Arbeitsrecht

Fristlose Entlassung eines Soldaten auf Zeit; unerlaubte Dienstentfernung; bevorstehendes Dienstzeitende

Aktenzeichen  5 A 220/19 MD

Datum:
7.2.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG Magdeburg 5. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:VGMAGDE:2022:0207.5A220.19MD.00
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Unerlaubtes Entfernen aus dem Dienst und Verstöße gegen die Gehorsamspflicht stellen Verstöße gegen militärische Kernpflichten dar, die eine Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit auch dann rechtfertigen, wenn das reguläre Dienstzeitende unmittelbar bevorsteht.(Rn.23)

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen seine Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit. Er trat am 01.07.2015 als Freiwilliger in den Dienst und wurde am 10.07.2015 unter Ernennung zum Panzerpionier (BesGr A 3 BBesO) in das Soldatenverhältnis auf Zeit übernommen. Mit Wirkung zum 01.10.2015 wurde er zum Gefreiten, am 26.01.2016 zum Obergefreiten und am 08.03.2017 zum Hauptgefreiten ernannt. Das Ende seiner Dienstzeit wurde mit Verfügung vom 01.12.2015 auf den 30.06.2019 festgesetzt.
Auf Antrag des Disziplinarvorgesetzten wurde der Kläger nach Anhörung der Vertrauensperson mit Bescheid vom 18.03.2019, der dem Kläger am 26.03.2019 ausgehändigt wurde, mit Wirkung zum 27.03.2019 aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit entlassen. Der Kläger habe das Mobiltelefon eines Kameraden an sich genommen und dort gespeicherte intime Fotos von dessen Freundin an sein eigenes Telefon versandt. Im Anschluss habe er sich über Instagram im privaten Freundeskreis ehrverletzend geäußert. Eine Gelegenheit zur Entschuldigung habe der Kläger nicht genutzt. Ferner habe er am 15.03.2018 seine Dienststelle verlassen und dabei seinem Vorgesetzten die unwahre Meldung gemacht, das Sanitätsversorgungszentrum aufsuchen zu wollen und im Anschluss bei einem Oberstleutnant zum Kaffee eingeladen zu sein. Befehlswidrig habe er sich sodann nicht wieder zum Dienst gemeldet. Ferner habe er seinem Vorgesetzten im März 2018 ein Arbeitszeiterfassungsblatt über geleistete Sonderdienste vorgelegt, um Dienstzeitausgleich zu beantragen. Bei der Prüfung sei aufgefallen, dass er seit November 2017 in 7 Fällen wahrheitswidrige Angaben zu Sonderdiensten gemacht und sich so insgesamt 36 Stunden Dienstbefreiung erschlichen habe. Schließlich habe er den Hauptgefreiten D. am 17.05.2018 bei einem Streit an den Hals gefasst und im weiteren Verlauf einen Gegenstand nach diesem geworfen, wodurch sich jener eine leichte Prellung im Gesicht zugezogen habe. Mit diesen Verhaltensweisen habe der Kläger schuldhaft seine Pflicht zum treuen Dienen, zum Gehorsam, zur Wahrhaftigkeit und die Wohlverhaltenspflicht verletzt und das Vertrauen des Dienstherrn enttäuscht. Das Verhalten des Klägers gefährde die militärische Ordnung. Sein Verhalten habe das Vertrauen darauf, dass dem Kläger ohne Bedenken dienstliche Aufgaben übertragen werden könnten, erschüttert. Zudem bestehe die Gefahr der Nachahmung seines schlechten Vorbildes. Er habe eine negativ verfestigte Haltung zu soldatischen Werten offenbart, die die Besorgnis begründe, er werde auch künftig durch Pflichtverletzungen in Erscheinung treten. Sein gesamtes Verhalten erweise ihn bei Würdigung der Umstände als charakterlich ungefestigten, disziplinlosen Soldaten, der nicht bereit sei, sich in die militärische Gemeinschaft einzufügen.
