Arbeitsrecht

Interessenausgleich mit Namensliste, Sozialauswahl, grobe Fehlerhaftigkeit

Aktenzeichen  3 Sa 13/22

Datum:
12.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12706
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Der Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit einer Sozialauswahl bezieht sich auch auf die Bildung des auswahlrelevanten Personenkreises.

Verfahrensgang

17 Ca 2864/21 2021-10-25 Urt ARBGMUENCHEN ArbG München

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 25.10.2021 – 17 Ca 2864/21 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist unbegründet.
I.
Die nach § 64 Abs. 2 c) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. §§ 519, 520 ZPO, und damit zulässig.
II.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht erkannt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 09.03.2021 mit Wirkung zum 30.06.2021 aufgelöst worden ist. Die Kündigung ist rechtswirksam, da sie sozial gerechtfertigt im Sinne des § 1 Abs. 3, Abs. 5 S. 2 KSchG ist. Weitere Unwirksamkeitsgründe sind zwischen den Parteien nicht streitig. Dementsprechend war der Weiterbeschäftigungsantrag unbegründet.
1. Die Kündigung ist nicht deswegen unwirksam, weil die von der Beklagten getroffene Sozialauswahl grob fehlerhaft ist.
a) Nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ist eine Kündigung trotz Vorliegens dringender betrieb licher Erfordernisse sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl der Arbeitnehmer die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat. Bei einer Kündigung auf Grund einer Betriebsänderung nach § 111 BetrVG, wie sie hier unstreitig vorliegt, kann die soziale Auswahl der Arbeitnehmer nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden.
Die Sozialauswahl ist grob fehlerhaft, wenn eine evidente, ins Auge springende erhebliche Abweichung von den Grundsätzen des § 1 Abs. 3 KSchG vorliegt und der Interessenausgleich jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt (vgl. BAG, Urteil vom 19.07.2012 – 2 AZR 352/11 – Rn. 34; Urteil vom 27.09.2012 – 2 AZR 516/11 – Rn. 45; Urteil vom 26.03.2015 – 2 AZR 478/13 – Rn. 27). Anders als nach § 1 Abs. 4 KSchG, der nur die Bewertung der „sozialen Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3“ KSchG und nicht anderer Auswahlfaktoren einer weitergehenden Prüfung entzieht, ist nach § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG die von den Betriebsparteien in diesem Fall selbst abschließend getroffene Sozialauswahl in jeder Hinsicht an diesem eingeschränkten Maßstab zu messen (vgl. Kreft in MünchHdb ArbR, Band 2: Individualarbeitsrecht II. 5. Aufl. 2021, § 115, Rn. 44). Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, wie sich aus der Gesetzesbegründung zu § 1 Abs. 5 KSchG ergibt: „Die Überprüfung der Sozialauswahl ist auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkt. Das betrifft die Richtigkeit der Sozialauswahl in jeder Hinsicht, also auch die Frage der Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer …“ (zitiert nach Kreft in MünchHdb ArbR, Band 2: Individualarbeitsrecht II. 5. Aufl. 2021, § 115, Rn. 44; hierauf abstellend BAG, Urteil vom 10.06.2010 – 2 AZR 420/09 – Rn. 29). Auch der Sinn und Zweck des § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG rechtfertigen diese Auffassung. Durch § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG soll den Betriebspartnern ein weiter Spielraum bei der Sozialauswahl eingeräumt werden. Dabei geht das Gesetz davon aus, das durch die Gegensätzlichkeit der von den Betriebspartnern vertretenen Interessen und durch die auf beiden Seiten vorhandenen Kenntnis der betrieblichen Verhältnisse gewährleistet ist, dass dieser Spielraum angemessen und vernünftig genutzt wird. Nur wo dies nicht der Fall ist, sondern der vom Gesetzgeber gewährte Spielraum verlassen wird, so dass der Sache nach nicht mehr von einer „sozialen“ Auswahl die Rede sein kann, darf grobe Fehlerhaftigkeit angenommen werden (vgl. BAG, Urteil vom 03.04.2008 – 2 AZR 879/06 – Rn. 16).
