Arbeitsrecht

Arbeitsförderung: Zur Arbeitnehmereigenschaft des Vorstands einer Aktiengesellschaft als Voraussetzung für Insolvenzgeld

Aktenzeichen  L 9 AL 119/16

Datum:
25.3.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 47924
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
AktG § 76 Abs. 1
SGB III § 27 Abs. 1 Nr. 5, § 165 Abs. 1, § 183 Abs. 1

 

Leitsatz

1. 1.) Für die Prüfung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 183 Absatz 1 Satz 1 SGB III a.F. (nunmehr § 165 Absatz 1 Satz 1 SGB III n.F.) ist im Wesentlichen von den tatsächlichen Verhältnissen auszugehen, also darauf abzustellen, wie das (arbeitsvertraglich) Vereinbarte tatsächlich im Arbeitsalltag umgesetzt worden ist. (Rn. 92)
2. Die formale organschaftliche Stellung eines Vorstandsmitglieds einer Aktiengesellschaft gemäß nach § 76 Abs. 1 des Aktiengesetzes hat insoweit nur untergeordnete Bedeutung. (Rn. 90)
3. 2.) Einem (allein vertretungsberechtigten) Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft, der für diese als Vertriebsleiter mit arbeitsvertraglicher Vereinbarung gegen Arbeitsentgelt tätig ist, steht der für einen Anspruch auf Insolvenzgeld erforderlichen Arbeitnehmereigenschaft die Versicherungsfreiheit von Vorstandsmitgliedern nach § 27 Absatz 1 Nummer 5 SGB III grundsätzlich nicht entgegen. (Rn. 80 – 82)

