzeichen  L 17 U 65/20

Datum:
20.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 10129
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

1. I. Der innere Zusammenhang zwischen der Teilnahme der Verletzten an einem Segway-Parcours al Team-Building-Maßnahme im Rahmen einer Tagung und ihrer versicherten Tätigkeit beim Unternehmen ist auch dann gegeben, wenn sie mit ihrer Teilnahme nicht eine objektiv geschuldete Handlung vornimmt, sondern einer vermeintlichen Pflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis nachgegangen ist und nach den besonderen Umständen ihrer Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung annehmen durfte – und angenommen hat – sie treffe eine solche Pflicht (vgl. BSG v. 15.11.2016, B 2 U 12/15 R).
2. II. Solche besonderen Umstände liegen jedenfalls dann vor, wenn die Durchführung des Segway-Parcours als Team-Building-Maßnahme integraler Bestandteil eines fachlichen Programmpunktes der Tagung ist und nicht nur mittelbar dem Betriebsklima – quasi als positiver Nebeneffekt – dient, sondern unmittelbar betrieblichen Interessen/Zielsetzung des Unternehmens.
3. III. Liegen besondere Unmstände vor und weist das Unternehmen die Tagungsteilnehmer vor der Durchführung des Segway-Parcours nicht auf die Freiwilligkeit der Teilnahme hin, kann sich der Unfallversicherungsträger auch dann nicht auf Freiwilligkeit der Teilnahme am Segway-Parcours berufen, wenn die Teilnahme an der Tagung freiwillig war.

Verfahrensgang

S 2 U 185/19 2020-02-03 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 03.02.2020 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Die Berufung ist jedoch nicht begründet.
Im Ergebnis zu Recht hat das SG das Ereignis vom 04.04.2017 als Arbeitsunfall der Klägerin gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII anerkannt.
Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten in Folge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VIII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheits(erst) schaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass der Verletzte durch eine Verrichtung vor dem fraglichen Unfallereignis den gesetzlichen Tatbestand einer versicherten Tätigkeit erfüllt hat und deshalb Versicherter ist. Die Verrichtung muss ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis und dadurch einen Gesundheits(erst) schaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht haben (Unfallkausalität und haftungsbegründende Kausalität: BSG, ständige Rechtsprechung, vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 17.12.2015 – B 2 U 8/14 R, juris Rn. 9 m.w.N. = SozR 4-2700 § 8 Nr. 55; BSG, Urteil vom 26.06.2014 – B 2 U 7/13 R, juris Rn. 11 m.w.N. = SozR 4-2700 § 8 Nr. 53; BSG, Urteile vom 04.07.2013 – B 2 U 3/13 R, juris Rn. 10 m.w.N. = SozR 4-2700 § 8 Nr. 50; B 2 U 12/12 R, juris Rn. 14 m.w.N. = SozR 4-2700 § 8 Nr. 49; BSG, Urteil vom 18.06.2013 – B 2 U 10/12 R, juris Rn. 12 m.w.N. = SozR 4-2700 § 8 Nr. 47; BSG, Urteil vom 13.11.2012 – B 2 U 19/11 R, juris Rn. 20 m.w.N. = BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 46; BSG, Urteil vom 24.07.2012 – B 2 U 9/11 R, juris Rn. 26f. = SozR 4-2700 § 8 Nr. 44).
Das Ereignis vom 04.04.2017 war als Arbeitsunfall im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII anzuerkennen. Die Klägerin war als Beschäftigte kraft Gesetzes nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versichert. Ihre Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses am 04.04.2017 – die Teilnahme am Segway-Parcours – stand in einem sachlichen Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit. Denn die Klägerin hat mit ihrer Teilnahme am Parcours am 04.04.2017 eine vermeintliche Pflicht aus ihrem Beschäftigungsverhältnis mit der F erfüllt. Die Teilnahme der Mitarbeiter des neu gegründeten Bereichs „Business Development“ – so auch die Teilnahme der Klägerin – im Rahmen des Programmpunktes „Impulsvortrag in Cooperation mit S. E. T.“ hatte auch einen besonderen Bezug zum Zweck des Unternehmens, der F und war nicht dem eigenwirtschaftlichen unversicherten Bereich der Klägerin zuzuordnen.
