Arbeitsrecht

Arbeitnehmer, Tarifvertrag, Krankengeld, Leistungen, Arbeitgeber, Zuschuss, Entgeltfortzahlung, Erkrankung, Manteltarifvertrag, Weihnachtsgeld, Gesamtzusage, Berufung, Gewerkschaft, Anspruch, Zuschuss zum Krankengeld, konkludente Vereinbarung, gesetzliche Regelung

Aktenzeichen  6 Sa 534/21

Datum:
23.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 52403
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

11 Ca 1907/20 2021-07-27 Endurteil ARBGMUENCHEN ArbG München

Tenor

I. Das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 27. Juli 2021 – 11 Ca 1907/20 wird abgeändert.
II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 1.913,57 netto zuzüglich Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 1. Januar 2020 sowie weitere € 2.196,14 zuzüglich Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 11. Februar 2020 zu zahlen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die statthafte Berufung hat in der Sache Erfolg.
I. Die Berufung ist zulässig.
Sie ist nach § 64 Abs. 1, 2b ArbGG statthaft. Sie ist in rechter Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 519 Abs. 2, § 520 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 66 Abs. 1 Sätze 1, 2, 5 ArbGG, § 222 ZPO).
II. In der Sache hat die Berufung Erfolg.
Der Kläger hat Anspruch auf die Zuzahlung zum Kranken- und Übergangsgeld nach § 16 Nr. 3 MTV. Denn die Beklagte hat den Tarifvertrag bzw. dem Tarifvertrag in Baden-Württemberg, der eine vergleichbare Regelung enthält, seit 2018 gegenüber sämtlichen Arbeitnehmern, welche die Voraussetzungen der Norm erfüllt hatten, zur Anwendung gebracht. Umstände, dass darin nur die Begünstigung einzelner Beschäftigter hatte liegen sollen, sind weder zu erkennen noch vorgetragen. Damit kann der Kläger seine Gleichbehandlung, also den Erhalt des Zuschusses zum Kranken- und Übergangsgeld, in gleicher Weise verlangen.
Die dagegen eingewandten Umstände seitens der Beklagten greifen nicht durch. Weder fehlt es an einer begünstigten Gruppe. Der Umstand, dass es sich um eine relativ kleine Vergleichsgruppe handelt, denen gegenüber eine Zuschusszahlung zum Kranken- oder Übergangsgeld erfolgt war, liegt in der Natur der Sache; bei den begünstigten Beschäftigten handelt es sich um alle (nicht tarifgebundenen) Beschäftigten, welche die Voraussetzungen für eine tarifliche Zuschusszahlung erfüllt hatten, ggf. abgesehen von dem Arbeitnehmer S, der allerdings bereits 2017 für längere Dauer erkrankt gewesen war. Zudem ist nicht nachvollziehbar dargetan, dass die Auszahlungen an die anderen nicht tarifgebundenen Beschäftigten in den Jahren 2018 und 2019 kraft eines Fehlers im Abrechnungsprogramm erfolgt seien. Ebenso steht die vertragliche Regelung und die Information im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang, der Kläger sei nicht tarifgebundener Arbeitnehmer, nicht entgegen; die Aussage als solche ist durchaus zutreffend, doch schließt dies eine Tarifanwendung kraft betrieblicher Übung nicht aus.
Ob daneben der MTV kraft betrieblicher Übung insgesamt zur Anwendung gebracht worden war, was sich durch die weiteren Zahlungen tariflicher Leistungen an nicht tarifgebundene Arbeitnehmer, wie das teilweise auch an den Kläger bezahlte tarifliche Weihnachtsgeld und die Jubiläumszuwendung etc. bestätigen könnte, kann dahinstehen.
1. Als privatrechtliche Ausprägung des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG bildet der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz eine Anspruchsgrundlage für einzelne, von einer regelhaften Gewährung von Leistungen ausgeschlossene Arbeitnehmer. Eine sachlich nicht gerechtfertigte Gruppenbildung bedingt im Ergebnis die Anpassung der Regelung.
a. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz stellt die privatrechtliche Ausprä gung des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG dar. Er findet dann Anwendung, wenn arbeitgeberseits Leistungen nach einem bestimmten erkennbaren und generalisierenden Prinzip aufgrund einer abstrakten Regelung gewährt werden, indem bestimmte Voraussetzungen oder ein bestimmter Zweck festlegt wurden. Der Arbeitgeber ist nach diesem Grundsatz gehalten, seine Arbeitnehmer oder Gruppen seiner Arbeitnehmer, die sich in vergleichbarer Lage befinden, bei Anwendung einer selbst gegebenen Regel gleich zu behandeln (vgl. nur BAG v. 3. 6. 2020 – 3 AZR 730/19, NZA 2021, 347 Rz. 42). Danach ist nicht allein die willkürliche Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer innerhalb einer Gruppe untersagt, sondern auch eine sachfremde Gruppenbildung. Der Gleichbehandlungsgrundsatz greift allein dann nicht ein, wenn der Arbeitgeber nur einzelne Arbeitnehmer, unabhängig von abstrakten Differenzierungsmerkmalen, in Einzelfällen besser stellt oder die Anzahl der begünstigten Arbeitnehmer im Verhältnis zur Gesamtzahl der betroffenen Beschäftigten sehr gering ist (vgl. BAG v. 3. 6. 2020, a.a.O.; BAG v. 20. 3. 2018 – 3 AZR 861/16, juris, Rz. 28; BAG v. 21. 8. 2012 – 3 AZR 81/10, juris, Rz. 24 f.; BAG 14. 6. 2006 – 5 AZR 584/05, NZA 2007, 221).
b. Eine vorgenommene Differenzierung muss nach dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz sachlich gerechtfertigt sein. Doch verstößt eine sachverhaltsbezogene Ungleichbehandlung erst dann gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, wenn sie willkürlich ist, da sich kein vernünftiger Grund für die Differenzierung finden lässt. Demgegenüber ist bei einer personenbezogenen Ungleichbehandlung der Gleichbehandlungsgrundsatz schon verletzt, wenn eine Gruppe anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können (vgl. BAG v. 3. 6. 2020, a.a.O., Rz. 43; BAG v. 12. 8. 2014, a.a.O. Rz. 25). Maßgeblich für die Beurteilung eines bestehenden Sachgrundes für eine unterschiedliche Behandlung ist insbesondere der Regelungszweck, der die Gruppenbildung rechtfertigen muss (dazu BAG v. 14. 11. 2017 – 3 AZR 516/16, juris, Rz. 20; BAG v. 12. 8. 2014, a.a.O., Rz. 26 m.w.N.).
c. Der Gleichbehandlungsgrundsatz stellt in gleicher Weise eine Anspruchsgrundlage wie auch eine Schranke der Rechtsausübung dar. Der Schutzcharakter gegenüber der Gestaltungsmacht des Arbeitgebers greift nur dort ein, wo dieser durch gestaltendes Verhalten ein eigenes Regelwerk oder eine eigene Ordnung schafft (BAG v. 3. 6. 2020, a.a.O., Rz. 44; BAG v. 21. 12. 2017 – 6 AZR 790/16 ZTR 2018, 261, Rz. 31). Voraussetzung für die Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf die Regelbildung des Arbeitgebers ist daher, dass durch ein gestaltendes Verhalten des Arbeitgebers ein eigenes Regelwerk oder eine eigene Ordnung geschaffen wurde. Liegen einer Leistung bestimmte Voraussetzungen zugrunde, muss die vom Arbeitgeber damit selbst geschaffene Gruppenbildung gemessen am Zweck der Leistung im genannten Sinne sachlich gerechtfertigt sein (vgl. BAG v. 22. 1. 2009 – 8 AZR 808/07, NZA 2009, 547, Rz. 35).