Mit der Beschwerde machte der Kläger geltend, er habe sich zwar Bilder der Lebensgefährtin des StGef L auf sein eigenes Mobiltelefon gesandt. Anlass sei dessen prahlerisches und herausforderndes Verhalten gewesen. Nach der Rückkehr des StGef L hätten sich der Kläger und der HptGef Ö indes entschuldigt. Der Kläger habe das Bild gelöscht. Es habe sich um ein kurzes situatives Geschehen gehandelt, das auch disziplinarisch folgenlos geblieben sei. Über ehrverletzende Äußerungen in diesem Zusammenhang gebe die Akte keinen Aufschluss. Richtig sei, dass er am 15.03.2018 seinem Vorgesetzten gegenüber falsche Angaben gemacht und sich unter einem falschen Vorwand vom Dienstgelände entfernt habe. Mildernd sei hierzu indes zu berücksichtigen, dass er wenige Stunden zuvor vom Tod seines Vaters erfahren und deshalb unter einer akuten Belastung gestanden habe. Hinzugekommen sei, dass es zwischen ihm und seinem Vorgesetzten Spannungen gegeben habe, so dass er sich bei der inneren Konfliktlage, sich über eine private und aufwühlende Angelegenheit zu offenbaren oder zu einer Notlüge zu greifen, falsch entschieden habe. Der Vorwurf, er habe die Arbeitszeiterfassungsblätter falsch ausgefüllt, lasse sich anhand der Akten nicht feststellen. Ungeachtet dessen habe der Kläger die Angaben jeweils nachträglich zum Monatsende nach seinem Erinnern gemacht. Seine Erinnerungen habe er durch Nachfrage bei seinen Kameraden kontrolliert. Das könne ihm nicht als schuldhaft angelastet werden, zumal er durch seinen Vorgesetzten nicht in den Saunawartdienst eingewiesen worden sei. Der Angriff auf den Kameraden am 17.05.2018 könne ihm als eine Entlassung rechtfertigendes Dienstvergehen nicht angelastet werden. Dabei könne dahinstehen, ob er den Kameraden tatsächlich am Hals getroffen habe. Der Kamerad habe sich über den Kläger lustig gemacht und ihn verärgert. Als der Kamerad dann auch noch immer dichter an den Kläger herangerückt sei, habe sich der Kläger dieses auf ihn körperlich wirkenden Zwanges erwehrt, indem er diesen wegdrückte. Ein etwaiger Stoß und eine eventuell damit einhergehende Verletzung sei durch Notwehr gerechtfertigt gewesen. Der Wurf mit dem Gegenstand habe nur als Warnung gegen den immer noch provozierenden Kameraden dienen sollen. Er habe diesen nicht treffen wollen. Er habe sich im Anschluss sofort erschüttert gezeigt und sich mehrfach entschuldigt.
Mit Bescheid vom 27.06.2019, der dem Kläger am 28.06.2019 zugestellt wurde, wies die Beklagte die Beschwerde zurück. Der Kläger habe seine Pflicht zum treuen Dienen, die Wahrheitspflicht und die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten verletzt, indem er am 15.03.2018 gegenüber seinem Vorgesetzten wahrheitswidrig behauptete, er müsse sich im Sanitärbereich zu einem Abschlussgespräch melden und sei anschließend zu Kaffee und Kuchen eingeladen, um sich ab 14.00 Uhr dem Dienst zu entziehen. Zudem habe er der Gehorsamspflicht im Kern zuwidergehandelt, weil er dem Befehl, sich um 16.00 Uhr beim nächsten Disziplinarvorgesetzten zu melden, nicht nachgekommen sei. Überdies habe er die Pflicht zur Kameradschaft schwerwiegend verletzt, indem er einen Kameraden am Hals wegdrückte und danach einen Gegenstand in sein Gesicht warf. Von einer Notwehrlage könne nicht ausgegangen werden, weil sich der Kamerad nach der eigenen Einlassung des Klägers lediglich vor ihn gestellt habe. Nachdem ein anderer Soldat dazwischen gegangen sei und sie getrennt hätte, habe der Kläger immer noch nicht abgelassen und ohne ersichtlichen Grund oder eine Gefahr für sich einen Gegenstand in die Richtung des Kameraden geworfen, der diesen getroffen und im Gesicht verletzt habe. Desweiteren habe er das Mobiltelefon eines Kameraden benutzt, um sich intime Bilder von dessen Freundin zuzuschicken. Schließlich habe er falsche Angaben in seinen Arbeitszeiterfassungsblättern gemacht, um sich Freizeitausgleich zu erschleichen. Die Pflichtverletzungen gefährdeten die militärische Ordnung. Die unerlaubte Entfernung aus dem Dienst, der Verstoß gegen die Gehorsams- und Wahrheitspflicht seien geeignet, das Vertrauen in seine dienstliche Zuverlässigkeit nachhaltig zu erschüttern. Auch rechtfertige die Vielzahl der Dienstpflichtverletzungen die Befürchtung, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen. Zudem dürfe nicht der Eindruck entstehen, das unerlaubtes Entfernen vom Dienst, unwahre Meldungen oder Angriffe auf Kameraden in toleriert würden, weil widrigenfalls die Gefahr der Nachahmung bestehe. Die Entscheidung sei ermessensgerecht. Da eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung Voraussetzung für die Entlassung sei, sei die Frage der Angemessenheit der Entlassung vom Gesetzgeber entschieden. Anhaltspunkte für das Vorliegen atypischer Besonderheiten sei nicht ersichtlich, sodass für weitere Ermessenserwägungen kein Raum sei.
