Arbeitsrecht

Betrieb nach § 3 BetrVG – Stilllegung – Betriebsratsmitglied – ordentliche Kündigung – Gemeinschaftsbetrieb – Strukturtarifvertrag

Aktenzeichen  2 AZR 85/19

Datum:
24.10.2019
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BAG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BAG:2019:241019.U.2AZR85.19.0
Normen:
§ 15 Abs 1 S 2 KSchG
§ 15 Abs 4 KSchG
§ 3 Abs 1 Nr 1 Buchst a BetrVG
§ 3 Abs 5 S 2 BetrVG
§ 1 Abs 1 S 1 BetrVG
§ 3 Abs 5 S 1 BetrVG
§ 3 Abs 1 Nr 2 BetrVG
§ 3 Abs 1 Nr 3 BetrVG
§ 1 Abs 2 S 2 KSchG
§ 15 Abs 5 KSchG
§ 103 BetrVG
§ 1 Abs 3 KSchG
§ 1 TVG
§ 50 BetrVG
Spruchkörper:
2. Senat

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Berlin, 29. Juni 2018, Az: 6 Ca 16319/17, Urteilvorgehend LArbG Berlin-Brandenburg, 28. November 2018, Az: 24 Sa 1468/18, Urteil

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. November 2018 – 24 Sa 1468/18 – aufgehoben, soweit es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 29. Juni 2018 – 6 Ca 16319/17 – zurückgewiesen und der Berufung der Klägerin gegen das vorbezeichnete Urteil des Arbeitsgerichts Berlin stattgegeben hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten vorrangig über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.
2
Die Beklagte und weitere Gesellschaften des N-Konzerns vereinbarten mit der IG Metall im März 2016 einen „Strukturtarifvertrag … nach § 3 BetrVG“ (im Folgenden StrukturTV). Danach wurden die Betriebsstätten der betreffenden Unternehmen in H, B und L mit Wirkung ab Mai 2016 zu einer betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit (Region Nord-Ost) zusammengefasst.
3
Die Klägerin war der Betriebsstätte der Beklagten in B zugeordnet. Sie wurde in einer Wahl im März 2017 zum Ersatzmitglied des aufgrund des StrukturTV für die Region Nord-Ost errichteten Betriebsrats gewählt und nahm im April 2017 an einer Betriebsratssitzung teil.
4
Im Februar 2017 schlossen die Beklagte und weitere Gesellschaften des N-Konzerns mit dem bei der Beklagten bestehenden Gesamtbetriebsrat die „N Gesamtbetriebsvereinbarung 2017/02 zugleich Teilinteressenausgleich und Sozialplan B“ (im Folgenden GBV). Nach ihrer Präambel und ihrer Nr. 2 dient die GBV ua. dazu, betriebsbedingte Kündigungen aufgrund der Einstellung der Geschäftstätigkeit der Beklagten in B zum 31. Mai 2017 zu vermeiden. Entsprechende Maßnahmen wurden in der GBV „vollständig beschrieben und abschließend geregelt“. Nach ihrer Nr. 13 bleibt die GBV „bis zum Abschluss der in ihr geregelten Maßnahmen und der Erfüllung der sich aus der Maßnahme ergebenden Pflichten in Kraft und kann bis dahin nicht gekündigt werden“. Nr. 5 GBV ist überschrieben mit „Maßnahmen zur Vermeidung betriebsbedingter Kündigungen“. Im Einleitungssatz sind sechs Maßnahmen aufgelistet, deren Durchführung in Nr. 5.1 bis Nr. 5.7 GBV geregelt ist. Nr. 5.8 GBV lautet auszugsweise wie folgt:
        
„5.8   
Lösungen für Beschäftigte mit Sonderkündigungsschutz
        
Die Unternehmen werden
        
        
•       
…       
        
        
•       
Mandatsträgern (BR/JAV/SBV/Ersatzmitglieder mit Sonderkündigungsschutz)
        
        
bis zum 31.03.2017 ihren bisherigen Positionen gleichwertige Positionen in einem der vertragsschließenden Unternehmen anbieten. Es gelten die gleichen Regelungen wie bei der Verlagerung hinsichtlich Telearbeits-Lösungen, Abfindungsanspruch und Geltung von Tarifverträgen.
        
