Arbeitsrecht

Freizügigkeit, Verlustfeststellung, nicht erwerbstätige Unionsbürger, Inanspruchnahme von Sozialleistungen, Familienangehörige / Ehegatte

Aktenzeichen  M 12 K 20.555

Datum:
22.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 25089
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 5 Abs. 4
FreizügG/EU § 2 Abs. 2
FreizügG/EU § 4
RL 2004/38/EG Art. 7
AEUV Art. 21 Abs. 1
FreizügG/EU § 4a
FreizügG/EU § 3a Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 22. Juli 2021 entschieden werden, obwohl der Kläger nicht erschienen ist. Denn in der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Der Kläger wurde auch unter Wahrung einer Ladungsfrist von mindestens zwei Wochen geladen (§ 102 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Die in Nr.1 des angefochtenen Bescheides ausgesprochene Feststellung der Beklagten, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU verloren hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern – FreizügG/EU – ist § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU. Danach kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eines Unionsbürgers festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht vorliegen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob eine Freizügigkeitsberechtigung vorliegt, ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02).
(1) Der Kläger ist als griechischer Staatsangehöriger zwar Unionsbürger; er ist jedoch nicht freizügigkeitsberechtigt. Die Freizügigkeitsberechtigung ist vielmehr innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen.
(a) Eine – an keine weiteren Voraussetzungen geknüpfte – Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU scheidet vorliegend aus, da der Kläger sich bereits seit über 10 Jahren in Deutschland aufhält.
(b) Auch eine auf § 2 Abs. Nr. 1 FreizügG/EU gestützte Freizügigkeitsberechtigung des Klägers als Arbeitnehmer besteht nicht, da der Kläger bereits seit dem 29. März 2014 (mithin seit über 7 Jahren) keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen ist.
Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 bzw. Satz 2 FreizügG/EU bleibt die Freizügigkeitsberechtigung für Arbeitnehmer zwar unter bestimmten Voraussetzungen trotz Beendigung des Arbeitsverhältnisses unberührt: So etwa im Falle unfreiwilliger, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung für die Dauer von sechs Monaten (§ 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU), nach mehr als einem Jahr Tätigkeit sogar ohne pauschale zeitliche Höchstgrenze (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU), solange der Unionsbürger erwerbsfähig ist und sich in Hinblick auf eine neue Beschäftigung der Agentur für Arbeit zur Verfügung stellt.
Zwar war der Kläger zuletzt (nämlich vom 1. April 2012 bis zum 28. März 2014) mehr als ein Jahr lang beschäftigt. Jedoch liegt weder eine Bestätigung der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit durch die Agentur für Arbeit vor noch hat er – trotz mehrfacher Aufforderung durch die Beklagte – für den nachfolgenden Zeitraum Nachweise vorgelegt, dass er sich nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses der Agentur für Arbeit in Hinblick auf eine neue Beschäftigung zur Verfügung gestellt hat. Ein Fortgelten der Erwerbstätigeneigenschaft nach § 2 Abs. 3 Satz 1 FreizügG/EU kommt damit vorliegend nicht in Betracht.
(c) Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhalten, freizügigkeitsberechtigt: Ohne weitere Nachweise/Voraussetzungen zunächst für bis zu sechs Monate, darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.
Vorliegend hat der Kläger – trotz mehrfacher Aufforderung durch die Beklagte – keine Nachweise erbracht, dass er sich – trotz bereits seit über sieben Jahren andauernder Arbeits- und Erwerbslosigkeit – weiterhin um eine Beschäftigung bemüht, sprich derzeit arbeitssuchend ist.
Zudem sind die Aussichten des Klägers, wieder eine Arbeit zu finden – wie der Kläger selbst anführt – angesichts seines schlechten Gesundheitszustandes, seines fortgeschrittenen Alters sowie seiner langen Erwerbslosigkeit als äußerst gering einzuschätzen, so dass auch eine begründete Aussicht, eingestellt zu werden, verneint werden muss.