Mit der dagegen am Montag, den 29.07.2019 erhobenen Klage verweist der Kläger auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren und macht weiter geltend, ein Verstoß gegen die Pflicht zum treuen Dienen und die Wahrheitspflicht liege nicht vor, weil die Beklagte nicht berücksichtigt habe, dass der Kläger wegen des Todes seines Vaters situativ überfordert gewesen sei. Auch wenn dies sein Handeln nicht rechtfertige, könne es dies ohne weiteres entschuldigen. Die Pflicht zur Kameradschaft habe der Kläger nicht verletzt, weil er sich in einer Notwehr Lage befunden habe. Das habe er so auch bereits im Verwaltungsverfahren ausgeführt. Ungeachtet dessen sei die militärische Ordnung nicht gefährdet gewesen. Das folge schon daraus, dass die fristlose Entlassung des Klägers nur 3 Tage vor seinem regulären Dienstzeitende verfügt worden und der Kläger trotz laufenden Entlassungsverfahrens seit Mitte 2018 treu und gewissenhaft weiter Dienst geleistet habe. Ferner sei unberücksichtigt geblieben, dass der Kläger sich am 15.03.2018 wegen des Todes seines Vaters in einer absoluten Ausnahme- und Sondersituation befunden habe, die keine Rückschlüsse auf das Persönlichkeitsbild des Klägers zulasse. Eine Wiederholungsgefahr habe ebenfalls nicht bestanden. Keine der vorgeworfenen Dienstpflichtverletzungen habe sich tatsächlich wiederholt. Alle Vorwürfe seien isoliert zu betrachten und wiesen keinen inhaltlichen Zusammenhang auf. Auch eine Nachahmungsgefahr habe nicht bestanden, weil es sich bei den Sachverhalten um Sondersituationen gehandelt habe, die kein Nachahmungspotenzial böten. Schließlich hätte die Beklagte bei Ausübung pflichtgemäßen Ermessens von der Entlassung absehen müssen, weil der Kläger bereits 3 Tage nach der Beschwerdeentscheidung aus dem regulären Dienst ausgeschieden wäre.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 18.03.2019 in Gestalt des Beschwerdebescheides vom 27.06.2019 aufzuheben,
die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Beschwerdeverfahren für notwendig zu erklären.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
und wiederholt ihr Vorbringen aus dem Beschwerdebescheid.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Die statthafte Anfechtungsklage ist zulässig, obwohl der Kläger auch ohne die Entlassung aus dem Soldatenverhältnis mit Ablauf des 30.06.2019 aus dem Dienstverhältnis als Soldat auf Zeit ausgeschieden wäre. Denn mit dem Wirksamwerden der Entlassung ist der Anspruch des Klägers auf die Gewährung von Dienstbezügen entfallen, die ihm sonst bis zum regulären Ende der Dienstzeit zugestanden hätten. Zudem hat der Kläger gemäß § 56 Abs. 3 SG durch die fristlose Entlassung seine Versorgungsansprüche nach dem Soldatenversorgungsgesetz verloren, sodass er durch die Entlassungsverfügung über die bloße Beendigung des Dienstverhältnisses hinaus auch weiterhin beschwert ist.