Verfahrensgang

S 16 AL 259/13 2016-05-11 Urt SGREGENSBURG SG Regensburg

Tenor

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 11. Mai 2016 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Regensburg vom 11.05.2016 ist gemäß den §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) formell statthaft, sachlich jedoch nicht begründet.
Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 12.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.10.2013 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Nach § 183 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) III – in der hier maßgeblichen, bis 31.03.2012 geltenden Fassung (a.F.) – setzt ein Anspruch auf Insolvenzgeld voraus, dass (Nr. 1) bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers, (Nr. 2) bei Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder (Nr. 3) bei vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt geworden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (Insolvenzereignis), im Inland beschäftigte Arbeitnehmer für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben.
Zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt gehören alle Ansprüche auf Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis (§ 183 Abs. 1 Satz 3 SGB III a.F.).
Die entscheidende Rechtsfrage ist daher, ob der Kläger als – im Handelsregister eingetragenes – einziges Vorstandsmitglied der Y. AG als Arbeitnehmer im Sinne des § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. einzuordnen ist oder nicht.
Obwohl der Gesetzgeber beim Insolvenzgeld von Arbeitnehmern und nicht – wie im SGB III üblich – von Beschäftigten spricht, wird in der Kommentarliteratur hinsichtlich der Prüfung der Arbeitnehmereigenschaft von Antragstellern auf Insolvenzgeld einhellig auf die zu § 25 SGB III und § 7 SGB IV entwickelten Abgrenzungskriterien zur Prüfung eines Beschäftigungsverhältnisses verwiesen.
Entscheidend sei daher, ob im maßgeblichen Insolvenzgeldzeitraum eine persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers von seinem Arbeitgeber vorgelegen habe. Diese setze ein Weisungsrecht des Arbeitgebers in Bezug auf Inhalt, Durchführung, Dauer und Ort der Tätigkeit voraus. Dabei sei nicht in erster Linie auf die vertraglichen Verhältnisse, sondern auf die tatsächlichen Gegebenheiten abzustellen (vgl. Schmidt in Mutschler, SGB III, 6. Auflage, § 165 n.F., Rdnr. 6-7 m.w.N.).
Die Berufung der Beklagten stützt sich im Wesentlichen darauf, dass der Gesetzgeber im Sozialversicherungsrecht hinsichtlich der Vorstandsmitglieder einer (deutschen) Aktiengesellschaft Sonderregelungen eingeführt hat, die im Ergebnis diese Personen insbesondere von der Renten- und Arbeitslosenversicherungspflicht freistellen sollen.
Insoweit ist es zutreffend, dass – ausweislich der vorliegenden Entgeltabrechnung für Juli 2011 – für den Kläger zwar Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, jedoch keine Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung entrichtet wurden.
Für die gesetzliche Krankenversicherung normiert § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V:
Versicherungspflichtig sind Arbeiter, Angestellte und zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind.
Eine Sonderregelung für Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft existiert in diesem Bereich der Sozialversicherung nicht.
Für die gesetzliche Rentenversicherung normiert hingegen § 1 S. 3 SGB VI:
Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft sind in dem Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, nicht versicherungspflichtig beschäftigt, wobei Konzernunternehmen im Sinne des § 18 des Aktiengesetzes als ein Unternehmen gelten.
Hierzu kommentiert Vor in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 1 Rdnr. 95-97 (ergänzt durch Unterstreichungen):
Satz 3 trifft für Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft eine spezielle Regelung; diese Personengruppe ist in dem Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, nicht versicherungspflichtig beschäftigt und damit von der Versicherungspflicht ausgenommen.
Grundsätzlich kann es sich bei diesen Personen um Beschäftigte im Sinne von § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI handeln, wenn sie nach dem Gesamtbild ihrer Tätigkeit dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegen und sie in den Betrieb eingegliedert sind. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil v. 21.02.1990 – 12 RK 47/87 – SozR 3-2940 § 3 Nr. 1) ist es insoweit auch unbeachtlich, dass die Mitglieder des Vorstandes von Aktiengesellschaften auf die Willensbildung der Gesellschaft einen maßgeblichen Einfluss haben und weitgehend weisungsfrei tätig sind.
