Arbeitsrecht

Arbeitnehmer, Arbeitszeit, Erkrankung, Personalrat, Arbeitgeber, Manteltarifvertrag, Arbeitsleistung, Betreuung, Abmahnung, Wirksamkeit, Arbeitsbedingungen, Erledigung, Auslauffrist, Anlage, wichtiger Grund, milderes Mittel

Aktenzeichen  22 Ca 8178/19

Datum:
2.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 53307
Gerichtsart:
ArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 12.07.2019 nicht aufgelöst ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Sekretärin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung weiterzubeschäftigen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
4. Der Streitwert wird auf 18.389,28 € festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Kündigung ist unwirksam und hat das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Die Klägerin kann von der Beklagten Weiterbeschäftigung verlangen.
A
Die Klage ist zulässig.
Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist eröffnet gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3 a) und Nr. 3 b) ArbGG.
Die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichtes A-Stadt ergibt sich aus § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG i.V.m. §§ 12, 17 ZPO Die Klage ist auch begründet.
I. Der Kündigungsschutzantrag (Antrag zu 1) ist begründet. Die Kündigung vom 12.07.2019 ist unwirksam.
1. Die Klägerin hat die Kündigung vom 12.07.2019 mit ihrer am 26.07.2019 bei Gericht eingegangenen Kündigungsschutzklage innerhalb der Frist der §§ 4 S.1, 13 Abs. 1 S. 2, 7 KSchG angegriffen.
2. Gemäß Tarifvertrag (Tarifziffer 275.1) war das Arbeitsverhältnis nicht mehr ordentlich kündbar, weil die Klägerin das 35. Lebensjahr überschritten und dem Betrieb länger als zehn Jahre angehört hatte.
3. Ein wichtiger Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB i.V.m. Tarifziffer 275.1 des Manteltarifvertrags steht der Beklagten nicht zur Seite.
a) Mit dem Begriff des „wichtigen Grundes“ knüpft die tarifvertragliche Bestimmung an die gesetzliche Regelung des § 626 Abs. 1 BGB an (vgl. zum TVöD etwa: LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.09.2010 – 3 Sa 233/10, NZA-RR 3011, 126).
Dabei können auch vom Arbeitnehmer nicht zu vertretende Umstände in seiner Person geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Ein wichtiger Grund kann insbesondere dann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer aufgrund von Umständen, die in seiner Sphäre liegen, zu der nach dem Vertrag vorausgesetzten Arbeitsleistung auf unabsehbare Dauer nicht mehr in der Lage ist. Darin liegt regelmäßig eine schwere und dauerhafte Störung des vertraglichen Austauschverhältnisses, der der Arbeitgeber, wenn keine anderen Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen, mit einer außerordentlichen Kündigung begegnen kann. Ist die ordentliche Kündbarkeit tariflich ausgeschlossen, kann eine außerordentliche Kündigung mit einer der ordentlichen Kündigung entsprechenden Auslauffrist berechtigt sein (BAG, Urteil vom 28.10.2010 – 2 AZR 688/09, NZA-RR 2011, 155). Auch wenn das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung auf einer krankheitsbedingten Leistungsminderung beruht, kann dies für eine außerordentliche Kündigung herangezogen werden.
Jedoch ist bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB ein sehr strenger Maßstab anzulegen: Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Schon eine ordentliche Kündigung wegen einer Leistungsminderung setzt voraus, dass die verbliebene Arbeitsleistung die berechtigte Gleichwertigkeitserwartung des Arbeitgebers in einem Maße unterschreitet, dass ihm ein Festhalten an dem Arbeitsvertrag unzumutbar ist; für die außerordentliche Kündigung gilt dies in noch höherem Maße (BAG, Urteil vom 20.03.2014 – 2 AZR 825/12, NZA 2014, 1089).