Die Klage ist unbegründet, weil die Entlassungsverfügung vom 18.03.2019 sowie der Beschwerdebescheid vom 27.06.2019 rechtmäßig sind und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für die Entlassungsverfügung ist § 55 Abs. 5 SG. Danach kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen ernstlich gefährden würde.
Im Entlassungszeitpunkt befand sich der Kläger im Soldatenverhältnis auf Zeit noch innerhalb der ersten vier Dienstjahre. Der Kläger hat seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt. Indem sich der Kläger am 15.03.2018 aus dem Dienst entfernte und zuvor seinem Dienstvorgesetzten gegenüber wahrheitswidrig angab, sich im Sanitätsversorgungszentrum wegen einer Nachuntersuchung einfinden zu müssen und danach bei einem Oberstleutnant zum Kaffee eingeladen zu sein, hat der Kläger seine Pflicht verletzt, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen (vgl. § 7 SG). Ferner hat er seine Pflicht verletzt, in dienstlichen Angelegenheiten die Wahrheit zu sagen (vgl. § 13 Abs. 1 SG). Indem er dem Befehl seines Vorgesetzten, sich um 16:00 Uhr wieder zu melden, nicht nachgekommen ist, hat er seine Gehorsamspflicht verletzt. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SG muss der Soldat seinen Vorgesetzten gehorchen. Er hat ihre Befehle nach besten Kräften vollständig gewissenhaft und unverzüglich auszuführen (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 2 SG). In diesen soldatischen Kernpflichten hat der Kläger versagt, indem er seinem Vorgesetzten wahrheitswidrig suggerierte, er sei wegen anderweitiger Pflichten gehindert, seinen Dienst in der Dienststelle fortzusetzen und indem er seinen Dienst befehlswidrig ab 16:00 Uhr nicht wieder aufnahm. Diese Dienstpflichtverletzungen hat der Kläger vorsätzlich, nämlich wissentlich und willentlich begangen. Entschuldigungsgründe sind ebenfalls nicht ersichtlich. Dass sich der Kläger am 15.03.2018 in einer psychischen Ausnahmesituation befunden hat, stellt das Gericht nicht in Abrede. Es ist nachvollziehbar, dass der Kläger in der konkreten Situation angesichts der Nachricht über den Tod seines Vaters einer großen psychischen Belastung ausgesetzt gewesen ist. Es ist indes weder ersichtlich noch plausibel dargelegt, weshalb diese psychische Belastung dazu geführt haben sollte, dass der Kläger in seiner Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit (vgl. § 20 StGB) schuldausschließend vermindert gewesen sein soll. Dabei mag dahinstehen, ob die vom Kläger angeführte psychische Belastungssituation geeignet sein könnte, bei der Zumessung einer Disziplinarstrafe strafmildernd zu wirken, weil § 55 Abs. 5 SG nicht auf eine konkrete Disziplinarstraferwartung abstellt, sondern auf eine schuldhafte Verletzung von Dienstpflichten. Die Regelung dient nicht der Ahndung von Dienstpflichtverletzungen, sondern der Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung in und damit der Gefahrenabwehr. Deshalb ist es im Grundsatz unerheblich, ob es sich bei den Dienstpflichtverletzungen um leichte oder schwere Fälle handelt und ob verschärfende oder mildernde Umstände hinzutreten.