Die Regelung in Satz 3 stellt klar, dass die Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft nach deutschem Recht jedenfalls nicht der Versicherungspflicht in der GRV unterliegen. Aufgrund ihrer herausragenden und wirtschaftlich starken Stellung bedürfen sie nicht des Schutzes durch die Solidargemeinschaft. Die Übergangsregelungen in den §§ 229 Abs. 1 Nr. 1, 229a Abs. 1 SGB VI sind zu beachten, wonach Mitglieder des Vorstands einer Aktiengesellschaft, die am 31.12.1991 versicherungspflichtig waren, in dieser Tätigkeit versicherungspflichtig bleiben.
Seit der Neuregelung der Vorschrift mit Wirkung vom 01.01.2004 entfällt die Versicherungspflicht nur für die Beschäftigung als Vorstandsmitglied und die weiteren versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in dem Unternehmen. Selbständige Tätigkeiten für die AG und die Konzernunternehmen werden im Gegensatz zur vorherigen Regelung nicht mehr erfasst. Das Nichtbestehen der Versicherungspflicht hängt damit allein von der ausgeübten Beschäftigung und nicht von der Person ab.
Mit Urteil vom 27.02.2008 (Az. B 12 KR 23/06 R – streitig war die Versicherungspflicht in der Renten- und Arbeitslosenversicherung für Vorstandsmitglieder einer irischen „private limited company“) hat der 12. Senat des BSG (bei juris Rdnr. 16ff) u.a. ausgeführt:
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind Vorstandsmitglieder einer deutschen AG regelmäßig abhängig beschäftigt, auch wenn sie die Gesellschaft in eigener Verantwortung zu leiten haben und gegenüber der Belegschaft Arbeitgeberfunktionen wahrnehmen (vgl BSG, Urteil vom 31.5.1989, 4 RA 22/88, BSGE 65, 113, 116 f = SozR 2200 § 1248 Nr. 48 S. 125; ferner Urteil vom 19.6.2001, B 12 KR 44/00 R, SozR 3-2400 § 7 Nr. 18 S. 66 f).
Diese Beurteilung wird auch von der Revision nicht (mehr) für unzutreffend gehalten. Entgegen der von ihr zunächst vertretenen Auffassung hat sich die Revision im späteren Verfahren zu Recht nicht mehr darauf berufen, Mitglieder des Vorstandes einer AG ständen nicht in einem Beschäftigungsverhältnis, sondern seien „nach Stellung und Funktion“ Selbstständige, was für den Kläger als Mitglied des BoD einer irischen Gesellschaft daher entsprechend zu gelten habe. … Nach § 1 Satz 4 SGB VI in den bis zum 31.12.2003 und ab 1.1.2004 geltenden Fassungen, die hier beide anzuwenden sind, sind Mitglieder des Vorstandes einer AG nicht versicherungspflichtig bzw in dem Unternehmen, dem sie angehören, nicht versicherungspflichtig beschäftigt. Mit seiner Neufassung lehnt sich § 1 Satz 4 SGB VI an § 27 Abs. 1 Nr. 5 SGB III an, der seit dem 1.1.1998 bestimmt, dass Mitglieder des Vorstandes einer AG für das Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, in dieser Beschäftigung versicherungsfrei sind.
Die Herausnahme von Mitgliedern des Vorstandes einer AG aus der Rentenversicherungspflicht geht auf § 3 Abs. 1a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zurück, der durch Art. 1 § 2 Nr. 2 des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (3. RVÄndG) vom 28.7.1969 (BGBl I 956) mit Wirkung vom 1.1.1968 als Reaktion auf die Aufhebung der für die Pflichtversicherung von Angestellten geltenden Jahresarbeitsverdienstgrenze eingefügt worden war und für Vorstandsmitglieder einer AG bestimmte, dass sie nicht zu den versicherungspflichtigen Angestellten gehören.
Dieser mit dem 3. RVÄndG eingefügten Vorschrift lag die Erwägung zugrunde, dass bei Mitgliedern des Vorstandes einer AG wegen ihrer herausragenden und starken wirtschaftlichen Stellung Schutz und Sicherheit durch die Rentenversicherung entbehrlich erscheinen (vgl Urteil vom 22.11.1973, 12/3 RK 20/71, BSGE 36, 258, 260 = SozR Nr. 24 zu § 3 AVG, unter Hinweis auf das Urteil vom 18.9.1973, 12 RK 5/73, BSGE 36, 164, 167 = SozR Nr. 23 zu § 3 AVG; ferner BSGE 65, 113, 118 = SozR 2200 § 1248 Nr. 48 S. 126 f) . Diese Rechtslage galt bis zum 31.12.1991.