Im Fall eines tariflich unkündbaren Arbeitnehmers kommt des Weiteren der Verpflichtung des Arbeitgebers, die Kündigung – wenn möglich – durch andere Maßnahmen abzuwenden, eine besondere Bedeutung zu. Der Arbeitgeber hat zur Vermeidung einer Kündigung alle in Betracht kommenden Beschäftigungsund Einsatzmöglichkeiten von sich aus umfassend zu prüfen und eingehend zu sondieren. Aus dem Vorbringen des Arbeitgebers muss erkennbar sein, dass er auch unter Berücksichtigung der besonderen Verpflichtungen alles Zumutbare unternommen hat, um eine Kündigung zu vermeiden. Ist der Arbeitnehmer ordentlich unkündbar, kann der Arbeitgeber im Einzelfall verpflichtet sein, zur Vermeidung einer außerordentlichen Kündigung einen gleichwertigen Arbeitsplatz frei zu kündigen (BAG, Urteil vom 28.10.2010 a.a.O., Rz 33; BAG, Urteil vom 13.05.2004 – 2 AZR 36/04, NZA 2004, 1271 Leitsatz 2). Als milderes Mittel kann auch eine außerordentliche Änderungskündigung in Betracht kommen, wenn der Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz mit geringerem Anforderungsprofil eingesetzt werden kann (MüKoBGB/Henssler, 8. Aufl. 2020, BGB § 626 Rn. 225). Zu berücksichtigen ist zudem Tarifziffer 275.2 des Manteltarifvertrags, wonach für den Fall, dass der wichtige Grund eine dauernde Minderleistung des Arbeitnehmers ist, die Beklagte verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer eine zumutbare Änderung des bisherigen Arbeitsvertrags anzubieten.
b) Vorliegend beruhen die von der Beklagten angeführten Fehlleistungen auf gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin. Hiervon geht auch die Beklagte aus, wenn sie ausdrücklich ausführt, die erheblichen persönlichen Leistungsdefizite der Klägerin seien aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr steuerbar, sodass es sich vorliegend um personen- und nicht verhaltensbedingte Gründe handele. Zudem trägt die Beklagte vor, die Unfähigkeit der Klägerin, selbst die einfachsten vertragsgemäßen Sekretariatsaufgaben fehlerfrei in angemessenem zeitlichen Rahmen noch auszuführen sowie Arbeitsanweisungen und Anleitungen von vorgesetzten und Kolleginnen überhaupt zu begreifen, geschweige denn fehlerfrei umzusetzen, beruhe sehr wahrscheinlich auf einer psychischen Erkrankung der Klägerin und/oder ihrer Medikation.
c) Die oben dargestellten strengen Vorgaben der Rechtsprechung erfüllt der Vortrag der Beklagten indes nicht.
d) Ob hinreichend detaillierter Vortrag der Beklagten vorliegt, aufgrund welcher konkreten Umstände / Defizite der Klägerin die Gleichwertigkeitserwartung der Beklagten in einem Maße unterschritten ist, die ein Festhalten an dem Arbeitsvertrag unzumutbar macht, kann dahinstehen. Denn die Beklagte hat jedenfalls nicht ihrer Darlegungslast mit Blick auf den Vorrang milderer Mittel genügt. Dies führt zur Unwirksamkeit der Kündigung.
Die Beklagte ist hier in der Pflicht, im Hinblick auf mildere Mittel, die wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes jedweder Kündigung voranzugehen haben, darzulegen, ob sich die krankheitsbedingten Einschränkungen der Klägerin durch andere Maßnahmen (Änderung des Arbeitsablaufs, Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder eine Umverteilung der Aufgaben, Einsatz auf anderen Arbeitsplätzen) abgewendet werden können. Aus dem Vortrag der Beklagten ergibt sich aber nicht hinreichend, dass zur Vermeidung einer Kündigung alle in Betracht kommenden Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten umfassend geprüft und eingehend sondiert wurden. Es wird nicht klar, welche Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten bei der Beklagten potentiell zur Verfügung stünden und in welcher Weise diese Möglichkeiten (wann? von wem? mit welchem Ergebnis?) geprüft wurden. Der Vortrag der Beklagten, anderweitige Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten für die Klägerin, bei denen sich die fehlende Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht negativ auswirken würde, seien von der Beklagten umfassend geprüft worden, bestünden jedoch nicht, ist hier ersichtlich zu pauschal und enthält letztlich keinen konkreten Sachvortrag.