(d) Eine selbstständige Erwerbstätigkeit i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 2 bzw. Nr. 3 FreizügigG/EU ist weder vorgetragen worden noch ersichtlich.
(e) Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger jedoch auch losgelöst von einer Erwerbstätigeneigenschaft bzw. sonstiger wirtschaftlicher Tätigkeit freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz sowie ausreichende Existenzmittel verfügen. Damit soll sichergestellt werden, dass der einreisende Unionsbürger die Sozialhilfe des Aufnahmestaates nicht in Anspruch nehmen muss (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris Rn. 21).
Dies darf jedoch nicht dahingehend ausgelegt werden, dass allein die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Aufenthaltsstaat automatisch und ohne Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls den sofortigen Verlust der materiellen Freizügigkeitsberechtigung nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU, Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38/EG zur Folge hat, wie etwa die entsprechenden Ausführungen der Beklagten zu § 4 FreizügG/EU im Rahmen der Begründung des angefochtenen Bescheids vermuten lassen. Ein derartig pauschalisierender Automatismus wäre eine unverhältnismäßige und folglich unzulässige Einschränkung der in Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährten unionsbürgerlichen Freizügigkeit. So sind Einschränkungen der Freizügigkeit zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Sozialsysteme des jeweiligen Mitgliedsstaates zwar prinzipiell zulässig. Jedoch darf die hierfür vorgenommene Einschränkung der unionsbürgerlichen Freizügigkeit entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht derart pauschal umgesetzt werden, dass der Unionsbürger automatisch und ohne Berücksichtigung weiterer Umstände sein Aufenthaltsrecht verliert, sobald er Sozialleistungen bezieht. Vielmehr bedarf es hierfür einer einzelfallbezogenen Abwägung (EuGH, U.v. 17.9.2001 – Rs C-413/99 – Baumbast – ECLI:ECLI:EU:C:2002:493). In diesem Zusammenhang ist – vergleichbar etwa der im Rahmen von Art. 14 Abs. 1, Art. 6 RL 2004/38/EG zur Frage der “Unangemessenheit” der Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen vorgenommenen Prüfung – insbesondere zu berücksichtigen: Die (absehbare) Dauer der Inanspruchnahme, sprich die Frage, ob die die Inanspruchnahme begründenden finanziellen Schwierigkeiten nicht nur vorübergehender Natur sind, sowie die Höhe des gewährten Sozialhilfebetrages. Des Weiteren die konkreten persönlichen Umstände des Betroffenen, aus welchen sich dessen Hilfsbedürftigkeit ergibt sowie die Aufenthaltsdauer (vgl. etwa EuGH, U.v. 7.9.2004 – C-456/02). Insbesondere darf eine Bewertung nicht ohne eine umfassende Beurteilung der Frage vorgenommen werden, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14). Eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU (bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. b) RL 2004/38 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 AEUV) darf demnach insbesondere nur dann verneint werden, wenn die staatliche Unterstützung nicht nur zur vorübergehenden Überbrückung einer finanziellen Notlage dient und der Betroffene ohne eine Ausnahme vom Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit rechtfertigenden Grund sozialhilfebedürftig wurde bzw. bleibt (vgl. EuGH, U.v. 7.9.2004 – Trojani, C-456/02 – ECLI:ECLI:EU:C:2004:488).
Unter Berücksichtigung sämtlicher soeben genannter Gesichtspunkte ist eine Freizügigkeitsberechtigung gem. § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU vorliegend zu verneinen.
Der Kläger ist bereits seit dem 29. März 2014 und somit seit über sieben Jahren auf staatliche Sozialleistungen zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts angewiesen, zunächst viele Jahre in Form von Leistungen nach dem SGB II, seit 1. April 2019 in Form von Leistungen nach dem SGB XII. Angesichts der Tatsache, dass es dem Kläger bereits in der Vergangenheit – trotz über zehnjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik – nicht gelungen ist, sich hier wirtschaftlich zu integrieren sowie angesichts des schlechten Gesundheitszustandes sowie des fortgeschrittenen Alters des Klägers erscheint es zudem derzeit nicht wahrscheinlich, dass sich der Kläger demnächst aus eigener Kraft mittels der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit aus dem Zustand der Hilfsbedürftigkeit befreien und nicht mehr auf Sozialleistungen angewiesen sein wird. Auch eine finanzielle Unterstützung durch seine Ehefrau, welche ebenfalls bereits seit langem auf Sozialleistungen angewiesen ist und für die angesichts deren Alters und Gesundheitszustandes sowie ihrer langen Erwerbslosigkeit die gleiche Prognose wie für den Kläger aufzustellen ist, ist nicht absehbar.