Eine nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versicherte Tätigkeit als Beschäftigter liegt vor, wenn der Verletzte zur Erfüllung eines mit ihm begründeten Rechtsverhältnisses, insbesondere eines Arbeitsverhältnisses, eine eigene Tätigkeit in Eingliederung in das Unternehmen eines anderen (vgl. § 7 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch – SGB IV) zu dem Zweck verrichtet, dass die Ergebnisse seiner Verrichtung diesem und nicht ihm selbst unmittelbar zum Vorteil oder Nachteil gereichen (vgl. § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII). Es kommt objektiv auf die Eingliederung des Handelns des Verletzten in das Unternehmen eines anderen und subjektiv auf die zumindest auch darauf gerichtete Willensausrichtung an, dass die eigene Tätigkeit unmittelbare Vorteile für das Unternehmen des anderen bringen soll. Eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII wird daher ausgeübt, wenn die Verrichtung zumindest dazu ansetzt und darauf gerichtet ist, entweder eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis (§ 611a Bürgerliches Gesetzbuch – BGB – i. d. F vom 21.02.2017) zu erfüllen, oder der Verletzte eine objektiv nicht geschuldete Handlung vornimmt, um einer vermeintlichen Pflicht aus dem Rechtsverhältnis nachzugehen, sofern er nach den besonderen Umständen seiner Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung annehmen durfte, ihn treffe eine solche Pflicht, oder er übe unternehmensbezogene Rechte aus dem Rechtsverhältnis aus (BSG, Urteil vom 23.04.2015 – B 2 U 5/14 R, juris Rn. 14 m.w.N. = SozR 4-2700 § 2 Nr. 33; BSG, Urteil vom 26.06.2014 – B 2 U 7/3 R, juris Rn. 11 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 53; BSG, Urteil vom 15.04.2012 – B 2 U 8/11 R, juris Rn. 27 ff. = BSGE 111, 37 = SozR 4-2700 § 2 Nr. 20; BSG, Urteil vom 13.11.2012 – B 2 U 27/11 R, juris Rn. 20 m.w.N. = SozR 4-2700 § 8 Nr. 45; BSG, Urteil vom 14.11.2013 – B 2 U 15/12 R, juris Rn. 13 = SozR 4-2700 § 2 Nr. 27).
Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls im Rahmen einer Dienstreise ist in der Regel erforderlich, dass das Verhalten des Versicherten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist und diese Tätigkeit den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muss also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2002 – B 2 U 21/01 R, juris Rn. 15 ff.). Hierfür ist der innere Zusammenhang im Wege einer wertenden Betrachtungsweise zu ermitteln, bei der untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Nachweis erforderlich. Bei einer Dienstreise ist zwischen Betätigungen zu unterscheiden, die mit dem Beschäftigungsverhältnis wesentlich zusammenhängen, und solchem Verhalten, das der privaten Sphäre des Reisenden zugehörig ist. So lassen sich gerade bei längeren Dienstreisen im Ablauf der einzelnen Tage in der Regel Verrichtungen unterscheiden, die mit der Tätigkeit für das Unternehmen wesentlich im Zusammenhang stehen und solchen, bei denen dieser Zusammenhang in den Hintergrund tritt (vgl. BSG, a.a.O., juris Rn. 15). Der Versicherungsschutz entfällt, wenn sich der Versicherte rein persönlichen, von der Betriebstätigkeit nicht mehr beeinflussten Belangen widmet. Allerdings kann bei einer nicht unmittelbar zur versicherten Tätigkeit gehörenden Verrichtung ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis am Ort der auswärtigen Tätigkeit in der Regel eher anzunehmen sein als am Wohn- oder Betriebsort (vgl. BSG, a.a.O., juris Rn. 15 m.w.N.).
