Arbeitsrecht

Finanzieller Ausgleich für unionsrechtswidrige Zuvielarbeit eines Polizeibeamten

Aktenzeichen  2 C 5/21

Datum:
17.2.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2022:170222U2C5.21.0
Spruchkörper:
2. Senat

Leitsatz

Ob und inwieweit der Mitgliedstaat von der Ermächtigung in Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG zur Ausdehnung des Bezugszeitraums für die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit auf bis zu vier Monaten Gebrauch macht, ist Sache der gesetzgebenden Organe des Mitgliedstaates. Die Ausübung der Ermächtigung ist nicht den das Recht anwendenden nationalen Gerichten in dem Sinne überantwortet, dass diese den Bezugszeitraum nach dem Aspekt der “Sachgerechtigkeit” festlegen können (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung, BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 – 2 C 26.14 -).

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 15. September 2020, Az: 6 A 2634/18, Urteilvorgehend VG Gelsenkirchen, 13. Juni 2018, Az: 1 K 2081/14, Urteil

Tenor

Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. September 2020 wird aufgehoben. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13. Juni 2018 wird aufgehoben, soweit der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Polizeipräsidiums Bochum vom 9. April 2014 verurteilt wurde, dem Kläger für die im Zeitraum vom 29. bis 30. April 2011, vom 30. April bis 2. Mai 2011, vom 6. bis 7. Mai 2011 sowie vom 12. bis 15. Januar 2012 geleisteten Einsatzstunden weiteren Freizeitausgleich in Höhe von mehr als 13,16 Stunden zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.
Die Revision des Klägers wird im Übrigen zurückgewiesen.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens tragen der Kläger zu 3/4 und der Beklagte zu 1/4. Die Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens tragen der Kläger zu 9/20 und der Beklagte zu 11/20.

Tatbestand

1
Der Kläger steht als Polizeihauptkommissar (Besoldungsgruppe A 12 LBesO NRW) im Dienst des beklagten Landes. Er beansprucht über die ihm bereits gewährte Dienstbefreiung hinaus weiteren Freizeitausgleich für verrichteten Bereitschaftsdienst.
2
Der Kläger leistete Bereitschaftsdienst in mehreren sog. geschlossenen Polizeieinsätzen: vom 29. bis zum 30. April 2011 in Bremen, vom 30. April bis zum 2. Mai 2011 in Berlin, vom 6. bis zum 7. Mai 2011 in Köln und vom 12. bis zum 15. Januar 2012 in Stuttgart. Von den angefallenen Bereitschaftsdienstzeiten in Höhe von insgesamt 47 Stunden rechnete der Beklagte dem Kläger 23,5 Stunden als Arbeitszeit an.
3
Mit Schreiben vom Mai 2011 und vom Januar 2012 beantragte der Kläger die Anerkennung und Vergütung der restlichen 23,5 Stunden Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit. Das Polizeipräsidium Bochum lehnte dies mit Bescheid vom April 2014 ab. Nach der maßgebenden Verordnung über die Arbeitszeit der Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen (Arbeitszeitverordnung Polizei) sei Bereitschaftsdienst im Verhältnis 2:1 auszugleichen. Dieser Ausgleich sei erfolgt.
4
Ende April 2014 hat der Kläger Klage erhoben mit den Anträgen, den Beklagten zu verpflichten, die restlichen Zeiten der geleisteten Bereitschaftsdienste (Antrag zu 1) sowie zukünftig zu leistende Bereitschaftsdienstzeiten in sog. geschlossenen Einsätzen (Antrag zu 2) als Arbeitszeit in vollem Umfang anzuerkennen.
5
Nachdem der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erklärt hat, den in der Zeit von Februar 2012 bis Juni 2017 geleisteten Bereitschaftsdienst in sog. geschlossenen Einsätzen in gleicher Weise zu behandeln, wie es sich aus der rechtskräftigen Entscheidung im vorliegenden Streitverfahren ergibt, hat der Kläger den Antrag zu 2) zurückgenommen. Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid vom April 2014 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, die restlichen Zeiten der geleisteten Bereitschaftsdienste in der Zeit vom 29. April bis zum 2. Mai 2011, vom 6. bis zum 7. Mai 2011 und vom 12. bis zum 15. Januar 2012 als Arbeitszeit des Klägers anzuerkennen. Im Übrigen hat es das Verfahren eingestellt.
