Arbeitsrecht

Leistungen, Behinderung, Erkrankung, Bewilligung, Arbeitszeit, Arbeitsleistung, Arbeit, Eingliederung, Widerspruchsbescheid, Arbeitgeber, Arbeitsmarkt, Widerspruch, GdB, Teilhabe, behinderte Menschen, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Teilhabe am Arbeitsleben

Aktenzeichen  S 22 SO 59/19

Datum:
24.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42592
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27.07.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019 verurteilt, dem Kläger für seine Beschäftigung im Haus für Kinder und Familien in I. ab dem 01.03.2019 unbefristet ein Budget für Arbeit nach § 61 SGB IX wie folgt zu gewähren:
a) Minderleistungsausgleich in Form eines Lohnkostenzuschusses an den Arbeitgeber in Höhe von 75% des vom Arbeitgeber regelmäßig gezahlten Arbeitsentgelts, höchstens jedoch von 48% der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV,
b) Betreuungsaufwendungen für die wegen der Behinderung erforderliche Anleitung und Begleitung am Arbeitsplatz im Umfang von derzeit 3 Stunden und 55 Minuten pro Arbeitstag.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

Die Klage hat vollumfänglich Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Gegenstand dieses Rechtsstreites ist der Bescheid vom 27.07.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2019, mit dem der Beklagte die Bewilligung eines Budgets für Arbeit abgelehnt hat.
Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§§ 87, 90 und 92 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.
Die Klage ist begründet, weil der Kläger einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form eines Budgets für Arbeit im tenorierten Umfang hat.
Rechtsgrundlage für ein Budget für Arbeit ist § 61 Abs. 1 SGB IX. Danach erhalten Menschen mit Behinderungen, die Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen haben und denen von einem privaten oder öffentlichen Arbeitgeber ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit einer tarifvertraglichen oder ortsüblichen Entlohnung angeboten wird, mit Abschluss dieses Arbeitsvertrages als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ein Budget für Arbeit. Anspruch auf Leistungen im Arbeitsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen haben gemäß § 58 Abs. 1 SGB IX Menschen mit Behinderungen, bei denen wegen Art oder Schwere der Behinderung eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einschließlich einer Beschäftigung in einem Inklusionsbetrieb oder eine Berufsvorbereitung, eine individuelle betriebliche Qualifizierung im Rahmen Unterstützter Beschäftigung, eine berufliche Anpassung und Weiterbildung oder eine berufliche Ausbildung nicht, noch nicht oder noch nicht wieder in Betracht kommt und die in der Lage sind, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen. Leistungen im Arbeitsbereich werden grundsätzlich nur im Anschluss an Leistungen im Berufsbildungsbereich oder an entsprechende Leistungen bei einem anderen Leistungsanbieter erbracht. Hiervon kann gemäß § 58 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz SGB IX abgewichen werden, wenn der Mensch mit Behinderungen bereits über die für die in Aussicht genommene Beschäftigung erforderliche Leistungsfähigkeit verfügt, die er durch eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erworben hat.
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen eines Budgets für Arbeit.
Er ist mit einem GdB von 100 schwerbehindert und kann nach der sozialmedizinischen Stellungnahme der Bundesagentur für Arbeit vom 28.02.2018 nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden. Zugleich ist er werkstattfähig im Sinne von § 58 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, d.h. er ist gemeinschaftsfähig und nicht außerordentlich pflegebedürftig (BSG, Urteil vom 10. März 1994 – 7 RAr 22/93). Dies ergibt sich insbesondere aus der Stellungnahme seines Arbeitgebers vom 15.12.2017, wonach der Kläger als Mitarbeiter des Kindergartens voll integriert sei und dazu beigetragen habe, dass die Kindergartenkinder durch gelebte Inklusion Sozialverhalten, Toleranz und Umgang mit Menschen mit Behinderung erlernt hätten.