Dies zugrunde gelegt steht zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Ereignisses am 04.04.2017 aufgrund der besonderen Umstände, unter denen der Segway-Parcours im Rahmen der Tagung und des Programmpunktes „Impulsvortrag in Cooperation mit S. E. T.“ durchgeführt wurde sowie aufgrund der damit verbundenen Zielsetzung annehmen durfte, sie erfülle mit der Teilnahme am Parcours eine solche Pflicht aus ihrem Beschäftigungsverhältnis mit der F und würde damit betrieblichen Interessen dienen, ferner, dass ihre Teilnahme am Parcours subjektiv auch darauf ausgerichtet war.
Die vom Vorstand der F genehmigte 2-tägige Dienstveranstaltung für die Mitarbeiter des neu gegründeten Bereichs „Business-Development“ stand unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten ist auch der innere Zusammenhang der Teilnahme der Klägerin am Segway-Parcours mit ihrer versicherten Tätigkeit zu bejahen. Denn der Parcours stellte erkennbar kein vom fachlichen Tagungsprogramm abgrenzbares Freizeit- oder Begleitprogramm der Tagung dar, sondern war dessen integraler Bestandteil. Zwar geht auch der Senat davon aus, dass allein der formale Umstand der Aufnahme eines Programmpunktes in die Tagesordnung einer Tagung einen rechtlich wesentlichen inneren bzw. sachlichen Zusammenhang zwischen der Teilnahme an einem solchen Programmpunkt mit der versicherten Tätigkeit nicht zu begründen vermag (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 29.03.2021 – L 3 U 157/18, juris Orientierungssatz 1 und Rn. 46), weil man es sonst bereits durch ein formales Kriterium uneingeschränkt in die Hand des Arbeitgebers bzw. des Einladenden legen würde, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung auf sonst unversicherte Tätigkeiten und Aktivitäten auszuweiten (vgl. auch Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 15.03.2011 -, juris Rn. 27). Maßgeblich ist jedoch, dass hier beim Segway-Parcours nicht Freizeit, Unterhaltung, Erholung, Entspannung und/oder die Befriedigung sportlicher Interessen der Teilnehmer im Vordergrund standen und die Teilnahme am Parcours nicht nur mittelbar dem Betriebsklima – quasi als positiver Nebeneffekt – zugutekam (vgl. hierzu Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 24.05. 2016 – L 3 U 175/13, juris Leitsatz 4 und Rn. 31), sondern eine Teambuilding-Maßnahme war und unmittelbar den betrieblichen Interessen des Unternehmens diente.
Zu dieser Überzeugung gelangte der Senat aufgrund einer Gesamtwürdigung der in den Akten enthaltenen Unterlagen und Angaben der Klägerin sowie der vom Senat in der mündlichen Verhandlung vom 20.01.2022 durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere aufgrund der Würdigung der Einvernahme des Zeugen M. Zwar ergibt sich daraus nicht, dass der Parcours im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Personalentwicklungsmaßnahme im Sinne von Personalauswahlprozessen oder Verteilung von zu vergebenden Aufgaben gestanden hat. Der Zeuge M, der zum Zeitpunkt des Ereignisses vom 04.04.2017 Bereichsleiter der Klägerin und Teilnehmer des Parcours war, hat glaubhaft ausgesagt, dass die Teilnahme am Parcours keine Auswirkung auf Personalauswahlprozesse bzw. auf zu vergebende Aufgaben hatte. Daraus vermag der Senat jedoch nicht den Schluss zu ziehen, dass die Teilnahme der Klägerin am Parcours schon deshalb zwangsläufig ihrem unversicherten privaten Lebensbereich zuzuordnen wäre. Dass die Schlussfolgerung der Beklagten nicht gerechtfertigt ist, ergibt sich zur Überzeugung des Senats vielmehr aus der mit dem Parcours verbundenen Zielsetzung als Teambuilding-Maßnahme und aus den besonderen Umständen, unter denen der Parcours als wesentlicher Teil des fachlichen Programmpunktes „Impulsvortrag in Cooperation mit S. E. T.“ durchgeführt wurde. Denn der Parcours stand in unmittelbarem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem fachlichen Programmpunkt „Impulsvortrag“ und war somit integraler Bestandteil des fachlichen Tagungsprogramms. Hierfür spricht auch der äußere Ablauf der Tagung am 04.04.2017: Den Impulsvortrag hielt nämlich M vor den Bussen von S. E. T., danach folgte der Programmpunkt „Segway-Parcours“. Für den Programmpunkt „Impulsvortrag in Cooperation mit S. E. T.“ war ein zeitlicher Rahmen von 14.30 Uhr bis 17.30 Uhr vorgesehen, das gemeinsame Abendessen sollte nach der Tagesordnung erst ab 19.00 Uhr stattfinden. Somit stellte der Parcours erkennbar kein organisatorisch abgrenzbares Freizeit- oder Begleitprogramm der Tagung dar (vgl. hierzu Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 24.05.2016 – L 3 U 175/13, juris Leitsatz 3 und Rn. 30).