6
Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil des Verwaltungsgerichts auf die Berufung des Beklagten geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die in der maßgebenden Arbeitszeitverordnung Polizei bestimmte nur hälftige Anrechnung von Bereitschaftsdienstzeiten unterliege keinen zur Unanwendbarkeit der Vorschrift führenden unionsrechtlichen Bedenken. Der nationale Gesetzgeber dürfe außerhalb arbeitsschutzrechtlicher Zusammenhänge zwischen Bereitschaftsdienst und Volldienst unterscheiden und den Umfang des Freizeitausgleichs von der Intensität der Inanspruchnahme abhängig machen. Sei ein Polizeibeamter innerhalb der unionsrechtlich zulässigen Arbeitszeit von 48 Wochenstunden rechtmäßig zu Bereitschaftsdienst herangezogen worden, gebiete weder das Unionsrecht noch der Grundsatz aus Treu und Glauben, Freizeitausgleich in voller Höhe zu gewähren. Ein Fall von unionswidriger Zuvielarbeit liege nicht vor. In dem – vom Berufungsgericht selbst bestimmten – Bezugszeitraum von vier Monaten sei die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum von 48 Stunden nicht überschritten worden.
7
Hiergegen richtet sich die vom Senat wegen Divergenz zugelassene Revision des Klägers, mit der er beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. September 2020 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 13. Juni 2018 zurückzuweisen.
8
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

9
Die Revision ist zum Teil begründet. Das Berufungsurteil verletzt in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Die zur Ablehnung des unionsrechtlichen und des beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruchs führende Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Bestimmung des maßgeblichen Bezugszeitraums für die Feststellung der Einhaltung der unionsrechtlich zulässigen wöchentlichen Höchstarbeitszeit sei bei einem (noch) fehlenden innerstaatlichen Umsetzungsakt den nationalen Gerichten in eigener Kompetenz überlassen, beruht auf einem nicht richtlinienkonformen Verständnis des Art. 6 Buchst. b) und des Art. 16 Buchst. b) der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (RL 2003/88/EG) (1.). Das Berufungsurteil stellt sich insoweit auch nicht im Sinne des § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dar. Der Senat kann gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO die Entscheidung selbst treffen, weil es in der Sache keiner weiteren tatsächlichen Feststellungen bedarf (2.).
10
1. Nach Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit nach Maßgabe der Erfordernisse der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer die durchschnittliche Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreitet. Nach Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG können die Mitgliedstaaten für die Anwendung des Art. 6 RL 2003/88/EG (wöchentliche Höchstarbeitszeit) einen Bezugszeitraum von bis zu vier Monaten vorsehen.
11
a) Art. 16 RL 2003/88/EG (“Die Mitgliedstaaten können … vorsehen”) wendet sich an den Mitgliedstaat. Dieser ist zu der von Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG abweichenden Festlegung des Bezugszeitraums (“bis zu vier Monaten”) berechtigt, aber nicht verpflichtet. Ob und inwieweit der Mitgliedstaat von dieser Ermächtigung zu der für den Arbeitnehmer ungünstigen Ausdehnung des Bezugszeitraums auf bis zu vier Monaten Gebrauch macht, ist Sache der für die Rechtsetzung zuständigen Organe des Mitgliedstaates, weil nur sie die zur Umsetzung einer Richtlinie erforderlichen Rechtsnormen erlassen können. Die Ausübung der Ermächtigung ist nicht den das Recht anwendenden nationalen Gerichten in dem Sinne überantwortet, dass diese den Bezugszeitraum nach dem Aspekt der “Sachgerechtigkeit” festlegen können. Um die ihm eingeräumte Befugnis in Anspruch zu nehmen, muss der Mitgliedstaat auch die Entscheidung treffen, sich auf diese Ermächtigung zu berufen. Im Interesse der Rechtssicherheit muss diese Entscheidung des Mitgliedstaates bestimmt und klar sein (EuGH, Urteil vom 21. Oktober 2010 – C-227/09, Accardo – Slg. 2010, I-10273 Rn. 50 f. m.w.N. und Rn. 55). Fehlt es an einer innerstaatlichen Umsetzung der unionsrechtlichen Ermächtigung nach Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG bestimmt sich die Frage einer unionswidrigen Zuvielarbeit nach dem jeweiligen Siebentageszeitraum im Sinne von Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 17. September 2015 – 2 C 26.14 – Buchholz 232.0 § 87 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 57 und 59 und vom 20. Juli 2017 – 2 C 31.16 – BVerwGE 159, 245 Rn. 53 f.).