Der Kläger erbringt auch ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung. Zur Bejahung dieser Voraussetzung reicht es aus, wenn der behinderte Mensch irgendwie am Arbeitsauftrag mitwirken, d.h. an der Herstellung und Erbringung der Waren und Dienstleistungen durch nützliche Arbeit beteiligt werden kann, ohne sich oder andere zu gefährden. Das ist schon dann der Fall, wenn er bei einem oder mehreren Arbeitsvorgängen eingesetzt werden kann, die wiederholt anfallen. Eine solche Arbeitsleistung ist ausreichend, ohne dass es auf ein wirtschaftliches Verhältnis von Personalaufwand und Arbeitsergebnis im Sinne betriebswirtschaftlicher Erwägungen ankommt. Vielmehr ist jedes Minimum an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung ausreichend (vgl. zum Ganzen BSG, Urteil vom 07. Dezember 1983 – 7 RAr 73/82, juris-Rn. 23 ff). Es versteht sich unter Berücksichtigung der UN-Behindertenrechtskonvention von selbst, dass die Verneinung der Werkstattfähigkeit nur unter strengen Voraussetzungen möglich ist (so ausdrücklich Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 58 SGB IX, Stand: 15.01.2018, Rn. 33). Der Kläger erbringt unzweifelhaft eine Arbeitsleistung in diesem Sinne. Er arbeitet nunmehr seit Jahren in dem Kindergarten. Sein Arbeitgeber hat ausdrücklich bestätigt, dass er eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung erbringe und ihm deshalb auch das reguläre Beschäftigungsverhältnis angeboten habe. Der IFD beziffert die Leistungsminderung mit 85% – im Umkehrschluss ist der Kläger somit zu 15% leistungsfähig. Er hilft in der Einrichtung mit und übernimmt wertvolle Dienste, die nicht nur den betreuten Kindern, sondern auch seinen Kolleginnen und Kollegen zu Gute kommen. Die Tatsache, dass er fast die gesamte Dauer seiner Arbeitszeit auf eine Integrationshilfe angewiesen ist, steht dem nicht entgegen – wirtschaftliche Erwägungen dürfen keine Rolle spielen.
Der Bewilligung eines Budgets für Arbeit steht in diesem konkreten Einzelfall – abweichend vom Grundsatz – nicht entgegen, dass der Kläger zuvor keine berufsbildende Maßnahme durchlaufen hat. Der in § 61 Abs. 1 SGB IX i.V.m. § 58 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz SGB IX aufgestellte Grundsatz, dass vor Bewilligung eines Budgets für Arbeit zunächst eine berufliche Bildungsmaßnahme durchlaufen werden muss, soll sicherstellen, dass die betroffene Personengruppe zunächst die notwendigen Fähigkeiten für die angestrebte Tätigkeit erwirbt. Von dieser Voraussetzung kann jedoch abgewichen werden, wenn der Mensch mit Behinderungen bereits über die für die in Aussicht genommene Beschäftigung erforderliche Leistungsfähigkeit verfügt, die er durch eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erworben hat (§ 58 Abs. 1 Satz 2 zweiter Halbsatz SGB IX). Nachdem, soweit ersichtlich, noch keine einschlägige Rechtsprechung zur genauen Auslegung dieser Ausnahmevorschrift existiert, legt das erkennende Gericht das Merkmal „Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt“ weit aus. Es ist nach der Überzeugung der Kammer auf die erworbenen Fertigkeiten abzustellen, also insbesondere auf die Frage, ob der behinderte Mensch bereits über die erforderliche Leistungsfähigkeit verfügt, die er für die in Aussicht gestellte Beschäftigung benötigt. Es darf somit keine Rolle spielen, ob diese Fähigkeiten durch eine Bildungsmaßnahme, durch eine klassische sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt oder durch Praktika/ehrenamtliche Tätigkeiten erworben worden sind. Im Ergebnis kommt es auf die vorhandene „Berufserfahrung“ an und nicht auf eine formale Betrachtungsweise, um