Wesentlich zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass der Parcours gerade nicht der Freizeit, Unterhaltung, Erholung, Entspannung oder/und der Befriedigung sportlicher Interessen der Tagungsteilnehmer gedient hat, sondern den betrieblichen Interessen der F. Nach der glaubhaften Aussage des M, der sich an die Tagung erinnern konnte, war es üblich, dass sich der neue Bereich „Business-Development“ an einem dritten Ort zusammengefunden hat, es sollte inhaltlich der neue Bereich und die künftige Aufstellung der Aufgaben besprochen werden („wie arbeiten wir zusammen“). Die Einladung für diese Veranstaltung sei ausschließlich an die Mitarbeiter des neuen Bereichs gegangen. Nach seiner Erinnerung haben alle, die an dieser Veranstaltung teilgenommen haben, auch am Parcours teilgenommen. Ein integraler Bestandteil der Tagung sei der sogenannte Teambuilding-Teil gewesen. Neben dem fachlichen Teil habe es immer auch einen Teambuilding-Teil innerhalb solcher Veranstaltungen gegeben, um die Zusammenarbeit des neuen Teams zu verbessern. Er würde dieses Team-Event nicht als Entspannungsübung bezeichnen. Den Fragebogen, in dem R am 28.04.2017 den Parcours als Entspannungsübung bezeichnet habe, kenne er nicht. Entspannung und Auflockerung hätten nicht im Vordergrund des Parcours gestanden, sondern Teambuilding. Der Zweck auch des Tagungsordnungspunktes Segway-Parcours sei gewesen, die Teamfähigkeit des neuen Bereichs durch eine gemeinsame Aktivität, die Teil des fachlichen Tagungsprogramms gewesen sei, zu verbessern. In diesem Zusammenhang hat die Klägerin – wie auch zuvor – glaubhaft erklärt, dass M bezüglich des Tagesordnungspunktes „Impulsvortrag in Kooperation mit S. E. T.“ versucht habe, die Motivation und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Teilnehmer zu stärken („einfach machen“). Es sei darum gegangen, nicht durch Diskussionen Zeit zu vergeuden. Der Senat sieht auch unter Berücksichtigung des Akteninhalts und der früheren Stellungnahmen des M und der Klägerin keinen Anlass, an der glaubhaften und in sich widerspruchsfreien Aussage des Zeugen M und den insoweit übereinstimmenden Angaben der Klägerin zu zweifeln und legt diese seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde.
Demgegenüber vermag der Senat der Rechtsauffassung der Beklagten, die Teilnahme am Segway-Parcours sei dem unversicherten persönlichen Lebensbereich der Klägerin zuzuordnen, nicht zu folgen. Zu Unrecht verneint die Beklagte unter Hinweis auf die Entscheidungen des BSG vom 13.12.2005 (B 2 U 29/04 R) und vom 07.12.2004 (B 2 U 47/03 R), des Hessischen Landessozialgerichts vom 29.03.2021 (a.a.O.) sowie des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24.05.2016 (a.a.O.) und 24.10.2018 (L 2 U 300/17) den inneren Zusammenhang zwischen der Teilnahme am Parcours und der versicherten Tätigkeit der Klägerin mit der Begründung, die Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Mitarbeiter des neu gegründeten Bereichs durch die Teilnahme am Parcours sei nur ein Nebeneffekt gewesen, der Unternehmer habe es nicht in der Hand, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung auf sonst unversicherte Tätigkeiten auszuweiten, auch eine Erwartungshaltung des Arbeitgebers begründe keinen Versicherungsschutz (BSG, Urteile vom 16.03.1995 – 2 RU 17/94, juris Rn. 21 ff. und vom 27.05.1997 – 2 RU 29/96, juris Rn. 23).