Weitere Voraussetzung für eine fristlose Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit ist nach § 55 Abs. 5 SG neben einer schuldhaften Dienstpflichtverletzung, dass ein Verbleiben des Soldaten in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen ernstlich gefährden würde. Diese Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG sind von den Verwaltungsgerichten in einer “objektiv nachträglichen Prognose” selbst nachzuvollziehen (BVerwG, Urteil vom 09. Juni 1971 – VIII C 180.67 –, BVerwGE 38, 178-185, – juris). Die militärische Ordnung ist der Inbegriff aller rechtlichen und tatsächlichen Elemente, die die Einsatzbereitschaft der Soldaten und damit die Verteidigungsbereitschaft nach den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen gewährleisten soll. Die Gefährdung der militärischen Ordnung muss die innerbetriebliche Funktionsfähigkeit betreffen, soweit sie zu Aufrechterhaltung ihrer personellen und sachlichen Einsatzbereitschaft erforderlich ist (Fürst, GÖKD, § 55 SG, Rn. 31 m. w. N.; BVerwG, a. a. O.). Eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung ist regelmäßig zu bejahen, wenn die Einsatzbereitschaft der Soldaten erheblich vermindert und hierdurch die Verteidigungsbereitschaft der Truppe, d.h. der einzelnen betroffenen Einheit bzw. letztlich auch im Ganzen, infrage gestellt wird. Ob das Verbleiben eines Soldaten auf Zeit, der seine Dienstpflichten verletzt hat, in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen ernstlich gefährdet, beurteilt sich dabei nicht nach der Schwere der Dienstpflichtverletzung an sich, sondern nach dem Ernst der der militärischen Ordnung oder dem Ansehen ohne die fristlose Entlassung drohenden Gefahr. Näher bestimmt wird die Gefährdung dadurch, dass sie “ernstlich” sein muss. Es kommt darauf an, ob der befürchtete Schaden ernst zu nehmen ist oder nicht; die Schwere der Dienstpflichtverletzung ist insoweit nicht von Bedeutung. Für diese Auslegung spricht auch der Zweck der fristlosen Entlassung, nämlich eine drohende Gefahr abzuwenden. Da sie einem künftigen Schaden vorbeugen soll, ist sie keine Disziplinarmaßnahme. Sie kann zu einer bereits verhängten Disziplinarstrafe hinzutreten (VG Bremen, Urt. v. 17.10.2017 – 6 K 1066/16 –, Rdnr. 34 ff., juris). Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar können Dienstpflichtverletzungen auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten. Jedoch ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann (BVerwG, Beschl. v. 28.01.2013 – 2 B 114/11 –, juris m. w. N).
Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, in denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigen. Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen beurteilen zu können (BVerwG, a. a. O.).
Die Verletzung der Wahrheitspflicht und der Gehorsamspflicht durch das eigenmächtige Entfernen aus dem Dienst am 15.03.2018 stellen Pflichtverletzungen dar, die das Vertrauen in die soldatische Zuverlässigkeit des Klägers nachhaltig erschüttern. Der Verstoß gegen die Gehorsamspflicht ist in besonderer Weise geeignet, die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte infrage zu stellen und die militärische Ordnung ernsthaft zu gefährden, weil das Prinzip von Befehl und Gehorsam für die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte von grundlegender Bedeutung ist.
Aufgrund der vorliegenden Dienstpflichtverletzung im militärischen Kernbereich kann dahinstehen, ob der Kläger daneben seine Pflicht zur Kameradschaft verletzt hat, indem er am 17.05.2018 den Hauptgefreiten D. im Dienst im Zuge von Streitereien um Werkzeug an die Gurgel gegriffen und weggeschubst und im Anschluss einen Gegenstand in Richtung des Geschädigten geworfen hat. Das Gericht hatte deshalb keinen Anlass, der Behauptung des Klägers, er habe diese Tätlichkeiten in Notwehr ausgeübt, durch Vernehmung des Zeugen D. nachzugehen.