Als Nachfolgevorschrift des § 3 Abs. 1a AVG bestimmte zunächst § 1 Satz 3 SGB VI und bestimmt für die Zeit ab 1.1.1992 § 1 Satz 4 SGB VI, dass Mitglieder des Vorstandes einer AG für den Bereich der GRV nicht versicherungspflichtig (beschäftigt) sind (vgl zur Entstehungsgeschichte ausführlich Urteil des Senats vom 9.8.2006, B 12 KR 3/06 R, SozR 4-2600 § 229 Nr. 1 RdNr. 16 ff). … Die Regelungen des Rentenversicherungsrechts über Vorstandsmitglieder von AGen enthielten nach Auffassung des BSG einen Grundsatz, der auch für die Beitragspflicht in der ArblV zu beachten war, obwohl im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) eine entsprechende Vorschrift zunächst nicht enthalten war (BSG, Urteil vom 4.9.1979, BSGE 49, 22, 24 ff = SozR 4100 § 168 Nr. 10 S. 13 ff; Urteil vom 26.3.1992, 11 RAr 15/91, BB 1993, 442 f; ferner BSG, Urteil vom 10.12.1998, B 12 KR 4/98 R, SozR 3-4100 § 168 Nr. 23 S. 69 mwN) . In das AFG selbst wurde eine solche Vorschrift – als Absatz 6 Satz 1 des § 168 AFG – erst mit Wirkung vom 1.1.1993 durch Art. 1 Nr. 48 des Gesetzes zur Änderung von Förderungsvoraussetzungen im AFG und in anderen Gesetzen vom 18.12.1992 (BGBl I 2044) eingeführt.
Diese Regelung wurde mit Wirkung vom 1.1.1998 weitgehend inhaltsgleich in den seither geltenden § 27 Abs. 1 Nr. 5 SGB III übernommen. Die Vorschrift sieht nunmehr entsprechend der geänderten Rechtssystematik des SGB III („Versicherungspflicht“ statt „Beitragspflicht“) für Vorstandsmitglieder einer AG in dieser Beschäftigung für den Bereich der ArblV Versicherungsfreiheit vor (vgl zur Entstehungsgeschichte BSG SozR 3-4100 § 168 Nr. 23 S. 69 f.
Auch für den Ausnahmetatbestand in der ArblV hat das BSG entschieden, dass es allein auf die Erfüllung des formalen Merkmals der Zugehörigkeit zum Vorstand einer Gesellschaft in der Rechtsform der AG ankommt, den Einzelfall berücksichtigende wertende Gesichtspunkte demgegenüber keinen Ausschlag geben (BSGE 49, 22, 27 f = SozR 4100 § 168 Nr. 10 S. 16 f; BSG BB 1993, 442, 443).
Bis zur Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in das AFG zum 1.1.1993 ist das BSG auch für den Bereich der ArblV davon ausgegangen, dass hinter der Anknüpfung an das formale Merkmal der Zugehörigkeit zum Vorstand einer AG die Erwägung stehe, der wirtschaftliche und soziale Status dieser Personengruppe erlaube es, sie vom Schutz der ArblV auszunehmen, wie es für die Regelung in der GRV bestimmend gewesen sei (vgl etwa BSG BB 1993, 442 f). Seit der Schaffung eines eigenen Versicherungsfreiheitstatbestandes für Vorstandsmitglieder einer AG in § 168 Abs. 6 Satz 1 AFG wird als Motiv des Gesetzgebers unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien (vgl BT-Drucks 12/3211 S. 28 zu Nr. 46 ) auch deren „Arbeitsmarktferne“ angenommen. Ausgehend von den Aufgaben der Arbeitsförderung, die auf den Arbeitsmarkt bezogen seien, habe der Gesetzgeber die fehlende Verfügbarkeit der Arbeitsplätze von Vorstandsmitgliedern einer AG auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und die mangelnde Verbindung der Tätigkeit hierzu als maßgebend angesehen (vgl BSG SozR 3-4100 § 168 Nr. 23 S. 72 f).
Für die Arbeitslosenversicherung normiert § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB III, dass Personen in einer Beschäftigung als Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft für das Unternehmen, dessen Vorstand sie angehören, versicherungsfrei sind.
Es ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die oben aufgeführten Regelungen im SGB VI und im SGB III nur zur Regelung des Tatbestandes der Versicherungspflicht einer speziellen Gruppe von Arbeitnehmern erlassen worden sind.
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Frage, ob der Kläger trotz seiner Bestellung als Vorstand der Y. AG weiterhin Arbeitnehmer im Sinne des § 183 Abs. 1 SGB III a.F. war, ist damit weiterhin offen.
Den Formulierungen im SGB VI und dem SGB III lässt sich jedenfalls entnehmen, dass der Gesetzgeber offensichtlich davon ausgeht, dass Vorstände von Aktiengesellschaften Beschäftigte im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV sein können – sonst hätten diese nicht ausdrücklich aus der Pflicht zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung herausgenommen werden müssen (siehe hierzu das oben ausführlich zitierte BSG-Urteil vom 27.02.2008, Az. B 12 KR 23/06 R).
Dieses Zwischenergebnis widerspricht – im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten und Berufungsklägerin – auch nicht der organschaftlichen Stellung des AG-Vorstandes gemäß § 76 Abs. 1 des Aktiengesetzes, wonach der Vorstand „unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten“ hat.