Dabei verkennt die Beklagte, dass diese vom BSG zutreffend aufgestellten Rechtssätze unter Berücksichtigung der vom BSG für maßgeblich erachteten Definition der Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII anzuwenden sind (vgl. BSG, Urteil vom 15.11.2016 – B 2 U 12/15 R, juris Rn. 17). Danach wird eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII nicht nur dann ausgeübt, wenn die Verrichtung dazu ansetzt und darauf gerichtet ist, eine eigene, objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrundeliegenden Rechtsverhältnis zu erfüllen, sondern auch dann, wenn der Verletzte eine objektiv nicht geschuldete Handlung vornimmt, um einer vermeintlichen Pflicht aus dem Rechtsverhältnis nachzugehen, sofern er nach den besonderen Umständen seiner Beschäftigung zur Zeit der Verrichtung annehmen durfte, ihn treffe eine solche Pflicht, oder er übe unternehmensbezogene Rechte aus dem Rechtsverhältnis aus (s.o.). Dies ist hier jedoch der Fall.
Auch der Hinweis der Beklagten unter Berufung auf die Entscheidungen des BSG vom 16.03.1995 (2 RU 17/94, juris Rn. 21 ff.) und vom 27.05.1997 (2 RU 29/96, juris Orientierungssatz 2 und Rn. 23), eine Erwartungshaltung des Arbeitgebers begründe keinen Versicherungsschutz, vermag nicht die Annahme zu rechtfertigen, dass die Teilnahme der Klägerin am Segway-Parcours ihrem privaten, unversicherten Lebensbereich zuzuordnen sei. In seiner Entscheidung vom 27.05.1997 führt das BSG im Orientierungssatz 2 nämlich insoweit aus:
„Zumindest wenn es vor allem außerhalb der unmittelbaren betrieblichen Sphäre um eine Erwartungshaltung des Arbeitgebers/Vorgesetzten hinsichtlich der Teilnahme an reinen Freizeitbetätigungen – wie hier das Tennisspielen – geht, ist dieses Kriterium nicht geeignet, den im Vordergrund stehenden eigenwirtschaftlichen Aspekt von Freizeit, Unterhaltung und/oder Erholung in den Hintergrund zu drängen. Wie der Senat in seiner Entscheidung vom 16.3.1995 – 2 RU 17/94 = NJW 1995, 3340 = USK 9549 dargelegt hat, gibt es sehr unterschiedliche aus dem Arbeitsleben abgeleitete gesellschaftliche Erwartungshaltungen, die für den Betroffenen oft einen nicht unerheblichen Druck bedeuten, sich an bestimmten Veranstaltungen, Zusammenkünften sowie Besuchen und Gegenbesuchen zu beteiligen, ohne dass allein deshalb bei einer Teilnahme Versicherungsschutz anzunehmen ist“.
Die vom BSG aufgestellten Voraussetzungen für die Zuordnung einer Aktivität außerhalb der unmittelbaren betrieblichen Sphäre zum unversicherten eigenwirtschaftlichen Lebensbereich sind vorliegend gerade nicht gegeben. Vielmehr stand bei der Teilnahme der Klägerin am Segway-Parcours, der – wie bereits dargestellt – integraler Bestandteil des fachlichen Tagungsprogramms war, der eigenwirtschaftliche Aspekt von Freizeit, Unterhaltung und/oder Erholung gerade nicht im Vordergrund, sodass sich die Beklagte für ihre Rechtsauffassung nicht auf die o. g. Entscheidungen berufen kann.