12
In dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebenden Zeitpunkt der Polizeieinsätze (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 – 2 C 18.20 – BVerwGE 172, 254 Rn. 16) im April und Mai 2011 sowie im Januar 2012 mangelte es an der unionsrechtlich erforderlichen Umsetzung im Sinne von Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG durch das beklagte Land als innerstaatlichem Normgeber.
13
Die auf der Grundlage des § 111 Abs. 3 des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (Landesbeamtengesetz – LBG NRW) vom 21. April 2009 (GV. NRW. S. 224 – LBG NRW 2009) erlassene Verordnung über die Arbeitszeit der Polizeivollzugsbeamten des Landes Nordrhein-Westfalen (AZVOPol) vom 15. August 1975 (GV. NRW. S. 532), geändert durch Art. 1 der Verordnung vom 12. November 2010 (GV. NRW. S. 614 – Arbeitszeitverordnung Polizei NRW a.F., AZVOPol NRW a.F.), sah keine von Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG abweichende Festlegung des Bezugszeitraums im Sinne von Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG für die Einhaltung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von Polizeivollzugsbeamten vor. Der Landesgesetzgeber hat erst mit der auf der Grundlage des § 110 Abs. 3 des Landesbeamtengesetzes vom 14. Juni 2016 (GV. NRW. S. 310 – LBG NRW 2016) erlassenen Bestimmung in § 3 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung über die Arbeitszeit der Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten im Land Nordrhein-Westfalen (Arbeitszeitverordnung Polizei – AZVOPol) vom 5. Mai 2017 (GV. NRW. S. 576 – AZVOPol NRW), in Kraft getreten am 1. Juli 2017, von der Ermächtigung des Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG Gebrauch gemacht und einen viermonatigen Bezugszeitraum für die Berechnung der durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden im Polizeivollzugsdienst bestimmt.
14
Auch die im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Einsätze geltende allgemeine Regelung über die Arbeitszeit von Beamten in § 60 Abs. 2 Satz 2 LBG NRW 2009 erstreckte den Bezugszeitraum auf ein Jahr anstatt – wie nach Art. 16 Buchst. b) RL 2003/88/EG grundsätzlich möglich – auf bis maximal vier Monate. Denn § 60 Abs. 2 Satz 2 LBG NRW 2009 bestimmt, dass bei Dienst in Bereitschaft 48 Stunden einschließlich Mehrarbeitsstunden im wöchentlichen Zeitraum im Jahresdurchschnitt nicht überschritten werden dürfen.
15
b) Die sonstigen Bestimmungen der Richtlinie 2003/88/EG, die zu einer Verlängerung des Bezugszeitraums führen können – nach Art. 19 Satz 2 RL 2003/88/EG bis zu zwölf Monate bei Festlegungen in Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen Sozialpartnern -, greifen ebenso wenig zu Gunsten des Beklagten ein. Art. 17 Abs. 3 Buchst. b) und Art. 18 RL 2003/88/EG setzen jeweils voraus, dass der Mitgliedstaat Regelungen im Sinne von Art. 16 RL 2003/88/EG erlassen hat, die den Anforderungen an die Umsetzung einer Richtlinie in nationales Recht im Sinne von Art. 288 Abs. 3 AEUV genügen. Daran fehlt es aber ebenso wie an dem Gebrauchmachen von den genannten Befugnissen (“sind … zulässig” und “kann abgewichen werden”) durch den Erlass einer für die Umsetzung erforderlichen Rechtsnorm des innerstaatlichen Normgebers (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. September 2015 – 2 C 26.14 – Buchholz 232.0 § 87 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 61 und vom 20. Juli 2017 – 2 C 31.16 – BVerwGE 159, 245 Rn. 56).
16
Da der Beklagte im Zeitpunkt der streitgegenständlichen Einsätze nicht von der Möglichkeit der Verlängerung des Bezugszeitraums auf bis zu vier Monate durch Erlass einer entsprechenden Rechtsnorm Gebrauch gemacht hat, bestimmt sich die Frage einer unionswidrigen Zuvielarbeit nach dem jeweiligen Siebentageszeitraum im Sinne von Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG.