Zwar wird auch in der (arbeitsrechtlichen) Kommentarliteratur teilweise – allerdings ohne nähere Begründung – die Auffassung vertreten, wer gemäß § 76 Abs. 1 Aktiengesetz eine Arbeitgeberstellung inne habe, könne nicht Arbeitnehmer sein.
So kommentiert z.B. W. (in Palandt, BGB, 78. Auflage, Rdnr. 23 vor § 611), dass der Anstellungsvertrag des Vorstandes einer AG regelmäßig ein Dienstvertrag und kein Arbeitsvertrag sei.
Richtigerweise muss jedoch streng zwischen der Organstellung des Vorstands, die mit der Annahme der Bestellung zum Vorstand beginnt, und dem schuldrechtlichen Anstellungsvertrag unterschieden werden.
Insoweit unterscheiden sich Vorstände einer AG auch nicht von Geschäftsführern einer GmbH, deren Geschäftsführungsbefugnis jederzeit durch Gesellschafterbeschluss entzogen werden kann, wobei der Arbeitsvertrag hiervon unberührt bleibt.
Völlig richtig führt daher V. (in Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 17. Auflage, Seite 86f) aus, dass Organmitglieder von juristischen Personen ihre durch das jeweilige Gesetz verliehene Weisungsbefugnis allein im Außenverhältnis ausüben, sich jedoch im Innenverhältnis zur Gesellschaft in einer abhängigen Position befinden können. Würden bisher als Arbeitnehmer B. zu Organvertretern bestellt, sei nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Zweifel von einer konkludenten Aufhebung des Arbeitsvertrages auszugehen. Diese Vermutung könne jedoch nur gelten, wenn mit dem betroffenen Arbeitnehmer mit seiner Bestellung zum Vorstand einer AG oder Geschäftsführer einer GmbH entsprechende schriftliche Vereinbarungen getroffen würden, da ansonsten wegen § 623 BGB das Schriftformerfordernis für Änderungsvereinbarungen nicht gewahrt sei.
Hieraus folgt, dass es vorliegend nicht entscheidend auf die formale organschaftliche Stellung des Klägers als alleinigem vertretungsberechtigten Organ der Y. AG ankommt, sondern dass – vergleichbar mit der Stellung des Geschäftsführers einer GmbH – die tatsächliche Umsetzung der dem Kläger im Außenverhältnis gemäß § 76 Abs. 1 des Aktiengesetzes eingeräumten Stellung im Unternehmen (insbesondere seiner Weisungsbefugnis) zu prüfen ist.
Soweit der Senat in seinem Urteil vom 23.04.2009 (Az. L 9 AL 351/05) eine andere Auffassung vertreten hat und in dieser Entscheidung bei der Prüfung der Arbeitnehmereigenschaft gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. in erster Linie auf die organschaftliche Stellung des dortigen Klägers abgestellt hat, wird daran nicht festgehalten.
Im Ergebnis ist daher auch für die Prüfung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. im Wesentlichen von den tatsächlichen Verhältnissen auszugehen, also darauf abzustellen, wie das (arbeitsvertraglich) Vereinbarte tatsächlich im Arbeitsalltag umgesetzt worden ist.
Die tatsächlichen Verhältnisse sind dabei in mehrfacher Hinsicht zu prüfen:
Zum einen bezüglich dessen, was der Dienstverpflichtete zu tun hat, d.h. bezüglich der Art und Weise seiner Arbeitsleistung (des wie), zum anderen hinsichtlich der zeitlichen Vorgaben (des wann) für seine Arbeit. Letztlich spricht auch eine Weisungsgebundenheit hinsichtlich des Orts der Tätigkeit (des wo) für eine Arbeitnehmerstellung.
Die Eingliederung in eine betriebliche Organisation, beispielsweise durch die Notwendigkeit der engen ständigen Zusammenarbeit mit anderen Arbeitnehmern des Arbeitgebers, ist dabei ein wichtiges Indiz für ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, jedoch keine zwingende Voraussetzung.
Schuldet der Dienstverpflichtete seine ganze Arbeitskraft einem Auftraggeber, ist dies ebenso ein Indiz für eine versicherungspflichtige Beschäftigung. Demgegenüber ist es für einen Selbständigen typisch, dass er nicht nur für einen Kunden, Mandanten, Patienten usw. arbeitet, sondern für mehrere.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 06.03.2003, Az. B 11 AL 25/02 R) ist etwa ein Geschäftsführer einer GmbH weder wegen seiner Organstellung, noch deshalb von einer abhängigen Beschäftigung ausgeschlossen, weil er gegenüber Arbeitnehmern der GmbH Arbeitgeberfunktionen ausübt. Maßgebend sei vielmehr die Bindung des Geschäftsführers an das willensbildende Organ, in der Regel die Gesamtheit der Gesellschafter. Bei Fremdgeschäftsführern, also nicht am Gesellschaftskapital beteiligten Geschäftsführern, hat demgemäß das BSG regelmäßig eine abhängige Beschäftigung angenommen (vgl. BSG SozR 3-2400 § 7 Nr. 20 m.w.N.), es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, die eine Weisungsgebundenheit gegenüber den Gesellschaftern im Einzelfall aufheben. In gleicher Weise müsse auch bei Geschäftsführern, die zwar zugleich Gesellschafter sind, jedoch weder über die Mehrheit der Gesellschaftsanteile noch über eine so genannte Sperrminorität verfügen, für den Regelfall von einer abhängigen Beschäftigung ausgegangen werden (vgl. BSG a.a.O.). Eine abweichende Beurteilung komme wiederum nur dann in Betracht, wenn besondere Umstände den Schluss zulassen, es liege keine Weisungsgebundenheit vor.