Ebenso wenig kann sich die Beklagte auf die Entscheidungen des Hessischen Landessozialgerichts vom 29.03.2021 (a.a.O.) und des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24.05.2016 (a.a.O.) und vom 24.10.2018 stützen. Denn die diesen Entscheidungen jeweils zugrundeliegenden Sachverhalte unterscheiden sich wesentlich von dem hier vorliegenden. Bei den dort maßgeblichen Verrichtungen/Aktivitäten handelte es sich – für den Versicherten erkennbar – jeweils um ein abgrenzbares Freizeit- oder Begleitprogramm, die Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Teilnehmer war jeweils nur ein mittelbarer Nebeneffekt. Im Gegensatz hierzu hatte im vorliegenden Fall die Aufnahme des Segway-Parcours in das fachliche Tagungsprogramm durch unmittelbare inhaltliche und zeitliche Verknüpfung mit dem „Impulsvortrag“ zum Programmpunkt „Impulsvortrag in Cooperation mit S. E. T.“ nicht lediglich formale Bedeutung, sondern diente unmittelbar den betrieblichen Zielsetzungen, die mit dieser Tagung verbunden waren.
Somit steht fest, dass der Segway-Parcours unmittelbar betriebsdienlich und darauf gerichtet war, die genannten Zielsetzungen zu erreichen, und es sich bei diesen nicht nur um mittelbare Nebeneffekte handelte. Eine rechtlich relevante Zäsur zwischen dem Parcours und dem zuvor stattgefundenen Tagungsprogramm ist nicht erkennbar. Die Aufnahme des Parcours in das offizielle, fachliche Tagungsprogramm (die Nichtbenennung dieser Veranstaltung als Segway-Parcours im Tagungsprogramm ist unerheblich) und darüber hinaus die Anwesenheit des M während der gesamten Dauer dieser Veranstaltung sprechen für ein besonderes, gesteigertes betriebliches Interesse des Arbeitgebers der Klägerin an der Teilnahme der Mitarbeiter des neu gegründeten Bereichs „Business Development“ – so auch der Klägerin. Es bestand daher für die Klägerin ein besonderer – betrieblich bedingter – Anlass, an dem Parcours teilzunehmen. Hingegen haben weder der Umstand, dass der Programmpunkt Parcours eine Überraschung für die Teilnehmer war, noch die Homepage des Veranstalters bezüglich des Zwecks der Veranstaltung eine rechtliche Relevanz für die hier streitentscheidenden Fragen.
Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich zur Überzeugung des Senats auch nicht daraus, dass die Teilnahme an der 2-tägigen Dienstveranstaltung zumindest vor Anmeldung zu dieser freiwillig war – wovon der Senat nach Würdigung der Aussagen der Zeugen M und K in der öffentlichen Sitzung vom 20.01.2022 ausgeht. Insoweit hat der Zeuge K, zum Zeitpunkt des Unfallereignisses Personalleiter in der S-Datenverarbeitung eG, in der öffentlichen Sitzung vom 20.01.2022 ausgesagt, dass die Teilnahme an solchen Seminaren freiwillig gewesen sei und dies auch im Unternehmen bekannt gewesen sei. Ob die Teilnehmer nach Anmeldung zur Tagung tatsächlich noch die freie Wahl hatten, an einzelnen Programmpunkten teilzunehmen oder nicht – wie es der Zeuge K behauptet hat – kann letztlich dahinstehen. Denn es war für die Teilnehmer der Tagung – so auch für die Klägerin – aufgrund der bereits dargestellten besonderen Umstände, unter denen der Segway-Parcours durchgeführt wurde, und der damit verbundenen Zielsetzungen jedenfalls nicht erkennbar, dass die Teilnahme am Parcours nach Anmeldung zur Tagung (weiterhin) freiwillig war.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere nach Würdigung der glaubhaften Aussage des Zeugen M und der insoweit übereinstimmenden glaubhaften Angaben der Klägerin in der öffentlichen Sitzung vom 20.01.2022 ist zunächst nicht feststellbar, dass die Unternehmensleitung, z. B. durch den anwesenden Bereichsleiter M, die Teilnehmer – so auch die Klägerin – während der Tagung vor Durchführung des Parcours auf die Freiwilligkeit dieser Aktivität hingewiesen hat. Der Zeuge M hat insoweit ausgesagt, dass er sich nicht daran erinnern könne, eine Formulierung gewählt zu haben, die eine Verpflichtung oder freiwillige Teilnahme am Parcours beinhaltet habe. Die Klägerin hat erklärt, dass weder M noch der Kursleiter von S. E. T. etwas darüber gesagt hätten, ob die Teilnahme am Parcours freiwillig oder verpflichtend sei. Der Senat hat keinen Anlass, an der glaubhaften Aussage des Zeugen M und den Angaben der Klägerin in der öffentlichen Sitzung vom 20.01.2022 zu zweifeln. Diesen ist eindeutig zu entnehmen, dass weder M noch der Kursleiter von S. E. T. vor der Durchführung des Parcours darüber gesprochen haben, ob die Teilnahme am Parcours freiwillig oder verpflichtend ist.