Aber auch bei Vorliegen arbeitsvertraglicher Vereinbarungen begrenzt der Grundsatz die Gestaltungsmacht des Arbeitgebers, um des Schutzes des Arbeitnehmers willen (BAG v. 3. 6. 2020, a.a.O., Rz. 45; BAG v. 21. 5. 2014 – 4 AZR 50/13, NZA 2015, 115 Rz. 24). Insbesondere bei Gesamtzusagen befindet sich ein einzelner Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen typischerweise in einer Situation struktureller Unterlegenheit, weswegen die Anwendung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Gesamtzusagen in ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts anerkannt ist (BAG v. 3. 6. 2020, a.a.O., Rz. 45 m.w.N.).
d. Bei Verletzung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes findet eine Korrektur der arbeitgeberseitig bestimmten gleichbehandlungswidrigen Voraussetzung statt. Eine sachlich nicht gerechtfertigte Gruppenbildung bedingt im Ergebnis eine Anpassung dieses Merkmals durch ein gleichbehandlungskonformes Merkmal. Ein ohne sachliche Gründe ungleich behandelter Arbeitnehmer kann die Leistung, von der er ausgeschlossen war, von diesem verlangen, sofern keine weiteren Voraussetzungen bestehen oder von ihm erfüllt werden müssen (BAG v. 3. 6. 2020, a.a.O. Rz. 46 m.w.N.).
2. Nach dem Vorstehenden kann der Kläger die Gewährung des Zuschusses zum Kranken- und Übergangsgeld verlangen. Denn die Beklagte hatte jedenfalls seit 2018 eine allgemeine und genrealisierende Regelung aufgestellt, allen auch nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern, welche länger als 6 Wochen arbeitsunfähig erkrankt waren, diese tarifliche Leistung zukommen zu lassen. Sachliche Gründe, derentwegen der Kläger von dieser Regelung ausgeschlossen hätte werden können und sollen, sind nicht zu erkennen.
a. Hier ist von der Aufstellung einer allgemeinen und generalisierenden Regelung aus zugehen, auch nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer den Zuschuss nach § 16 Nr. 3 MTV bzw. nach der vergleichbaren Regelung des z.B. vergleichbaren Tarifvertrags in BadenWürttemberg zukommen zu lassen.
b. Die Beklagte kann dagegen weder einwenden, eine Regel sei angesichts der gerin gen Zahl der Fälle nicht zu erkennen, noch kann sie sich auf eine bloße Besserstellung Einzelner berufen.
Der Kläger trägt unbestritten vor, die von ihm vorgetragenen Fälle der Gewährung einer Zuschusszahlung seien alle Fälle einer längeren, mehr als 6-wöchtigen Erkrankung eines nicht tarifgebundenen Arbeitnehmers seit 2018, die zu verzeichnen gewesen wären. In allen diesen Fällen hatte die Beklagte eine tarifliche Zuschusszahlung an die betreffenden Arbeitnehmer vorgenommen, trotzdem der anspruchsbegründende Tarifvertrag auf deren Arbeitsverhältnis, wie auch beim Kläger, keine Anwendung gefunden hatte. Dass gegenüber dem Arbeitnehmer S, der bereits 2017 länger als 6 Wochen arbeitsunfähig erkrankt gewesen war, ggf. keine Zuschusszahlung gewährt worden war, ist unerheblich. Die abstrakt generelle Regelung der Zuschussgewährung war dann eben seitens der Beklagten erst ab 2018 aufgestellt worden. Der Streit zwischen den Parteien hinsichtlich dieses einen Arbeitnehmers bedarf damit keiner weiteren Betrachtung.
Die Beklagte kann dem auch nicht entgegenhalten, es habe sich um eine nur sehr kleine Zahl von Arbeitnehmern gehandelt, die begünstigt worden wären. Dies ist in absoluten Zahlen im Vergleich zu allen Beschäftigten der Beklagten sicherlich zu bejahen. Doch stellt nicht die Gesamtzahl der Beschäftigten der Beklagten die Vergleichsgruppe dar, sondern allenfalls die Zahl der tarifungebundenen Arbeitnehmer, welche länger als 6 Wochen arbeitsunfähig erkrankt waren oder erkranken. Und: Hier hatte die Beklagte seit 2018 allen Arbeitnehmern, welche – vor dem Kläger – länger als 6 Wochen erkrankt waren, einen (tariflichen) Zuschuss zum Kranken- oder Übergangsgeld gewährt.