17
2. Das die Klage in vollem Umfang abweisende Urteil des Oberverwaltungsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Die Leistungsklage des Klägers ist zum Teil begründet. Gegenstand der Leistungsklage ist der in der Berufungsverhandlung protokollierte (Bl. 178 der Gerichtsakte), gemäß § 88 VwGO sachdienlich zu fassende Antrag des Klägers, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids des Polizeipräsidiums Bochum vom 9. April 2014 zu verurteilen, ihm für die im April und Mai 2011 sowie im Januar 2012 geleisteten Bereitschaftsdienste weitere Dienstbefreiung (Freizeitausgleich) im Umfang von insgesamt 23,5 Stunden zu gewähren. Dieser geltend gemachte Anspruch steht dem Kläger nicht wegen geleisteter Mehrarbeit gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW 2009 zu (a). Der Kläger hat aber einen Anspruch auf weitere Dienstbefreiung im Umfang von 13,16 Stunden wegen unionswidriger Zuvielarbeit jedenfalls auf der Grundlage des beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruchs nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (b).
18
a) Gemäß § 61 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW 2009 ist einem Beamten innerhalb eines Jahres für die über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus geleistete Mehrarbeit entsprechende Dienstbefreiung zu gewähren, wenn er durch eine dienstlich angeordnete oder genehmigte Mehrarbeit mehr als fünf Stunden im Monat über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beansprucht wird.
19
Die allgemeine Bestimmung über Mehrarbeit in § 61 LBG NRW 2009 findet auch auf die Beamtengruppe der Polizeivollzugsbeamten Anwendung. Gemäß § 110 Abs. 1 LBG NRW 2009 gelten für Polizeivollzugsbeamte die Vorschriften des Landesbeamtengesetzes, soweit nach den nachfolgenden Bestimmungen der §§ 111 ff. LBG NRW 2009 nichts anderes bestimmt ist. So liegt es hier. Denn die auf der Grundlage des § 111 Abs. 3 LBG NRW 2009 erlassene Arbeitszeitverordnung Polizei NRW a.F. enthält – anders als nunmehr § 10 AZVOPol NRW – keine Regelung über Mehrarbeit. Allerdings sind die Voraussetzungen eines Anspruchs nach § 61 Abs. 1 Satz 2 LBG NRW 2009 nicht gegeben.
20
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss sich die Anordnung oder Genehmigung von Mehrarbeit auf konkrete und zeitlich abgegrenzte Mehrarbeitstatbestände beziehen. Nicht erforderlich ist, dass im Zeitpunkt der Anordnung oder Genehmigung die Anzahl der zu leistenden oder bereits geleisteten Mehrarbeitsstunden bereits bekannt ist. Auch ist nicht erforderlich, dass der Dienstherr bei einer nach den dienstlichen Notwendigkeiten gegebenenfalls von einer Mehrzahl von Beamten zu leistenden Mehrarbeit dies gegenüber jedem Beamten einzeln entscheidet und anordnet. Er darf die Mehrarbeit auch in einer Weisung – etwa einem Einsatzbefehl – anordnen, die eine Gruppe von Beamten oder gar alle der bei einem bestimmten Anlass einzusetzenden Beamten erfasst. Die schlichte Festlegung von Arbeitszeiten in Dienstplänen oder Schichtplänen reicht dagegen nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 – 2 C 18.20 – BVerwG 172, 254 Rn. 33 ff. m.w.N.).
21
Daran gemessen ist für die Einsätze des Klägers keine Mehrarbeit angeordnet oder genehmigt worden. Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) liegen andere Tatsachen oder Unterlagen als die Einsatzbefehle für die streitgegenständlichen Einsatzmaßnahmen nicht vor. Die informatorische Befragung der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung hat dies bestätigt. In den Einsatzbefehlen vom 26. April 2011, vom 28. April 2011, vom 3. Mai 2011 und vom 5. Januar 2012 ist keine Entscheidung über die Anordnung von Mehrarbeit getroffen worden. Sie enthalten keine Weisung des Inhalts, dass bereits mit dem jeweiligen Einsatzbefehl selbst sämtliche Überschreitungen der regelmäßigen Arbeitszeit als Mehrarbeit angeordnet sind. Die Entscheidung über Mehrarbeit blieb je nach den dienstlichen, einsatzabhängigen Notwendigkeiten einer weiteren, noch zu treffenden Anordnung des Einsatzführers überlassen.