Zur Überzeugung des Senats war ein konkreter Hinweis des Arbeitgebers (z. B. durch den anwesenden Zeugen M als Bereichsleiter) auf die Freiwilligkeit der Teilnahme am Parcours vor seiner konkreten Durchführung aufgrund der besonderen Umstände des Tagungsprogramms am 04.04.2017 auch nicht entbehrlich. Die besonderen Umstände ergeben sich hier – wie bereits dargestellt – insbesondere daraus, dass es sich beim Parcours gerade nicht um einen vom übrigen Tagungsprogramm abgrenzbaren Programmpunkt (Begleitprogramm) der Tagung gehandelt hat, sondern um einen wesentlichen Bestandteil des fachlichen Programmpunktes „Impulsvortrag in Cooperation mit S. E. T.“, der wiederum integraler Bestandteil des fachlichen Tagungsprogramms am 04.04.2017 war und – ebenso wie die anderen Programmpunkte – den mit der Tagung gesetzten, bereits dargestellten Zielen dienen sollte. Die Klägerin musste somit nicht davon ausgehen, dass die Teilnahme am Parcours dem freiwilligen, unversicherten Lebensbereich zuzuordnen sei. Vielmehr durfte die Klägerin aufgrund der dargelegten besonderen Umstände zum Zeitpunkt des Ereignisses am 04.04.2017 annehmen, dass sie mit ihrer Teilnahme am Parcours eine (vermeintliche) Pflicht aus dem Beschäftigungsverhältnis mit der F erfüllt und die Teilnahme im besonderen betrieblichen Interesse liegt.
Dass die Klägerin hiervon auch tatsächlich ausgegangen ist, ergibt sich aufgrund der Würdigung ihres gesamten – in sich widerspruchsfreien – Vorbringens im Verwaltungs-, Klage- und Berufungsverfahrens, insbesondere hat sie bereits in ihrem Widerspruchsschreiben vom 24.10.2018 den Parcours als Pflichtveranstaltung bezeichnet, ferner hat sie in ihren Schreiben vom 18.05.2020 und 27.07.2021 ihre Annahme, der Parcours sei als versicherte Tätigkeit zu bewerten, u. a. damit begründet, dass die Teilnahme verpflichtend gewesen sei. Hierfür spricht auch, dass die Klägerin nach ihren glaubhaften Angaben in der öffentlichen Sitzung vom 20.01.2022 den Zeugen M – nachdem es nach Beginn des Parcours geregnet hatte – gefragt hat, ob der Parcours deshalb abgebrochen werde, M dies aber nicht gewollt habe. Der Klägerin war es in dieser Situation offensichtlich nicht bewusst, dass sie nicht verpflichtet war, (weiterhin) am Parcours teilzunehmen.
Aus den dargelegten Gründen ist die rechtliche Schlussfolgerung der Beklagten, dass die Teilnahme der Klägerin am Parcours dem persönlichen, unversicherten Lebensbereich der Klägerin zuzuordnen sei, nicht gerechtfertigt. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die Teilnahme der Klägerin am Parcours mit einem von vornherein erhöhten gesundheitlichen Risiko verbunden war, das durch die Fortsetzung des Parcours trotz des Regenwetters noch verstärkt wurde und dem die Klägerin bei Ausübung ihrer Tätigkeit am Arbeitsort nicht ausgesetzt gewesen wäre.
Nach alledem war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).


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