Deshalb bezieht sich der Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit auch auf die Bildung des auswahlrelevanten Personenkreises (vgl. BAG, Urteil vom 03.04.2008 – 2 AZR 879/06 – Rn. 29; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10.01.2017 – 8 Sa 221/16 – Rn. 29; aus der Literatur etwa Kreft in MünchHdb ArbR, Band 2: Individualarbeitsrecht II. 5. Aufl. 2021, § 115, Rn. 44; kritisch Ch. Weber in Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2016, § 1 KSchG, Rn. 1468 m. w. Nachw.). Solange gut nachvollziehbare und ersichtlich nicht auf Missbrauch zielende Überlegungen für die – etwa sogar etwa auch fehlerhaft – getroffene Eingrenzung des auswahlrelevanten Personenkreises sprechen, ist die Grenze der groben Fehlerhaftigkeit unterschritten (vgl. BAG, Urteil vom 03.04.2008 – 2 AZR 879/06 – Rn. 17).
Eine grob fehlerhafte Bildung der Vergleichsgruppe kann etwa vorliegen, wenn die Betriebsparteien den auswahlrelevanten Personenkreis der austauschbaren und damit vergleichbaren Arbeitnehmer willkürlich bestimmt oder nach unsachlichen Gesichtspunkten eingegrenzt haben, so dass an sich vergleichbare Arbeitnehmer bei der Sozialauswahl gänzlich außen vor gelassen werden (vgl. LAG Hamm, Urteil vom 05.06.2003 – 4 (16) Sa 1976/02 – unter 1.1. der Gründe), wenn der Kreis der auswahlrelevanten Personen evident verkannt wurde (vgl. BAG, Urteil vom 27.09.2012 – 2 AZR 516/11 – Rn. 45) oder wenn Arbeitnehmer aus der Vergleichbarkeit ausscheiden, die sich erst auf einem bestimmten Arbeitsplatz einarbeiten müssen (vgl. LAG Düsseldorf, Urteil vom 06.07.2011 – 7 Sa 1859/10 – Selbst wenn dem Interessenausgleich aber ein grober Fehler anhaftet, kommt für die es wegen der Rechtswirkung des § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG noch nicht zwingend zur Unwirksamkeit der Kündigung. Ein mangelhaftes Auswahlverfahren kann zu einem richtigen – nicht grob fehlerhaften – Auswahlergebnis führen. Entscheidend ist deshalb, dass sich die getroffene Auswahl gerade mit Blick auf den klagenden Arbeitnehmer als grob fehlerhaft erweist, weil ein bestimmter, mit dem gekündigten vergleichbaren Arbeitnehmer in dem nach dem Gesetz erforderlichen Maße weniger schutzwürdig ist (vgl. BAG, Urteil vom 26.03.2015 – 2 AZR 478/13 – Rn.27).
b) Die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich die Fehlerhaf tigkeit der Sozialauswahl ergibt, liegt grundsätzlich beim Arbeitnehmer, § 1 Abs. 3 S. 3 KSchG. Der Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit ändert an der Verteilung der Darlegungslast nichts. Erfüllt der Arbeitgeber seine Auskunftspflicht nach § 1 Abs. 3 S. 3 HS. 2 KSchG, trägt der Arbeitnehmer deshalb die volle Darlegungslast für die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl. Dabei reicht es nicht aus, dass er die gesetzliche Vermutung erschüttert, er muss vielmehr das Gegenteil beweisen (zu allem vgl. BAG, Urteil vom 17.11.2005 – 6 AZR 107/05 – Rn. 29 m. w Nachw.).
c) Der Klägerin, der seitens der Beklagten ausreichend Auskunft gegeben worden ist, ist es nicht gelungen, die grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl durch die Betriebsparteien darzulegen.
aa) Die Klägerin hat geltend gemacht, die grobe Fehlerhaftigkeit beziehe sich lediglich auf die gesetzlichen Kriterien zur Sozialauswahl. Dieser Auffassung kann auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung des BAG, wie sie vorstehend dargestellt wurde, nicht gefolgt werden. Die Klägerin begründet dies auch nicht aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG, dessen Gesetzesmaterialien, dem Sinn und Zweck oder dem systematischen Zusammenhang der gesetzlichen Regelung. Das Zitat einer Kommentierung zu § 1 Abs. 4 KSchG trägt nicht, weil der für die soziale Auswahl maßgebliche § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG eine Beschränkung der groben Fahrlässigkeit auf soziale Gesichtspunkte anders als § 1 Abs. 4 KSchG nicht vorsieht.
bb) Eine grob fehlerhafte Bildung der Vergleichsgruppe liegt nicht deswegen vor, weil die Klägerin bei der Sozialauswahl außen vor gelassen wurde. Die Betriebsparteien haben weder willkürlich noch aus unsachlichen Gesichtspunkten angenommen, dass es an einer Vergleichbarkeit des Klägers mit dem Mitarbeiter Herr M. fehlt.