22
b) Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf weitere Dienstbefreiung für die in Form von Bereitschaftsdienst geleistete rechtswidrige Zuvielarbeit in einem Umfang von 13,16 Stunden für den Einsatz im Januar 2012 auf der Grundlage des beamtenrechtlichen Ausgleichsanspruchs nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB); ein weitergehender Anspruch steht ihm nicht zu.
23
aa) Der Billigkeitsanspruch setzt eine rechtswidrige Inanspruchnahme des Beamten über die höchstens zulässige Arbeitszeit hinaus voraus (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. September 2011 – 2 C 32.10 – BVerwGE 140, 351 Rn. 8 und vom 26. Juli 2012 – 2 C 29.11 – BVerwGE 143, 381 Rn. 26). Er kommt aber nur für die rechtswidrige Zuvielarbeit in Betracht, die ab dem auf die erstmalige Geltendmachung folgenden Monat geleistet wurde. Diese Voraussetzungen sind hier erst ab Juni 2011 erfüllt.
24
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats setzt der beamtenrechtliche Ausgleichsanspruch voraus, dass der Berechtigte diesen gegenüber seinem Dienstherrn schriftlich geltend macht (Grundsatz der zeitnahen Geltendmachung). Ansprüche, deren Festsetzung und Zahlung sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben, bedürfen einer vorherigen Geltendmachung (BVerfG, Beschluss vom 22. März 1990 – 2 BvL 1/86 – BVerfGE 81, 363 ; BVerwG, Urteile vom 26. Juli 2012 – 2 C 29.11 – BVerwGE 143, 381 Rn. 27 und vom 29. September 2011 – 2 C 32.10 – BVerwGE 140, 351 Rn. 19). Denn hier ist eine vorgängige Entscheidung über Grund und Höhe der begehrten Zahlung erforderlich. Für Ansprüche wegen rechtswidriger Zuvielarbeit gilt dies in besonderer Weise. Diese sind nicht primär auf die Zahlung eines finanziellen Ausgleichs gerichtet, sondern auf die Beseitigung des rechtswidrigen Zustands. Für den Beamten folgt aus der beamtenrechtlichen Treuepflicht die Obliegenheit, seinen Dienstherrn mit einem auf eine solche Behauptung gestützten Anspruch alsbald zu konfrontieren, um ihm die Möglichkeit zu geben zu reagieren (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. November 2008 – 2 C 16.07 – Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 101 Rn. 21). Dadurch ist zunächst eine Prüfung seines Dienstherrn veranlasst, ob eine Änderung der Arbeitszeitgestaltung erforderlich ist und ob eine rechtswidrige Zuvielarbeit – etwa durch Anpassung der maßgeblichen Dienstpläne – vermieden oder durch die Gewährung von Freizeitausgleich kompensiert werden kann. Auch hinsichtlich der möglichen finanziellen Ausgleichspflicht hat der Dienstherr ein berechtigtes Interesse daran, nicht nachträglich mit unvorhersehbaren Zahlungsbegehren konfrontiert zu werden (BVerwG, Urteil vom 21. September 2006 – 2 C 5.06 – Buchholz 240 § 40 BBesG Nr. 38 Rn. 15).
25
Der Beamte wird durch das Erfordernis der schriftlichen Geltendmachung des Anspruchs gegenüber seinem Dienstherrn nicht unzumutbar belastet. Denn an die Rüge des Berechtigten sind keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Es reicht aus, wenn sich aus der schriftlichen Äußerung ergibt, dass der Beamte mit der jeweiligen Situation – hier dem Umfang der Arbeitszeit – nicht einverstanden ist. Weder ist ein Antrag im rechtstechnischen Sinne erforderlich noch muss Freizeitausgleich, hilfsweise finanzieller Ausgleich, beantragt oder der finanzielle Ausgleich konkret berechnet werden. Der Beamte kann dem Erfordernis der schriftlichen Geltendmachung in jeder beliebigen Textform gerecht werden, etwa auch per E-Mail (BVerwG, Urteile vom 27. Mai 2010 – 2 C 33.09 – Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 117 Rn. 15, vom 26. Juli 2012 – 2 C 29.11 – BVerwGE 143, 381 Rn. 27, vom 17. September 2015 – 2 C 26.14 – Buchholz 232.0 § 87 BBG 2009 Nr. 1 Rn. 29 und vom 19. April 2018 – 2 C 40.17 – BVerwGE 161, 377 Rn. 29).
