Arbeitsrecht

Mindestlohngesetz verstößt bei grenzüberschreitendem Gütertransport im Fall der sogenannten „Kabotage“ gegen EU-Recht

Aktenzeichen  1 C 435/16

Datum:
11.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
TranspR – 2018, 323
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Weißenburg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 273 Abs. 1
BGB § 310 Abs. 1 S. 2, § 307 f.
Rom I-VO Art. 5 Abs. 1 S. 2
AEUV Art. 52, Art. 56, Art. 62

 

Leitsatz

1 Eine Vertragsabrede zur Durchsetzung der Zahlung des Mindestlohns gegenüber einem polnischen Transportunternehmer (Lohnnachweis) auch für Kabotage-Fahrten im Inland unterliegt bei deutschem Vertragsstatut (Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO) der AGB-Kontrolle und ist danach unwirksam. (Rn. 24 – 27) (red. LS Götz Schulze)
2 Das Mindestlohngesetz (MiLoG) verstößt gegen die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 ff. AEUV. Ein vertragliches Zurückbehaltungsrecht kann hierauf nicht gestützt werden. (Rn. 30) (red. LS Götz Schulze)
3 Der Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit ist nicht gerechtfertigt. Das MiLoG verstößt gegen das Verhältnismäßigkeitserfordernis. Es erfasst von seinem Regelungsgehalt auch die kurzzeitige Entsendung von Arbeitnehmern zur Durchführung von Dienstleistungen in Deutschland, hier im Sinne einer kurzzeitigen „Kabotage“-Fahrt, bei der der Arbeitnehmer sich nur für diese eine Fahrt in die Bundesrepublik Deutschland begibt. (Rn. 41 – 43) (red. LS Götz Schulze)
4 Der Schutzzweck des MiLoG, gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland und ein entsprechendes soziales Schutzniveau durch Zahlung eines Mindestlohnes zu schaffen, ist bei kurzfristigen Tätigkeiten eines im Ausland ansässigen Arbeitnehmers nicht erforderlich. Der Lebensstandard richtet sich nach den Lebenshaltungskosten in dessen jeweiligen Heimatland. Diese sind bezogen auf Polen deutlich niedriger. (Rn. 44 – 45) (red. LS Götz Schulze)