welche Art von Beschäftigung es sich rechtlich gehandelt hat bzw. ob es sich um eine entlohnte Tätigkeit gehandelt hat oder nicht. Der Gesetzgeber bezweckt mit der Ausnahmeregelung, dass die Notwendigkeit einer vorherigen beruflichen Bildung solchen Menschen mit Behinderungen nicht zuzumuten sei, die bereits erfolgreich eine berufliche Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeführt haben (BT Drs. 18/10523, S. 54). Der Kläger erfüllt die Ausnahmevorschrift, so dass ein Budget für Arbeit ausnahmsweise zu gewähren ist, auch wenn er nach dem Ende seiner Schulzeit noch keine reguläre Bildungsmaßnahme durchlaufen hat. Denn er hat seit 15.05.2017 durchgängig für 20 Std. pro Woche – also im selben Umfang wie jetzt im Beschäftigungsverhältnis – auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein Praktikum bzw. eine ehrenamtliche Tätigkeit ausgeführt, wobei er unmittelbar an seinem späteren Arbeitsplatz eingearbeitet worden ist und ihm alle Fertigkeiten vermittelt wurden, die er für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung dort gebraucht hat. In diesem Setting findet er sich auch zurecht und er kann die ihm übertragenen Aufgaben ausführen, wenn seine Integrationshilfe ihn unterstützt. Somit verfügt er über die Fertigkeiten, die er in seinem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis benötigt. Es wäre unbillig, ihm nun eine berufliche Bildungsmaßnahme „aufzuzwingen“. Das Ermessen des Beklagten hinsichtlich der Anwendung der Ausnahmevorschrift ist „auf Null“ reduziert. Damit besteht dem Grunde nach ein Anspruch auf Bewilligung eines Budgets für Arbeit.
Das Budget für Arbeit umfasst einen Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber zum Ausgleich der Leistungsminderung des Beschäftigten und die Aufwendungen für die wegen der Behinderung erforderliche Anleitung und Begleitung am Arbeitsplatz (§ 61 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Hinsichtlich des Umfanges kommt es nach § 61 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Umstände des Einzelfalles an. Der Lohnkostenzuschuss kann bis zu 75 Prozent des vom Arbeitgeber regelmäßig gezahlten Arbeitsentgelts betragen, höchstens jedoch 48 Prozent (vgl. § 61 Abs. 2 Satz 4 SGB IX i.V.m. Art. 66b Abs. 2 BayAGSG) der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Absatz 1 SGB IV. Nach der fachdienstlichen Stellungnahme liegt beim Kläger eine tatsächliche Leistungsminderung von 85% vor. Er hat somit Anspruch auf den vom Gesetz als Höchstsatz angenommenen Lohnkostenzuschuss von 75%, gedeckelt auf 48% der monatlichen Bezugsgröße. Der Betreuungsaufwand ist nach den nachvollziehbaren Schilderungen des IFD mit 3 Std. und 55 Min. pro Arbeitstag anzusetzen und im Rahmen des Budgets für Arbeit in diesem Umfang dem Grunde nach zu übernehmen.
Die Leistungsdauer bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalles (§ 61 Abs. 2 Satz 3 SGB IX). Im vorliegenden Fall sind die Leistungen unbefristet zu gewähren. Eine zeitliche Begrenzung (wie z.B. bei den Leistungen an Arbeitgeber nach § 50 SGB IX) ist gesetzlich beim Budget für Arbeit nicht vorgesehen (Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 61 SGB IX, Stand: 20.12.2018, Rn. 55), dürfte aber auch unter Berücksichtigung des Urteils des Bundessozialgerichts vom 28. Januar 2021 – B 8 SO 9/19 R nicht angezeigt sein. Der Beklagte wird etwaige zukünftige Änderungen in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen über das Regelungsgefüge der §§ 45, 48 SGB X zu lösen haben.
Im Ergebnis war die Klage bereits im Hauptantrag erfolgreich. Über die Hilfsanträge des Klägers war somit nicht mehr zu befinden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Gegen dieses Urteil findet gemäß § 143 SGG die Berufung an das Bayerische Landessozialgericht nach Maßgabe der beigefügten Rechtsmittelbelehrungstatt.


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