Arbeitsrecht

Rente wegen voller Erwerbsminderung

Aktenzeichen  S 6 R 34/16

Datum:
1.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 43 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 2 S. 1, § 102 Abs. 2 S. 3, § 240

 

Leitsatz

Ist der Kläger bei einer Sparkasse beschäftigt, so ist der Tarifvertrag Öffentlicher Dienst für die Sparkassen anwendbar. Dass es der Sparkasse nicht möglich sein soll, den Kläger entsprechend seinem Leistungsvermögen mit einem zeitlichen Umfang von bis zu sechs Stunden zu beschäftigen, stößt auf erhebliche Zweifel.  (redaktioneller Leitsatz)
Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung schlägt bei anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeit nicht in eine Rente wegen voller Erwerbsminderung um. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Klage, gegen deren Zulässigkeit keine Bedenken bestehen, ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Daher ist der Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2015 rechtmäßig und kann die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzen.
1. Der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung ist in §§ 43 und 240 SGB VI geregelt. § 43 Abs. 1 SGB VI betrifft den Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und § 43 Abs. 2 SGB VI den auf Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Wer voll erwerbsgemindert ist, regelt § 43 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB VI. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist allerdings nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Kann der Versicherte täglich an fünf Tagen in der Woche gesundheitsbedingt nicht mehr sechs Stunden (aber mehr als drei Stunden) erwerbstätig sein, ist er nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI an sich nur teilweise erwerbsgemindert. Der Große Senat des Bundessozialgerichtes hatte allerdings bereits in seinen Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 und 10. Dezember 1976 (SozR Nr. 79 zu § 1246 RVU und SozR 2200 § 1246 Nr. 13) entschieden, dass eine teilweise Erwerbsminderung, wenn der allgemeine Arbeitsmarkt verschlossen ist, in die volle Erwerbsminderung „durchschlägt“. Dies hatte zur Folge, dass Versicherte auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit nicht verwiesen werden konnten, wenn ihnen für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen war. Nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucksache 14 – 4230 S. 25 zu Nr. 10) sollte diese konkrete Betrachtungsweise wegen der ungünstigen Arbeitsmarktsituation auch nach der Rentenreform im Jahre 2000 beibehalten werden. Dies ergibt sich unter anderem auch aus § 102 Abs. 2 Satz 3 SGB VI, der auf Renten „unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage“ abstellt. In der Praxis der Rentenversicherungsträger führt dies dazu, dass bei einem Leistungsvermögen von Versicherten unter sechs Stunden täglich eine volle Erwerbsminderungsrente bewilligt wird. Dem Versicherten ist der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, wenn ihm weder der Rentenversicherungsträger noch die zuständige Agentur für Arbeit innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages einen für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten können. Gibt der Versicherte einen ihm gesundheitlich und sozial zumutbaren (Teilzeit-)Arbeitsplatz freiwillig auf oder lehnt er ein entsprechendes Stellenangebot ab, so steht ihm unter dem Gesichtspunkt der Mitwirkung, aber auch unter Berücksichtigung der Grundsätze des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1976 (BSG in SozR 2200 § 1246 Nr. 13) ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht zu. Ein rein arbeitsvertraglich noch bestehendes Beschäftigungsverhältnis (z. B. aufgrund tarifvertraglicher Sonderregelungen), im Rahmen dessen der Versicherte die von ihm geschuldete Arbeitsleistung aufgrund der eingetretenen Leistungsminderung nicht mehr erbringen kann, hindert den Rentenanspruch hingegen nicht (Kamprad in: Hauck/Noftz, SGB VI K § 43 Rd.Nr. 23).
Mit Urteil vom 28. Juli 2010 – S 8 R 274/09 – hat die 8. Kammer des Sozialgerichts Würzburg diese Rechtsprechung und Praxis zum verschlossenen Teilzeitarbeitsmarkt für nicht mehr anwendbar gehalten. Hierzu ist in dem Urteil ausgeführt:
„Nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz (in Kraft seit 01.01.2001) haben Teilzeitbeschäftigte grundsätzlich die gleichen arbeitsrechtlichen Ansprüche wie Vollzeitbeschäftigte. Arbeitnehmer in Betrieben mit mehr als 15 Arbeitnehmern haben nach mindestens sechsmonatiger Beschäftigung einen einklagbaren Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit und auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit auf die Woche, wenn betriebliche Gründe nicht entgegen stehen. Weiterhin entscheidend für die Kammer, dass mittlerweile von einem verschlossenen Teilzeitarbeitsmarkt nicht mehr ausgegangen werden kann, ist insbesondere statistisches Datenmaterial. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg waren in Deutschland im Jahre 2007 insgesamt 35.291.000 Arbeitnehmer beschäftigt. Davon waren teilzeitbeschäftigt 11.839.000. Allein diese Zahlen zeigen, dass auf dem Teilzeitarbeitsmarkt ausreichend Anstellungsmöglichkeiten bestehen. Die Benennung eines konkreten Arbeitsplatzes ist deshalb nach Auffassung der Kammer nicht mehr erforderlich.“
Der Rechtsprechung der 8. Kammer des Sozialgerichts Würzburg vom 28. Juli 2010 – S 8 R 274/09 – ist die 6. Kammer mit den Urteil vom 3. Juli 2012 – S 6 R 135/11 – und vom 6. November 2012 – S 6 R 115/12 gefolgt.
2. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung.
2.1 Nach dem Gutachten von Dr. C., das nachvollziehbar und frei von Widersprüchen ist, sind der Klägerin Tätigkeiten im Umfang von weniger als sechs Stunden zumutbar. Damit hat die Klägerin Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, was von der Beklagten auch nicht bestritten wird.
2.2 Diese Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung schlägt nicht in eine Rente wegen voller Erwerbsminderung um.
2.2.1 Die Klägerin ist bei einer Sparkasse beschäftigt, so dass auf sie der Tarifvertrag Öffentlicher Dienst für die Sparkassen anwendbar ist. Bereits deshalb bestehen erhebliche Zweifel daran, dass es der Sparkasse nicht möglich sein soll, die Klägerin entsprechend ihrem Leistungsvermögen mit einem zeitlichen Umfang von bis zu sechs Stunden zu beschäftigen. Davon unabhängig hat die Klägerin nach § 81 Abs. 5 Satz 2 SGB IX einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit, weil die kürzere Arbeitszeit wegen Art und Schwere der Behinderung notwendig ist, was aufgrund des Gutachtens von Dr. C. feststeht. Aufgrund der Größe der Sparkasse, bei der die Klägerin tätig ist, ist es auch nicht vorstellbar, dass es der Sparkasse nicht zumutbar oder mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden wäre, der Klägerin einen entsprechenden Arbeitsplatz auch in diesem zeitlichen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Von daher hat die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung.
2.2.2 Davon unabhängig ist nach der aufgezeigten Rechtsprechung der Kammer sowie der 8. Kammer des Sozialgerichts Würzburg der Arbeitsmarkt nicht mehr verschlossen. Es besteht kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzurücken.
2.3 Demnach hat die Klägerin keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2015 ist somit rechtmäßig und kann die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzten.
Die Klage ist daher abzuweisen.
3. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und ist getragen von der Erwägung, dass die Klage keinen Erfolg hat.
4. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und ist getragen von der Erwägung, dass die Klage keinen Erfolg hat.

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