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 650,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 16.07.2016 sowie weitere 72,00 € zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 650,00 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache weit überwiegend Erfolg.
Die Klagepartei kann von der Beklagten die Zahlung des vereinbarten Frachtlohns in Höhe von 650,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 16.07.2016 sowie weitere 72,00 Euro verlangen.
Abzuweisen war die Klage lediglich soweit Zinsen vor dem 16.07.2016 begehrt wurden. Im Einzelnen:
1. Zum Anspruch in der Hauptsache
Das Bestehen des Anspruchs an sich sowie dessen Höhe sind zwischen den Parteien unstreitig. Gleiches gilt für die ordnungsgemäße Durchführung.
Streit besteht nur dahingehend, ob die Beklagte sich auf ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 273 Abs. 1 BGB wegen der vereinbarten Klausel „Lohnnachweis vom Fahrer kann gefordert werden“ berufen kann.
Insoweit ist das Gericht davon überzeugt, dass sich die Beklagte auf diese Klausel nicht berufen kann, da das Mindestlohngesetz (MiLoG) wegen Verstoß gegen die Grundfreiheit der Dienstleistungsfreiheit insoweit zu beanstanden ist.
a) In der Sache selbst handelt es sich bei der Klausel „Lohnnachweis kann vom Fahrer gefordert werden“ um allgemeine Geschäftsbedingungen.
b) Nach dem einschlägigen internationalen Kollisionsrecht (Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom l-VO Beförderungsverträge) ist auf den gegenständlichen Vertrag deutsches Recht anzuwenden. Der Kläger als Beförderer hat seinen Sitz in Polen, der Übernahmeort befindet sich mit 91785 P in Deutschland. Gleiches gilt für den Ablieferungsort mit 58089 Hagen. Damit ist das deutsche Recht als das für den vereinbarten Ablieferungsort geltende Recht anzuwenden.
c) Damit ist die Klausel im Lichte der §§ 307, 308 Nr. 1 lit. a) und lit. B) BGB i. V. m. § 310 Abs. 1 S. 2 BGB zu prüfen, da nur Unternehmer am Rechtsgeschäft beteiligt sind.
d) Dabei hat das Bundesarbeitsgericht in einem obiter dictum entsprechende Regelungen ohne nähere Begründung für das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) ausdrücklich gebilligt (vgl. BAG, NZA 2005, 627).
e) Grundsätzlich hat das erkennende Gericht in Übereinstimmung mit dem BAG vorbehaltlich der Wirksamkeit der Regelungen des Mindestlohngesetztes (MiLoG) keine Bedenken an der Wirksamkeit entsprechender Klauseln.
Hier ist zur Überzeugung des Gerichts jedoch zu beachten, dass das Mindestlohngesetz für den Fall der sogenannten „Kabotage“ wegen eines Verstoßes gegen die europäische Grundfreiheit der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) unwirksam ist.
(1) Der Anwendungsbereich ist eröffnet, die sog. „Kabotage“ ist die vorübergehende Aufnahme und Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat, die zeitlich beschränkt und gegen Entgelt erbracht wird. Es werden von einem ausländischen Transportunternehmen Transportleistungen innerhalb eines anderen Staates der Europäischen Union erbracht.
Die Klagepartei als polnischer Unternehmer kann sich auch auf diese berufen.
Es liegt auch ein sog. „grenzüberschreitender Sachverhalt“ vor, nachdem gegenständlich im Sinne der positiven Dienstleistungsfreiheit der Kläger als Dienstleister sich zur Beklagten als Empfänger in einen anderen Mitgliedsstaat, d. h. die Bundesrepublik Deutschland, begibt und dort die Dienstleistung erfüllt.
(2) Weiter liegt auch ein Eingriff nach Maßgabe der „Dassonville-Formel“, eingeschränkt durch die „Keck-Formel“ vor.
Mit dem Mindestlohngesetz liegt zumindest eine „Maßnahme gleicher Wirkung“ im Sinne der „Dassonville-Formel“ vor. Eine solche ist jede mitgliedsstaatliche Maßnahme, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (vgl. Brigola, EuZW 2012, 248).
So liegt es auch hier, das MiLoG schreibt auch in Deutschland tätigen Transportunternehmern aus anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Zahlung des Mindestlohnes an ihrer Mitarbeiter vor. Die Zahlung des Lohnes stellt dabei eine (wesentliche) Kalkulationsgrundlage für das jeweilige Unternehmen dar, die in den elementaren Bereich des Unternehmens eingreift. Der Kläger als Unternehmer kalkuliert den von ihm zu verlangenden Transportlohn im Wesentlichen auch auf Grundlage des Arbeitsentgelts, welches er seinen Fahrern zu zahlen hat. Damit liegt auch ein Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit und nicht nur eine Dienstleistungsmodalität (Beispiel: Sonntagsfahrverbot) vor („Keck-Formel“ EuGH, Urteil vom 24.11.1993, Rs C-267/91 und C-268/91; ECLI:ECLI:EU:C1993:905, Rn. 16).
(3) Dieser Eingriff ist auch nicht gerechtfertigt.
Ein geschriebener Rechtfertigungsgrund i. S. d. Art. 62 AEUV i. V. m. Art. 52 AEUV liegt nicht vor.
Auch liegen keine ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe im Sinne der „Cassis-Formel“ vor (EuGH, Urt. V. 20.02.1979, Rs 120/78, ECLI:ECLI:EU:C:1979:42).
Hiernach ist ein Eingriff gerechtfertigt, wenn die mitgliedsstaatliche Maßnahme nicht offen diskriminierend ist, also unterschiedslos wirkt bzw. lediglich versteckt diskriminiert, einem zwingenden Erfordernis der Allgemeinheit dient und verhältnismäßig ist.
Hier mangelt es zumindest an der Verhältnismäßigkeit i. S. der Erforderlichkeit (zu dieser vgl: Leible in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 40. Afl. 2009, Art. 28 EGV Rn. 21 sowie EuGH, Urteil vom 13.12.1990, Rs. C-238/89, ECLI:ECLI:EU:C1990:473, Rn. 12).
Das Mindestlohngesetz erfasst von seinem Regelungsgehalt auch die kurzzeitige Entsendung von Arbeitnehmern zur Durchführung von Dienstleistungen in Deutschland ohne zu differenzieren.
So ist bereits – wie vorliegend – der einmalige Transport i. S. einer kurzzeitigen „Kabotage“-Fahrt erfasst, bei der der Arbeitnehmer sich nur für diese eine Fahrt in die Bundesrepublik Deutschland begibt, im Übrigen jedoch seinen Lebensmittelpunkt in einem anderen Mitgliedsstaat hat.
Der Schutzzweck des Gesetzes, gleiche Lebensverhältnisse in Deutschland zu schaffen und ein entsprechendes soziales Schutzniveau durch Zahlung eines Mindestlohnes, der zur Erhaltung des Lebensstandards ausreichend ist, zu ermöglichen, dieser Zweck ist im Hinblick auf kurzfristige Tätigkeiten, bei der die Arbeitnehmer letztlich ihren Wohnsitz im einem anderen Mitgliedsstaat behalten und hier nur kurzfristig tätig werden, nicht geboten.
Deren Lebensstandard richtet sich insoweit nicht nach den Lebenshaltungskosten in der Bundesrepublik Deutschland, sondern nach den Lebenshaltungskosten in ihrem jeweiligen Heimatland. Diese sind bezogen auf Polen beispielsweise noch deutlich niedriger, sodass eine Anwendung des Mindestlohngesetzes nicht erforderlich ist.
g) Damit war der Klage zu entsprechen, ein Zurückbehaltungsrecht steht der Beklagten nicht zu. Zumindest auf den vorliegenden grenzüberschreitenden Sachverhalt ist das MiLoG nicht anzuwenden. Das vertraglich vereinbarte Zurückbehaltungsrecht geht damit ins Leere.
2. Zu den Nebenansprüchen:
Die Geltendmachung der Kosten für die außergerichtliche Tätigkeit der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei ist auch der Höhe nach nicht zu beanstanden.
Der Zinssatz ist der gesetzliche für eine Entgeltforderung bei einem Rechtsgeschäft zwischen Unternehmern.
Zinsen waren ab dem Ablauf der von der Klagepartei durch ihren Prozessbevollmächtigten gesetzten außergerichtlichen Frist zuzusprechen. Zu einem früheren Zinslauf war nicht hinreichend vorgetragen.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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