Sie kann sich ferner nicht auf das Informationsschreiben zum Betriebsübergang berufen, aus dem erkennbar gewesen wäre, dass der Zuschuss an die betreffenden Mitarbeiter zu Unrecht bezahlt worden wäre. Denn dieses Informationsschreiben ist jedenfalls nicht eindeutig, wenn zu Tarifverträgen ausgeführt wird, die Beklagte wende die einschlägigen Tarifverträge an. Damit durften – isoliert nach dieser Aussage – die betreffenden Arbeitnehmer mit der Zahlung auch der tariflichen Leistungen rechnen. Dass sie in der Folge im Text weiterhin als nicht tarifgebundene Arbeitnehmer bezeichnet werden, steht dem nicht notwendig entgegen. Sie bleiben weiterhin nicht tarifgebunden, auch wenn die Beklagte (alle oder einzelne) tarifliche Leistungen den betreffenden Beschäftigten freiwillig gewährt (vgl. auch nachfolgend d).
Das deutschlandweite Auftreten vergleichbarer anderer Fälle längerer Erkrankungen nicht tarifgebundener Arbeitnehmer, da keine Zuschusszahlungen zum Kranken- oder Übergangsgeld erfolgt wären, trägt die Beklagte nicht vor.
c. Die Beklagte kann dagegen auch nicht mit Erfolg einwenden, es habe sich um einen Programmfehler gehandelt, kraft dessen die Zuschussgewährung erfolgt sei. Der behauptete und klägerseits bestrittene Programmfehler ist auch mit dem in Bezug genommenen erstinstanzlichen Sachvortrag der Beklagten in keiner Weise nachvollziehbar dargetan, dass insoweit aus eine Beweiserhebung nicht hätte oder hatte stattfinden können.
In gleicher Weise ist diesseits nicht nachzuvollziehen, dass die begünstigten Arbeitnehmer den behaupteten Programmfehler hätten erkennen können oder, dass diese (in welcher Weise?) die erhaltenen Zuschüsse zurückzahlen müssten.
d. Nach dem Vorstehenden kann letztlich dahinstehen, ob nicht nur der (tarifliche) Anspruch auf Zuschusszahlung kraft des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes seitens des Klägers verlangt werden kann oder, ob der MTV insgesamt kraft einer allgemeinen und generellen Regelung der Beklagten den Arbeitnehmern zur Anwendung gebracht worden war.
Für eine allgemeine Anwendung des MTV auf alle, auch die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer könnte sprechen, dass tarifliche Weihnachtsgeld- und Urlaubsgeldzahlungen auch an nicht tarifgebundene Arbeitnehmer erfolgt waren. Eine solche Anwendung könnte sich auch aus den Informationen im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang ergeben, wenn dort ausgeführt wurde, bei der Beklagten würden die jeweils einschlägigen Tarifverträge angewandt. Zwar wird nachfolgend ausgeführt, dass nicht gewerkschaftsangehörige Arbeitnehmer weiterhin tarifungebunden bleiben, was aber einer freiwilligen Anwendung der tariflichen Normen nicht entgegenstehen muss. Die Regelung in Nr. 3 Satz 3 des Arbeitsvertrages, dass auf das Arbeitsverhältnis kein Tarifvertrag Anwendung finde, steht ebenso nicht entgegen. Diese Formularklausel (§ 305 Abs. 1 BGB) steht einer Individualabrede nicht entgegen, derzufolge nunmehr doch tarifliche Normen Anwendung finden sollten (§ 305b BGB).
Doch letztlich bedürfen diese Fragen nach dem Vorstehenden keiner abschließenden Entscheidung.
3. Die Höhe des begehrten Zuschusses ist unter den Parteien nicht umstritten, weswegen der Klagebetrag zugrunde zu legen ist.
4. Die Zinszahlung beruht auf §§ 284, 286, 288 BGB.
III. Die Kostenfolge beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
IV. Umstände, welche die Zulassung der Revision bedingten (§ 72 Abs. 2 ArbGG), sind nicht gegeben.


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