Des Weiteren war zu berücksichtigen, dass der Kläger erst mit 57 Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt von Griechenland nach Deutschland verlagerte, mithin in einem Alter, in welchem bekanntermaßen die Aussichten auf eine Beschäftigung, insbesondere ohne besondere Qualifikation, zunehmend rapide geringer werden.
Ferner war zu berücksichtigen, dass der Kläger, obwohl er bereits seit Ende März 2014 keiner Erwerbstätigkeit nachging, keine Anstrengungen unternommen hat, eine neue Beschäftigung zu finden. Entsprechende Nachweise wurden trotz Aufforderung seitens der Beklagten vom Kläger nicht vorgelegt.
Auch die Aussage des Klägers, er habe Schmerzen in den Beinen und finde deshalb keine Arbeit, stellt – davon abgesehen, dass der Kläger trotz mehrfacher Aufforderung bereits keine ärztlichen Atteste bzw. sonstigen Unterlagen als Nachweis etwa für eine Erwerbsminderung/Erwerbsunfähigkeit vorgelegt hat – keinen außergewöhnlichen, eine Ausnahme vom Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit rechtfertigenden Grund für die Bedürftigkeit dar. Insoweit ist nicht vorgetragen bzw. anderweitig ersichtlich ist, dass die gesundheitlichen Beschwerden erst durch ein außergewöhnliches, unverschuldetes Ereignis in Deutschland, wie etwa einen Unfall o. Ä. entstanden sind, so dass vielmehr angenommen werden muss, dass etwaige Schmerzen aus natürlichen, generell mit dem Älterwerden bzw. aus in der Vergangenheit ausgeübten Tätigkeiten herrührenden Verschleißerscheinungen resultieren, die bereits vor der Ankunft in Deutschland angelegt waren.
(f) Es ergibt sich auch keine Freizügigkeitsberechtigung des Klägers aus § 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU als Empfänger von Dienstleistungen.
Empfängt der Unionsbürger Dienstleistungen – wie vorliegend – nur bei Gelegenheit eines längerfristigen Aufenthalts, liegt ein Fall der allgemeinen Freizügigkeit vor, § 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU ist in diesem Fall insoweit nicht einschlägig. Mit der Verlegung des Wohnsitzes oder der Begründung eines Daueraufenthalts endet die Berufung auf die Dienstleistungsfreiheit (EuGH, U.v. 5.10.1988 – Steymann, Rs. 196/87 – BeckRS 2004, 72174).
Angesichts der Tatsache, dass sich der Kläger bereits seit über 10 Jahren in der Bundesrepublik aufhält, ohne dass der Hauptzweck seines Aufenthalts in der Inanspruchnahme spezifischer, über elementare, an jedem Ort erforderliche Dienstleistungen liegt, und er zudem bereits seit April 2014 Sozialleistungen für die Deckung seines Existenzminimums in Anspruch nimmt, ist vorliegend auch eine auf § 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU gestützte Freizügigkeitsberechtigung zu verneinen.
(g) Auch über seine Ehefrau, welche ebenfalls griechische Staatsangehörige und damit Unionsbürgerin ist, vermag der Kläger keine akzessorische Freizügigkeitsberechtigung gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6, § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU abzuleiten, da die Ehefrau des Klägers ebenfalls nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 5 FreizügG/EU bzw. des Art. 7 Abs. 1 lit. a) bis c) RL 2004/38 erfüllt.