l)) Die Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern bestimmt sich nach der tätigkeitsbezogenen und der arbeitsvertraglichen Austauschbarkeit der Arbeitnehmer (vgl. BAG, Urteil vom 10.06.2010 – 2 AZR 420/09 – Rn. 31). An der arbeitsvertraglichen Austauschbarkeit fehlt es, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht einseitig auf einen anderen Arbeitsplatz umoder versetzen kann (vgl. BAG, Urteil vom 10.06.2010 – 2 AZR 420/09 – Rn. 31; Urteil vom 02.06.2005 – 2 AZR 480/04 – unter B. I. 4. a) aa) der Gründe).
m)) Die Klägerin konnte nicht einseitig auf den Arbeitsplatz des Mitarbeiters M versetzt werden. Im Änderungsvertrag vom 04.12./12.12.2020 fehlt es an der erforderlichen Versetzungsklausel. Dies folgt aus der Auslegung des Änderungsvertrags.
Geht man zu Gunsten der Klägerin davon aus, dass wegen der nur einmaligen Verwendung der Änderungsvereinbarung vom 04.12./12.12.2020 eine individuelle Willenserklärung vorliege, wäre sie nach §§ 131, 157 BGB so auszulegen, wie die Parteien sie nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen mussten. Dabei ist vom Wortlaut auszugehen, zur Ermittlung des wirklichen Willens der Parteien sind jedoch auch die außerhalb der Vereinbarung liegenden Umstände einzubeziehen, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Vor allem sind die bestehende Interessenlage und der mit dem Rechtsgeschäft verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Im Zweifel ist der Auslegung der Vorzug zu geben, die zu einem vernünftigen, widerspruchsfreien und den Interessen beider Vertragspartner gerecht werdenden Ergebnis führt. Haben alle Beteiligte eine Erklärung übereinstimmend in demselben Sinne verstanden, so geht der wirkliche Wille dem Wortlaut des Vertrags und jeder anderweitigen Interpretation vor und setzt sich auch gegenüber einem völlig eindeutigen Vertragswortlaut durch (vgl. BAG, Urteil vom 18.05.2010 – 3 AZR 373/08 – unter I. 3 c) aa) der Gründe).
Danach konnte die Klägerin nicht auf den Arbeitsplatz des Teamleiters Logistik / Lager versetzt werden. Der Wortlaut des § 1 der Änderungsvereinbarung vom 04.12./12.12.2020 enthält im Gegensatz zur früheren Regelung in § 1 des Anstellungsvertrags i. d. F. vom 19.12.2013/ 07.01.2014 keinen Versetzungsvorbehalt. § 1 der Änderungsvereinbarung lässt sich auch nicht entnehmen, dass an den früheren Regelungen festgehalten werden sollte, wie dies durch die Wiedergaben von Punkten („…“) nach der Aufgabenvereinbarung möglich gewesen wäre. Dabei zeigt die Formulierung in § 3 (richtig § 4) mit der Überschrift „Arbeitszeit“, dass die Parteien sehr wohl bei Bedarf umfassende Regelungen getroffen haben. Etwaige Formulierungsfehler oder Unsauberkeiten in den weiteren Paragraphen der Änderungsvereinbarung lassen einen Rückschluss auf den Inhalt des § 1 der Änderungsvereinbarung nicht zu. Die Klägerin hat auch nicht Umstände vorgebracht, die bei der Auslegung heranzuziehen wären. Sie beschränkt sich vielmehr auf Annahmen, wie ein Arbeitgeber allgemein zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses unter den Bedingungen einer Pandemie eine Änderungsvereinbarung getroffen hätte. Erforderlich wäre gewesen, dass die Klägerin dem Gericht die den Vertragsschluss begleitende Umstände vorträgt, aus denen sich die konkreten Erwägungen der Beklagten in der damaligen Situation ermitteln ließen (zur Zulässigkeit der Berücksichtigung derartiger Umstände vgl. BAG, Urteil vom 18.05.2010 – 3 AZR 373/08 – unter I. 3 c) aa) der Gründe).
Gegen eine evidente, ins Auge springende erhebliche Abweichung von den Grundsätzen des § 1 Abs. 3 KSchG spricht zudem, dass die Frage, ob die arbeitsvertragliche Regelungen der Parteien eine Versetzungsklausel enthalten oder nicht, von der Klägerin auf vier Seiten ihrer Berufungsschrift erörtert wird.
2. Aufgrund der Wirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung war der Weiterbe schäftigungsanspruch unbegründet.
III.
Die Klägerin hat die Kosten ihrer erfolglosen Berufung gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
IV.
Es bestand kein Grund im Sinne des § 72 Abs. 2 ArbGG, die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen.


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