Gleiches gilt für die von der Beklagten angeführten Überlegungen, die Klägerin in der Postabteilung einzusetzen. Hier trägt die Beklagte nur vor, diese Überlegungen hätten verworfen werden müssen, weil es der Klägerin trotz expliziter Beschreibung, was genau sie zu erledigen habe, nicht einmal möglich gewesen sei, frankierte Rückumschläge von der Poststelle abzuholen. Detaillierterer Vortrag, welche Einschränkungen der Klägerin zu welchen konkreten Problemen geführt haben, fehlt. Wenn die Beklagte ausführt, andere Stellen würden aus dem gleichen Grund ausscheiden wie ein Einsatz in der Poststelle, so fehlen Angaben, welche Stellen gemeint sind und aus welchem Grund sie ausscheiden.
Es fehlt auch Vortrag der Beklagte dahingehend, wann der Klägerin im Sinne der Tarifziffer 275.2 des Manteltarifvertrags welche zumutbare Änderung des bisherigen Arbeitsvertrags angeboten wurde.
Nicht ausreichend ist auch der Vortrag der Beklagten, sie habe in der Vergangenheit bereits mehrere Anpassungen der Tätigkeit der Klägerin an ihre Leistungsunfähigkeit vorgenommen, wodurch die Leistungsstörung allerdings nie beseitigt haben werden können. Es fehlt ein Vorbringen dahingehend, welche Anpassungen genau von wem zu welchem Zeitpunkt mit welchem Ziel und welchem Erfolg vorgenommen wurden.
e) Eine außerordentliche „verhaltensbedingte“ Kündigung scheidet vorliegend aus, da die Defizite der Klägerin nicht auf einem steuerbaren Verhalten beruhen. Die Ausführungen zu Abmahnungen und Schlechtleistungen der Klägerin sind deshalb nicht geeignet, eine wirksame außerordentliche Kündigung zu begründen.
f) Da die Kündigung bereits den Anforderungen des § 626 Abs. 1 BGB nicht genügt, kommt es auf die Frage, ob die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB, welche auch im Fall einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist einzuhalten ist, gewahrt wurde, nicht mehr an.
g) Auch das Problem der ordnungsgemäßen Durchführung der Personalratsanhörung kann hier dahinstehen, wobei sich Zweifel eventuell daraus ergeben könnten, dass sich die Beklagte in diesem Rahmen ganz maßgeblich auf ein steuerbares Verhaltend der Klägerin stützt (vgl. S. 3: „nicht mehr gewillt ist […] die Anforderungen […] zu erfüllen.“), nunmehr aber von personenbedingten Gründen ausgeht.
II. Auch der Weiterbeschäftigungsantrag (Antrag zu 2) hat Erfolg.
Auf Grund der Unwirksamkeit der Kündigung vom 12.07.2019 ist auch der Weiterbeschäftigungsantrag der Klägerin begründet. Die Beklagte ist gemäß den vom Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgestellten Grundsätzen (BAG Beschluss vom 27.2.1985 – GS 1/84, BeckRS 9998, 150642) verpflichtet, die Klägerin vertragsgerecht als Sekretärin weiter zu beschäftigen. Besondere Umstände, die die trotz des Obsiegens der Klägerin mit dem Kündigungsschutzantrag ein überwiegendes Interesse an ihrer Nichtbeschäftigung begründen könnten, sind weder dargetan, noch ersichtlich.
C
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 61 ArbGG, 3 ff. ZPO.
D
Gegen dieses Endurteil kann die Beklagte Berufung einlegen. Es gilt die folgende Rechtsmittelbelehrung.


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