Da die Ehefrau des Klägers bereits seit 1. November 2011, mithin seit über neun Jahren keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen ist, zudem – nach eigener Aussage – private Anstrengungen, einen Arbeitsplatz zu erhalten, aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes und ihres fortgeschrittenen Alters fehlgeschlagen sind und sie darüber hinaus – trotz mehrfacher Aufforderung seitens der Beklagten – keine Nachweise über etwaige Bemühungen, eine neue Beschäftigung zu finden, vorgelegt hat, erfüllt sie nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. Nr. 1 und Nr. 1a FreizügG/EU.
Da die letzte, nur knappe sechs Monate andauernde Beschäftigung der Ehefrau des Klägers bereits am 30. September 2011 endete und sie seitdem keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt hat, sind insbesondere auch nicht die Voraussetzungen für eine Fortgeltung des Arbeitnehmerstatus gegeben, da selbst unter Rückgriff auf die Fortgeltungswirkung des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU ein etwaiger Arbeitnehmerstatus der Ehefrau jedenfalls sechs Monate nach Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses Ende März 2012 entfallen ist.
Die Ehefrau des Klägers erfüllt auch nicht die für nicht erwerbstätige Unionsbürger geltenden Voraussetzungen für eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU.
Die Ehefrau ist bereits seit dem 1. November 2011 und somit seit über neun Jahren auf staatliche Sozialleistungen zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts angewiesen, zunächst viele Jahre in Form von Leistungen nach dem SGB II, seit 1. Februar 2020 nach dem SGB XII. Angesichts der Tatsache, dass es der Ehefrau bereits in der Vergangenheit – trotz über zehnjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik – nicht gelungen ist, sich hier wirtschaftlich zu integrieren sowie angesichts der gesundheitlichen Einschränkungen sowie des fortgeschrittenen Alters der Ehefrau erscheint es zudem derzeit nicht wahrscheinlich, dass diese sich demnächst aus eigener Kraft mittels der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit aus dem Zustand der Hilfsbedürftigkeit befreien und nicht mehr auf Sozialleistungen angewiesen sein wird. Auch eine finanzielle Unterstützung durch den Kläger ist nicht absehbar.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Ehefrau des Klägers erst mit 52 Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt von Griechenland nach Deutschland verlagerte, mithin in einem Alter, in welchem bekanntermaßen die Aussichten auf eine Beschäftigung, insbesondere ohne besondere Qualifikation, zunehmend rapide geringer werden. Ferner, dass die Ehefrau bereits wenige Monate nach ihrer Einreise (21. Juni 2010), nach kurzzeitiger geringfügiger Beschäftigung, (bis heute) Sozialleistungen in Anspruch nehmen musste, seitdem keiner Erwerbstätigkeit mehr nachging und keine Anstrengungen unternommen hat, eine neue Beschäftigung zu finden. Entsprechende Nachweise wurden trotz mehrfacher Aufforderung seitens der Beklagten von der Ehefrau nicht vorgelegt.
Auch die Tatsache, dass die Ehefrau ausweislich der vorgelegten ärztlichen Berichte und Atteste bereits seit Jahren an Schmerzen, insbesondere im Rücken sowie den Beinen leidet, stellt keinen außergewöhnlichen, eine Ausnahme vom Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit rechtfertigenden Grund für die Bedürftigkeit dar. Zum einen ergibt sich aus keiner der – auf entsprechende Aufforderung hin – vorgelegten ärztlichen Unterlagen eine Erwerbsminderung (bzw. Erwerbsunfähigkeit) der Ehefrau des Klägers, die es rechtfertigen würde, keine weiteren Versuche, eine neue Beschäftigung zu finden oder eine andere Erwerbstätigkeit aufzunehmen, zu unternehmen und hierdurch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu beenden bzw. zumindest zu verringern. Zum anderen war zu berücksichtigen, dass die gesundheitlichen Beschwerden nicht etwa erst durch ein außergewöhnliches, unverschuldetes Ereignis in Deutschland, wie etwa einem Unfall o. Ä. entstanden sind, sondern vielmehr aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen hervorgeht, dass die gesundheitlichen Beschwerden der Ehefrau bereits jedenfalls wenige Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland vorlagen, was die Vermutung nahe legt, dass die Ehefrau bereits in Kenntnis derselben nach Deutschland übersiedelte und damit zumindest billigend in Kauf nahm, dass sie bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit bzw. der Suche nach einer Beschäftigung hierdurch gehandicapt sein würde.