Im Übrigen ist nach der Rechtsprechung des BSG derjenige Beschäftigter i.S. des § 25 Abs. 1 Satz 1 SGB III, wer von einem Arbeitgeber persönlich abhängig ist.
Persönliche Abhängigkeit erfordert Eingliederung in den Betrieb und Unterordnung unter das Weisungsrecht des Arbeitgebers in Bezug auf Zeit, Dauer, Ort und Art der Arbeitsausführung (vgl. BSG, Urteil vom 10.05.2007 – B 7a AL 8/06 R). Diese Weisungsgebundenheit kann – vornehmlich bei Diensten höherer Art – eingeschränkt und zur „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“ verfeinert sein (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R = SozR 4-2400 § 7 Nr. 25).
Demgegenüber ist die selbständige Tätigkeit in erster Linie durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (vgl. BSG, Urteil vom 04.07.2007 – B 11a AL 5/06 R = SozR 4-2400 § 7 Nr. 8); dabei muss vom Gesamtbild der Arbeitsleistung ausgegangen werden (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R = SozR 4-2400 § 7 Nr. 25).
Im vorliegenden Fall war der Kläger nach den Feststellungen des Senats bezüglich der Art und Weise seiner Arbeitsleistung ständigen Vorgaben des „Hintermannes“ K. ausgesetzt. Dies ergibt sich vor allem aus den Zeugenaussagen des Syndikus der Y. AG, A. S., sowie der Ehefrau des Klägers, S. A., vor dem SG Regensburg. Auf die Angaben im Tatbestand dieses Urteils (S. 5) wird verwiesen.
Ferner unterlag der Kläger keinem Unternehmerrisiko, es lag auch keine Beteiligung am Gewinn der AG vor, wie dies bei selbständig Tätigen üblich ist.
Die Vergütung des Klägers bestand allein in der Zahlung von Arbeitsentgelt, welches auch als solches versteuert wurde.
Der Senat weist darauf hin, dass der Gesetzgeber den betroffenen Arbeitnehmern mit der Gewährung des Insolvenzgeldes gemäß § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. ausdrücklich deren entgangene Ansprüche auf Arbeitsentgelt (für einen begrenzten Zeitraum) absichern wollte.
Nach den Feststellungen des Senats besteht daher keine Veranlassung, den Kläger allein aufgrund seiner oben dargelegten organschaftlichen Stellung nach dem Aktiengesetz aus dem Schutzbereich des § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. auszuschließen.
Ein weiteres Indiz für die Arbeitnehmereigenschaft des Klägers ist die Tatsache, dass die sachliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts München für die gerichtlich geltend gemachten Entgeltansprüche des Klägers weder von der beklagten Arbeitgeberin noch vom Arbeitsgericht angezweifelt worden ist.
Im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten (und Berufungsführerin) stellt auch der Abschluss der Verträge über die Bestellung von drei Blockheizkraftwerken keinen Beleg für eine tatsächliche Weisungsfreiheit des Klägers gegenüber seiner Arbeitgeberin, der Y. AG, dar.
Der Kläger hat insoweit glaubhaft dargelegt, dass er von Herrn K. angewiesen worden sei, die Verträge zu unterschreiben.
Nach alledem lag im streitigen Zeitraum ein Beschäftigungsverhältnis zwischen dem Kläger und der Y. AG vor, welches allein wegen den Sonderregelungen in § 1 S. 3 SGB VI und § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB III nicht beitragspflichtig zur Renten- und Arbeitslosenversicherung war.
Der Kläger war daher Arbeitnehmer i.S. des § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F.
Da auch die weiteren, in § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. normierten Voraussetzungen für die Gewährung von Insolvenzgeld im streitigen Zeitraum erfüllt sind, hat der Kläger Anspruch auf Insolvenzgeld in der vom SG tenorierten Höhe.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Regensburg vom 11.05.2016 ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.


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