        
…       
        
        
Für durch die Betriebswahl im März 2017 gewählten Mandatsträger (nicht Ersatzmitglieder oder Nachrücker) erfolgt die Betriebszuordnung so, dass kein Mandatsverlust damit verbunden ist. Mandatsträger mit Stellen in der N GmbH & Co. KG erhalten einen Arbeitsvertrag an einem Standort der GmbH & Co. KG mit 100% Telearbeit – solange das Mandat besteht, mindestens jedoch 2 Jahre – und mitbestimmungsrechtlicher Zuordnung zum Betrieb Region Nord-Ost. Die 100% Telearbeits-Regelung wird im Fall einer Neuwahl automatisch verlängert. Die 100% Home Office-Regelung endet, wenn der Mandatsträger auf eine Stelle bei Sales und Services im Betrieb Nord-Ost versetzt wird.
        
        
Für Beschäftigte mit einem zeitlich befristeten Sonderkündigungsschutz (nicht wiedergewählte Mitglieder des Betriebsrats/Ersatzmitglieder, Wahlhelfer, Beschäftigte, die sich zur Wahl gestellt haben, etc.) besteht ein Anspruch auf eine Telearbeitsvereinbarung nur bis zum Ablauf des Sonderkündigungsschutzes. …“
        
5
Der Betriebsrat B hat nach einer von der Betriebsratsvorsitzenden unterzeichneten Erklärung „dieser Gesamtbetriebsvereinbarung im Sinne eines vorgezogenen Teilinteressenausgleichs/Sozialplans“ zugestimmt.
6
Ab dem 7. Juni 2017 war die Betriebsstätte der Beklagten in B geschlossen. Die Klägerin wurde angewiesen, verbleibende Tätigkeiten im Rahmen eines Homeoffice zu verrichten. Sie nimmt seit Dezember 2017 als „ordentliches“ Betriebsratsmitglied Betriebsratsaufgaben wahr.
7
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien nach Anhörung des Betriebsrats mit Schreiben vom 28. November 2017 ordentlich zum 30. Juni 2018.
8
Dagegen hat die Klägerin rechtzeitig die vorliegende Klage erhoben. Die ordentliche Kündigung sei nach § 15 Abs. 1 Satz 2 KSchG ausgeschlossen gewesen.
9
Die Klägerin hat sinngemäß beantragt
        
1.    
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 28. November 2017 nicht aufgelöst worden ist;
        
2.    
die Beklagte im Fall des Obsiegens mit dem Klageantrag zu 1. zu verurteilen, die Klägerin zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Buyer im Umfang von 35 Wochenstunden bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits weiterzubeschäftigen;
        
3.    
die Beklagte im Fall des Obsiegens mit dem Klageantrag zu 1. zu verurteilen, das Angebot der Klägerin auf Abschluss einer Vereinbarung über 100 % Telearbeit/Homeoffice befristet für den Zeitraum bis 1 Jahr nach Beendigung der Mitgliedschaft der Klägerin im Betriebsrat der Region Nord-Ost gemäß Nr. 5.8 GBV anzunehmen;
        
4.    
die Beklagte im Fall des Obsiegens mit dem Klageantrag zu 1. und des Unterliegens mit dem Klageantrag zu 3. zu verurteilen, der Klägerin ein Angebot über den Abschluss einer befristeten Vereinbarung über 100 % Telearbeit/Homeoffice für den Zeitraum bis 1 Jahr nach Beendigung der Mitgliedschaft der Klägerin im Betriebsrat der Region Nord-Ost gemäß Nr. 5.8 GBV zu unterbreiten.
10
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die ordentliche Kündigung sei nach § 15 Abs. 4 KSchG zulässig und gemäß § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Sie habe ihren einzigen Betrieb in B stillgelegt. Es habe keine Möglichkeit bestanden, die Klägerin an einem freien Arbeitsplatz im Unternehmen weiterzubeschäftigen.
11
Das Arbeitsgericht hat dem Kündigungsschutz- und dem Weiterbeschäftigungsantrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen und diese auf die Berufung der Klägerin verurteilt, deren Angebot auf Abschluss einer Vereinbarung über 100 % Telearbeit/Homeoffice gemäß Nr. 5.8 GBV für die Dauer der Mitgliedschaft der Klägerin im Betriebsrat (nicht aber für ein Jahr darüber hinaus) anzunehmen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag weiter, die Klage insgesamt abzuweisen.


Ähnliche Artikel

Mobbing: Rechte und Ansprüche von Opfern

Ob in der Arbeitswelt, auf Schulhöfen oder im Internet – Mobbing tritt an vielen Stellen auf. Die körperlichen und psychischen Folgen müssen Mobbing-Opfer jedoch nicht einfach so hinnehmen. Wir klären Rechte und Ansprüche.
Mehr lesen

Das Arbeitszeugnis

Arbeitszeugnisse dienen dem beruflichen Fortkommen des Arbeitnehmers und helfen oft den Bewerbern in die engere Auswahl des Bewerberkreises zu gelangen.
Mehr lesen


Nach oben