Auch erfüllt die Ehefrau des Klägers – aus denselben Gründen wie der Kläger – nicht die Voraussetzungen für eine Freizügigkeitsberechtigung gem. § 2 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU für Unionsbürger als Empfänger von Dienstleistungen (s.o.), da sie sich bereits seit über zehn Jahren in der Bundesrepublik aufhält, ohne dass der Hauptzweck ihres Aufenthalts in der Inanspruchnahme spezifischer, über elementare, an jedem Ort erforderliche Dienstleistungen liegt und sie zudem bereits seit November 2011 Sozialleistungen für die Deckung ihres Existenzminimums in Anspruch nimmt. Auf die Ausführungen im Urteil vom 22. Juli 2021 im Verfahren M 12 K 20.556 wird im Übrigen verwiesen.
(h) Der Kläger hat des Weiteren – trotz seines über 10 Jahre andauernden Aufenthalts in der Bundesrepublik – kein Daueraufenthaltsrecht gem. § 2 Abs. 2 Nr. 7, § 4a FreizügG/EU erworben.
Gemäß § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (sog. Daueraufenthaltsrecht). Entscheidend ist demnach nicht die Dauer des tatsächlichen Aufenthaltes. Vielmehr kommt es darauf an, dass der Kläger über einen zusammenhängenden Zeitraum von fünf Jahren durchgehend (materiell) freizügigkeitsberechtigt war.
Dies war vorliegend jedoch nicht der Fall.
So hat der Kläger eine nach Einreise zunächst bestehende materielle Freizügigkeitsberechtigung erstmals jedenfalls zum 24. Februar 2012 verloren, da für diesen Zeitpunkt bestandskräftig festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht vorliegen, der Kläger somit jedenfalls zu diesem Zeitpunkt seine Berechtigung bereits verloren hatte. Hierdurch wurde der Zeitraum der Freizügigkeitsberechtigung unterbrochen, so dass der Zeitraum zwischen der Einreise des Klägers am 21. Juni 2010 und dem 24. Februar 2012 (etwa ein Jahr und acht Monate und damit unter fünf Jahre) außer Acht zu lassen war.
Zwar wurde der Kläger mit Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses ab April 2012 gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 FreizügG/EU wieder freizügigkeitsberechtigt. Jedoch entfiel eine auf eine Erwerbstätigkeit gestützte Freizügigkeitsberechtigung nach Ende des etwas mehr als ein Jahr und 11 Monate dauernden Arbeitsverhältnisses (28. März 2014). Ein Fortgelten der Erwerbstätigeneigenschaft nach § 2 Abs. 3 Satz 1 FreizügG/EU ist – wie oben ausgeführt – vorliegend nicht gegeben.
Auch unter Berücksichtigung des Zeitraums von sechs Monaten zur Arbeitssuche (§ 2 Abs. 2 Nr. 1a FeizügG/EU) erreicht der Kläger keine durchgehende Freizügigkeitsberechtigung von fünf Jahren. Anstrengungen, über diesen Zeitraum hinaus eine neue Beschäftigung zu finden bzw. eine sonstige Erwerbstätigkeit auszuüben, hat er trotz Aufforderung nicht nachgewiesen (s.o.).
Eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 und 5 FreizügG/EU bestand ebenfalls nicht (s.o.).
Auch die Voraussetzungen des § 4a Abs. 2 FreizügG/EU, wonach abweichend von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU ein Daueraufenthaltsrecht bereits vor Erreichung des 5-Jahres-Zeitraums durchgehend bestehender Freizügigkeitsberechtigung begründet werden kann, sind vorliegend nicht gegeben.