26
Der Kläger hat erst nach seinen Einsätzen Ende April und Anfang Mai 2011 mit seinen Schreiben vom 12. Mai 2011, bei dem Beklagten am 18. Mai 2011 eingegangen, erklärt, dass er den Umfang seiner Arbeitszeit nicht akzeptiert. Nach Wortlaut und Sinnzusammenhang (§ 133 BGB analog) hat der Kläger mit diesen Schreiben hinreichend deutlich gemacht, dass er die Anerkennung von Bereitschaftsdienstzeiten als Arbeitszeit nicht nur für die Einsätze in der Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft geltend macht. Er hat zur Begründung seiner Anträge unter Berufung auf obergerichtliche Rechtsprechung ausgeführt, dass es nach EU-Gemeinschaftsrecht geboten sei, Bereitschaftsdienst in vollem Umfang in die Arbeitszeit einzubeziehen. Es ging dem Kläger ersichtlich auch darum, den Dienstherrn dazu anzuhalten, diese Rechtsprechung zu beachten und zukünftig die Arbeitszeit ihrem Umfang nach unionsrechts- und rechtskonform zu planen und zu gestalten. Damit hat er seiner Rügeobliegenheit genügt.
27
bb) Der geltend gemachte Anspruch ist für den nach der Rüge des Klägers geleisteten Bereitschaftsdienst im Polizeieinsatz in Stuttgart im Januar 2012 dem Grunde nach gegeben. Ein Fall der Zuvielarbeit über die Grenze der wöchentlichen Höchstarbeitszeit gemäß Art. 6 Buchst. b) RL 2003/88/EG liegt vor. Nach den den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich der Umfang der vom Kläger geleisteten Arbeitszeit aus den vom Beklagten vorgelegten Screenshots der digitalen Arbeitszeiterfassung (DMS-Datenbank). Danach hat der Kläger in der 2. Kalenderwoche 2012 (9. bis 15. Januar 2012) neben dem Normaldienst in der Zeit vom 9. bis zum 11. Januar 2012 von insgesamt 25 Stunden in der Zeit seines Einsatzes in Stuttgart vom 12. bis zum 15. Januar 2012 weitere 53,5 Stunden Volldienst und 26,5 Stunden Bereitschaftsdienst verrichtet. Damit hat er anstelle der unionsrechtlich zulässigen 48 Wochenstunden in dem hier maßgebenden Siebentageszeitraum (vgl. I. 1.) 105 Stunden als Arbeitszeit anzuerkennenden Dienst geleistet.
28
Unter Arbeitszeit ist nach Art. 2 Nr. 1 RL 2003/88/EG jede Zeitspanne zu verstehen, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unterfallen dieser Begriffsbestimmung auch Zeiten des Bereitschaftsdienstes – einschließlich der “inaktiven Zeiten” – ohne Abstriche als Arbeitszeit, wenn sich der Beamte an einem vom Dienstherrn bestimmten Ort aufhalten und diesem zur Verfügung stehen muss, um gegebenenfalls sofort geeignete Leistungen erbringen zu können (vgl. EuGH, Urteile vom 9. September 2003 – C-151/02, Jaeger – Slg. 2003, I-8415 Rn. 63, vom 5. Oktober 2004 – C-397/01 u.a., Pfeiffer u.a. – Slg. 2004 I-8878 Rn. 93, vom 1. Dezember 2005 – C-14/04, Dellas – Slg. 2005, I-10279 Rn. 48 und vom 21. Februar 2018 – C-518/15, Matzak – NJW 2018, 1073 Rn. 59, vom 9. März 2021 – C-344/19, Radiotelevizija Slovenija – NZA 2021, 485 Rn. 35 und – C-580/19, Stadt Offenbach am Main – NZA 2021, 489 Rn. 36; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 – 2 C 18.20 – BVerwGE 172, 254 Rn. 27 ff.).