Die Entlassungsverfügung erweist sich auch nicht als ermessensfehlerhaft. Beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG steht die Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen der für die Entlassung zuständigen Behörde. Zwar lässt das Wort “kann” in diesem Zusammenhang erkennen, dass hier eine echte Ermessensentscheidung zu treffen ist. Gleichwohl handelt es sich hierbei nicht um die Einräumung eines “umfassenden” Ermessens dergestalt, dass die Entlassungsbehörde gewissermaßen – ähnlich wie in einem Disziplinarverfahren – alle für und gegen den Verbleib des Zeitsoldaten im Dienst sprechenden Gesichtspunkte im Rahmen einer Gesamtwürdigung zusammentragen, gewichten und gegeneinander abwägen müsste. Dem steht die besondere Zielrichtung bzw. Zweckbestimmung der in Rede stehenden Vorschrift entgegen. Alleiniger Zweck der fristlosen Entlassung gemäß § 55 Abs. 5 SG ist es, eine – sich im Grunde bereits aus der Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift ergebende – drohende Gefahr für die Bundeswehr abzuwenden. Die fristlose Entlassung soll künftigen Schaden verhindern und dient folglich ausschließlich dem Schutz . Die Frage der Angemessenheit des Eingriffs im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck ist hier in Gestalt einer Vorabbewertung durch den Gesetzgeber im Wesentlichen bereits durch die Vorschrift selbst auf Tatbestandsebene konkretisiert worden. So setzt § 55 Abs. 5 SG mit der Begrenzung der Rechtsfolge auf Fälle einer “ernstlichen” Gefährdung einen besonderen Gefährdungsgrad voraus; außerdem grenzt er in zeitlicher Hinsicht die Entlassungsmöglichkeit auf die ersten vier Dienstjahre ein. Für zusätzliche Erwägungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist somit nach der Gesetzeskonzeption im Rahmen des § 55 Abs. 5 SG grundsätzlich kein Raum. Daher ist das Ermessen der zuständigen Behörde, beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG vom Ausspruch der fristlosen Entlassung absehen zu können, trotz des Wortlauts “kann” im Sinne einer sog. “intendierten Entscheidung” auf besondere Ausnahmefälle zu beschränken, und zwar solche, die der Gesetzgeber in seine vorweggenommene Verhältnismäßigkeitsabwägung nicht schon einbezogen hat bzw. einbeziehen konnte, weil sie beispielsweise gerade den jeweils in Rede stehenden Fall “atypisch” prägen. Deshalb gibt es keine generelle Verpflichtung der Behörde, in jedem einzelnen Falle im Rahmen der Begründung der Entlassungsverfügung bzw. des Beschwerdebescheides zusätzliche Ermessenserwägungen ausdrücklich anzustellen. Es reicht vielmehr aus, dass sich die Behörde den Umständen nach des in atypischen Fällen gesetzlich eingeräumten Ermessens bewusst gewesen ist und bestehende Besonderheiten zutreffend geprüft und verneint hat (VG Bremen, Urt. v. 17.10.2017 – 6 K 1066/16 –, Rdnr. 45 ff, juris m. w. N.).
Gemessen daran sind keine durchgreifenden Mängel der Entlassungsverfügung erkennbar.
Der Beschwerdebescheid lässt erkennen, dass die Beklagte nicht von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ist, sondern sich ihres Ermessensspielraumes bewusst war. Sie hat ohne Rechtsfehler festgestellt, dass Besonderheiten, wegen derer im Fall des Klägers von einer fristlosen Entlassung abgesehen werden müssten, nicht vorliegen. Auch für das Gericht ist nicht erkennbar, dass in der Person des Klägers Umstände vorliegen, die die Annahme eines atypischen Falles rechtfertigen würden. Zwar macht der Kläger zu Recht geltend, dass eine Gefährdung der militärischen Ordnung aus dem Gesichtspunkt einer Wiederholungsgefahr schwerlich zu begründen sei, weil der Beschwerdebescheid dem Kläger erst am 28.06.2019 bekannt gegeben wurde und das Ende der regulären Dienstzeit zum 30.06.2019 somit unmittelbar bevorgestanden habe. Indes hat die Beklagte die Gefährdung der militärischen Ordnung nicht allein auf eine Wiederholungsgefahr gestützt, sondern selbständig tragend zudem auf die Gefahr der Nachahmung des schlechten Beispiels des Klägers durch andere Soldatinnen und Soldaten, die sich ermuntert fühlen könnten, ihre Pflichten zum Gehorsam und zur Wahrheit ebenfalls sorglos zu vernachlässigen, wenn der Kläger trotz seiner Dienstpflichtverletzungen bis zum regulären Ende seiner Dienstzeit im Soldatenverhältnis verbleiben und im Anschluss Versorgungsansprüche einschließlich der Übergangsgebührnisse und sonstigen Fördermaßnahmen geltend machen könnte. Diese Erwägung ist nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 13.887,60 € festgesetzt.
Gründe
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 6 GKG und wird nach der Hälfte der für ein Kalenderjahr zu zahlenden Bezüge aus der Besoldungsgruppe A4 BBesO in der Erfahrungsstufe 2 bemessen.


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