(i) Eine materielle Freizügigkeitsberechtigung des Klägers ergibt sich vorliegend auch nicht unmittelbar aus Unionsrecht, insbesondere nicht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV.
Nach alledem ist der Kläger derzeit nicht freizügigkeitsberechtigt. Seine Freizügigkeitsberechtigung ist vielmehr innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen. Damit sind die Tatbestandsvoraussetzungen für die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU erfüllt.
(2) Die Beklagte hat zudem das ihr durch § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU eingeräumte Ermessen, den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt i.S.v. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festzustellen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen, gemäß Art. 40 BayVwVfG dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung entsprechend ausgeübt.
§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU stellt – bei Verlust der Freizügigkeitsberechtigung – die Feststellung des Aufenthaltsrechtsverlustes, welche wiederum die Grundlage für die Begründung der Ausreisepflicht gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU bildet, ins Ermessen der Beklagten. Der Gesetzgeber geht hierbei nicht von einem Regel- / Ausnahmeverhältnis aus, wonach der materielle Verlust zwingend oder auch nur regelmäßig einen formellen Verlust nach sich zieht, sondern sieht ein offenes Ermessen vor. Insoweit muss die Ausländerbehörde einzelfallbezogen begründen, was neben dem materiellen Wegfall der Freizügigkeitsberechtigung für die Verlustfeststellung und damit die Begründung einer Ausreisepflicht spricht und im Rahmen einer umfassenden Abwägung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes die privaten Interessen des Unionsbürgers an einem Verbleib im Bundesgebiet mit dem öffentlichen Interesse an einer Verlustfeststellung bzw. Ausreisepflicht miteinander abwägen.
Das Gericht konnte die Entscheidung der Beklagten insoweit nur daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des durch § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU eingeräumten Ermessens eingehalten sind und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 114 Satz 1 VwGO). Relevante Ermessensfehler im Hinblick auf die Entscheidungsfindung liegen insbesondere dann vor, wenn die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen entweder gar nicht ausgeübt hat, da sie die Einräumung nicht erkannt oder sich im vorliegenden Fall irrtümlicherweise für gebunden hält (sog. Ermessensnichtgebrauch) bzw. ihr Ermessen zwar ausübt, es aber nicht voll ausschöpft (sog. Ermessensunterschreitung). Des Weiteren, wenn die Behörde nicht alle Gesichtspunkte, die nach dem Zwecke der Ermächtigung, insbesondere aufgrund unionsrechtlicher oder grundrechtlicher Vorgaben, zu berücksichtigenden sind, in ihrer Entscheidung einstellt und gewichtet (sog. Ermessensdefizit) oder umgekehrt Gesichtspunkte berücksichtigt, die dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechen (sog. Ermessensmissbrauch). In Bezug auf den Inhalt der getroffenen Entscheidung (sprich: die seitens der Behörde gewählte Rechtsfolge) sind Ermessensfehler insbesondere gegeben, wenn die Behörde sich für eine Rechtsfolge entscheidet, die außerhalb ihres Ermessensspielraums liegt (sog. Ermessensüberschreitung), etwa weil sie im konkreten Fall einen unverhältnismäßigen Eingriff in (freiheits) grundrechtliche oder unionsrechtlich geschützte subjektive Rechte des Betroffenen darstellt, Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG.
Vorliegend hat die Beklagte gemäß Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG im Rahmen der Begründung des angefochtenen Bescheids sowie – nach Vorlage der ärztlichen Unterlagen seitens der Ehefrau des Klägers – gemäß § 114 Satz 2 VwGO ergänzend im gerichtlichen Verfahren hinreichend dargelegt, dass und wie sie ihr Ermessen ausgeübt hat sowie welche Gesichtspunkte sie hierbei berücksichtigt hat.
Die Beklagte hat im Rahmen ihrer Ermessensausübung sämtliche relevanten öffentlichen Interessen an der Verlustfeststellung sowie privaten Belange des Klägers am Verbleib im Bundesgebiet in den Abwägungsprozess eingestellt und zutreffend gewichtet.