29
Daran gemessen ist der vom Kläger bei der Einsatzmaßnahme in Stuttgart geleistete Bereitschaftsdienst in vollem Umfang als Arbeitszeit in die Berechnung der wöchentlichen Arbeitszeit pro Siebentageszeitraum einzubeziehen. Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (§ 137 Abs. 2 VwGO) musste sich der Kläger während des Bereitschaftsdienstes an einem vom Dienstherrn bestimmten Ort in Stuttgart aufhalten, um bei Bedarf jederzeit zum Einsatz bereit zu sein.
30
cc) Der für diese Einsatzmaßnahme in Stuttgart noch zuzusprechende Anspruch auf weiteren Freizeitausgleich beläuft sich der Höhe nach auf 13,16 Stunden. Nach den den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich der Umfang des Arbeitszeitguthabens des Klägers aus dem DMS-Auszug seines Arbeitszeitkontos für den Monat Januar 2012, den der Beklagte vorgelegt hat. Danach sind für die 2. Kalenderwoche 2012 “lediglich” 91,44 Stunden als Arbeitszeit des Klägers gebucht worden. Im Vergleich zu den als Arbeitszeit anzuerkennenden 105 Stunden besteht eine Differenz von 13,16 Stunden, die noch in Freizeit auszugleichen ist.
31
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. September 2011 – 2 C 32.10 – BVerwGE 140, 351 Rn. 15 ff., vom 26. Juli 2012 – 2 C 29.11 – BVerwGE 143, 381 Rn. 30 f., 36 f., 40 und vom 19. April 2018 – 2 C 40.17 – BVerwGE 161, 377 Rn. 43 sowie Beschluss vom 20. Oktober 2020 – 2 B 36.20 – Buchholz 451.90 Sonstiges Europäisches Recht Nr. 238 Rn. 24) ist der beamtenrechtliche Ausgleichsanspruch wegen unionsrechtswidriger Zuvielarbeit primär auf angemessenen Ausgleich in Freizeit gerichtet. Als angemessen ist der zeitliche Ausgleich von unionswidriger Zuvielarbeit grundsätzlich dann anzusehen, wenn er ebenso lang ist wie der zuvor geleistete rechtswidrig geforderte Dienst (Ausgleich 1:1); Zeiten des Bereitschaftsdienstes sind in vollem Umfang auszugleichen. Dieser Anspruch wandelt sich nur dann in einen solchen auf finanziellen Ausgleich (Geldanspruch in Anlehnung an das Mehrarbeitsrecht) um, wenn der Gewährung des Freizeitausgleichs innerhalb eines Jahreszeitraums nach seiner Anerkennung zwingende dienstliche Gründe entgegenstehen. Solche Gründe hat der Beklagte hier nicht dargetan.
32
dd) Angemerkt sei, für die Höhe des Ausgleichsanspruchs ist ohne Belang, dass die Regelung in § 3 Abs. 3 Satz 3 AZVOPol NRW a.F. nur einen hälftigen Ausgleich von Bereitschaftsdienstzeiten vorsieht. Zwar darf der nationale Gesetzgeber außerhalb arbeitsschutzrechtlicher Zusammenhänge zwischen Bereitschaftsdienst und Volldienst unterscheiden und den Umfang des Freizeitausgleichs von der Intensität der Inanspruchnahme abhängig machen (BVerwG, Urteil vom 29. April 2021 – 2 C 18.20 – BVerwG 172, 254 Rn. 40). Hier liegt aber ein arbeitsschutzrechtlicher Fall der unionsrechtswidrigen Zuvielarbeit vor, die in vollem Umfang auszugleichen ist. Eine dem widersprechende verordnungsrechtliche Arbeitszeitbestimmung ist unionsrechtswidrig und hat deshalb außer Anwendung zu bleiben.
33
Daneben steht dem Kläger für die unionsrechtswidrig geleistete Zuvielarbeit der unionsrechtliche Haftungsanspruch zu, der zu derselben Rechtsfolge führt.
34
3. Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren und das Revisionsverfahren folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO; für das erstinstanzliche Verfahren aus § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO. Die Kostenentscheidung ist in Abweichung von der verkündeten Formel wegen einer offensichtlichen Unrichtigkeit (Zahlendreher) berichtigt worden (§ 118 VwGO in entsprechender Anwendung).


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