Auch dass die Beklagte in Ausübung ihres Ermessens zu dem Ergebnis gelangt ist, dass das öffentliche Interesse, den Verlust des Freizügigkeitsrechts mit der Folge der Ausreisepflicht festzustellen, das private Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib in Deutschland überwiegt, ist vorliegend nicht zu beanstanden.
Im Hinblick auf eine ermessensfehlerfreie Gewichtung des Bleibeinteresses des Klägers hat die Beklagte hierbei insbesondere berücksichtigt, inwieweit der Kläger mittlerweile in der Bundesrepublik wirtschaftlich sowie sozial verwurzelt ist, insbesondere im Hinblick auf Art. 8 EMRK über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt sowie inwieweit noch eine Beziehung zu seinem Heimatland Griechenland besteht und eine Rückkehr dorthin zumutbar ist.
In diesem Zusammenhang hat die Beklagte insbesondere zunächst berücksichtigt, dass der Kläger den Großteil seines Lebens in Griechenland verbracht hat und erst relativ spät, im Alter von 57 Jahren, nach Deutschland kam, es somit nicht an einem Bezug zum Heimatland fehlt.
Zudem hat die Beklagte berücksichtigt, dass es dem Kläger trotz über zehnjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik nicht gelungen ist, sich hier wirtschaftlich zu integrieren.
Auch hat die Beklagte zutreffend berücksichtigt, dass die gelebte eheliche Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und dessen Ehefrau durch eine Verlustfeststellung nicht beeinträchtigt wird, da gegenüber der Ehefrau des Klägers mit Bescheid gleichen Datums ebenfalls eine Verlustfeststellung ausgesprochen wurde.
Im Hinblick auf eine ermessensfehlerfreie Gewichtung des öffentlichen Interesses an einer Verlustfeststellung und damit einhergehenden Begründung einer Ausreisepflicht seitens des Klägers hat die Beklagte zudem zum einen zutreffend im Hinblick auf Art. 20 Abs. 1 GG und das darin verankerte Sozialstaatsprinzip das öffentliche Interesse an der Funktionsfähigkeit der staatlichen sozialen Sicherungssysteme sowie an der Akzeptanz seitens der Öffentlichkeit, insbesondere auf Seiten der die Finanzierung sicherstellenden Leistungserbringer, ausführlich dargelegt und dessen Gewicht betont und in diesem Zusammenhang u.a. darauf hingewiesen, wie bedeutsam die Vermeidung ungerechtfertigter Inanspruchnahmen von Sozialleistungen, insbesondere durch Personen, die nicht alle zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um unabhängig vom Leistungsbezug leben zu können, nicht nur hinsichtlich des wirtschaftlichen Funktionierens des Systems, sondern insbesondere auch im Hinblick auf den Erhalt des sozialen Friedens innerhalb der Bundesrepublik ist.
In diesem Zusammenhang hat die Beklagte zutreffend insbesondere auch berücksichtigt, dass der Kläger – trotz Nicht-Nachweises einer Erwerbsminderung – über Jahre keinerlei Anstrengungen unternommen hat, eine neue Beschäftigung zu finden (s.o.).
b) Auch die Festsetzung der Ausreisefrist und die Androhung der Abschiebung nach Griechenland (Ziffer 2 des Bescheids) sind nicht zu beanstanden.
Rechtsgrundlage für die Festsetzung der einmonatigen Ausreisefrist sowie die Abschiebungsandrohung ist § 7 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1, Satz 3 FreizügG/EU. Die Ausreisefrist von 30 Tagen hält die Grenze des § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU ein. Umstände, die eine längere als die gesetzte Frist erforderlich machen, wurden vorliegend weder vorgetragen noch sind sie anderweitig ersichtlich. Dem Kläger bleibt damit ausreichend Zeit, seine Angelegenheiten in Deutschland zu regeln und aus der Bundesrepublik auszureisen.
Dem Erlass der Abschiebungsandrohung stehen Abschiebungsverbote oder sonstige Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gem. § 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht entgegen.
2. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 ff ZPO.


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