Aktenzeichen Au 2 K 20.3
Leitsatz
Tenor
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des … vom 5. Dezember 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids derselben Behörde vom 3. Dezember 2019 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erfüllungsübernahme vom 15. Mai 2018 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens hat der Beklagte vier Fünftel und der Kläger ein Fünftel zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren durch den Kläger war notwendig.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Klage ist (nur) insoweit begründet als der Kläger hier beanspruchen kann, dass der Beklagte über seinen Antrag auf Erfüllungsübernahme vom 15. Mai 2018 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entscheidet. Die im Bescheid des … vom 5. Dezember 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids derselben Behörden vom 3. Dezember 2019 enthaltene Ablehnung des Antrags auf Erfüllungsübernahme ist wegen rechtsfehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 2, § 114 Satz 1 VwGO). Soweit der Kläger begehrt, den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger den titulierten, aber nicht realisierbaren Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 2.500,00 EUR im Wege der Erfüllungsübernahme zu gewähren nebst Verzinsung in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit, ist die Klage unbegründet.
Nach Art. 97 Abs. 1 BayBG kann der Dienstherr die Erfüllung eines rechtskräftig festgestellten Anspruchs auf Schmerzensgeld übernehmen, der seinen Grund darin hat, dass ein Beamter in Ausübung des Dienstes oder außerhalb dessen wegen seiner Eigenschaft als Beamter einen tätlichen rechtswidrigen Angriff erleidet. Der Dienstherr kann den Anspruch bis zur Höhe des festgestellten Schmerzensgeldbetrages übernehmen, soweit dies zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig ist. Eine solche liegt nach Art. 97 Abs. 2 BayBG insbesondere vor, wenn die Vollstreckung über einen Betrag von mindestens 500,00 EUR erfolglos geblieben ist. Die Übernahme der Erfüllung ist innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Jahren nach Rechtskraft des Urteils schriftlich unter Nachweis der Vollstreckungsversuche zu beantragen (Art. 97 Abs. 3 Satz 1 BayBG).
Die Voraussetzungen für eine Erfüllungsübernahme nach Art. 97 BayBG liegen im vorliegenden Fall grundsätzlich vor. Der Kläger war bei der Rettung des Schädigers auf der Autobahn … durch dessen Gegenwehr in Ausübung seines Polizeivollzugsdienstes einem tätlichen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt und hat dabei (jedenfalls) die im Bescheid des … vom 28. April 2018 festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen „Schädelkontusion; HWS-Distorsion; Prellungen und Schürfungen rechter Ellenbogen, rechte Mittelhand und linkes Knie; Schürfwunden rechts thorakal dorsal; Hämatome thorakal dorsal beidseits“ erlitten. Aufgrund des gegen den Schädiger … deshalb erwirkten rechtskräftigen Versäumnisurteils des Amtsgerichts … vom 4. Januar 2017 verfügt der Kläger über einen rechtkräftig festgestellten Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgelds gegen einen Dritten in Höhe von 2.500,00 EUR.
Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, Versäumnisurteile könnten nur dann einen rechtskräftig festgestellten Anspruch im Sinne des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG ergeben, wenn die Höhe des dort tenorierten Schmerzensgeldes angemessen ist, vermag dies nicht zu überzeugen. Auch ein Versäumnisurteil stellt einen Anspruch rechtskräftig im Sinne des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG fest und unterliegt – anders als dies das Gesetz für Vergleiche gemäß Art. 97 Abs. 1 Satz 2 BayBG vorsieht – nicht dem Vorbehalt der Angemessenheit. Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG unterscheidet seinem Wortlaut nach nicht, auf welche prozessuale Weise die rechtskräftige Feststellung des Schmerzensgeldanspruchs zustande gekommen ist. Ein Versäumnisurteil erwächst ebenso wie ein Endurteil in formelle und materielle Rechtskraft, sodass dieses auch einen rechtskräftig festgestellten Anspruch im Sinne des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG begründen kann. Im Übrigen hat der Kläger vor dem Zivilgericht keine Einflussmöglichkeiten auf das Prozessverhalten des Beklagten, sodass es eine Klagepartei nicht in der Hand hat zu entscheiden, ob nunmehr ein Versäumnisurteil oder ein Endurteil ergeht. Dies kann dem Kläger jedoch nicht zum Nachteil gereichen. Zudem ist nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 97 Abs. 1 Satz 2 BayBG lediglich bei Vergleichen eine Einschränkung dahingehend vorzunehmen, dass Vergleiche nur dann einem rechtskräftig festgestellten Anspruch gleichstehen sollen, wenn die Höhe des im Vergleichsweg vereinbarten Schmerzensgeldes angemessen ist. Eine Korrektiv dieser Art sieht die Norm in Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG für durch Versäumnis- oder Endurteil rechtskräftig festgestellte Ansprüche auf Schmerzensgeld gerade nicht vor. Im Übrigen wäre eine solche Einschränkung für Versäumnis- oder Endurteile nach dem Sinn und Zweck der Norm auch nicht veranlasst. Bei Vergleichen nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO findet keine richterliche Kontrolle dahingehend statt, ob der festgesetzte Schmerzensgeldanspruch seiner Höhe nach auch durch die Schädigung und deren gesundheitliche Folgen gerechtfertigt ist. Aus diesem Grund liegt es auf der Hand, dem Dienstherrn zu ermöglichen, die Angemessenheit des im Wege eines Vergleichs zwischen den Parteien einvernehmlich vereinbarten Schmerzensgeldes zu überprüfen. Dieser Kontrollmöglichkeit bedarf es jedoch beim Vorliegen eines durch ein Versäumnisurteil erlangten Vollstreckungstitels nicht. Zwar werden bei einem Versäumnisurteil die Tatsachenbehauptungen des Klägers als wahr unterstellt (§ 330 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Jedoch hat das Gericht auf der Rechtsfolgenseite eine eigene Prüfung vorzunehmen, welcher Schmerzensgeldbetrag durch die Schädigung angemessen ist, da die Bestimmung der Höhe des zustehenden Schmerzensgeldes nach § 287 ZPO im Ermessen des Gerichts steht. Ein Schmerzensgeldanspruch, der in zivilprozessualer Hinsicht mittels Versäumnisurteils zustande gekommen ist, stellt somit (auch) einen rechtskräftig festgestellten Anspruch im Sinn des Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG dar (so bereits VG Würzburg, U.v. 28.1.2020 – W 1 K 19.792 – BeckRS 2020, 3573 Rn. 17).
Der Beklagte kann dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Erfüllungsübernahme auch nicht entgegenhalten, dass bislang keine (erfolglosen) Vollstreckungsversuche (Art. 97 Abs. 3 Satz 1 BayBG) nachgewiesen wurden. Im vorliegenden Fall hat der Kläger das ihm nach den Umständen des Falls Mögliche getan, um die Vollstreckung seines Anspruchs zu erreichen. Er hat durch die Einholung einer melderechtlichen Auskunft (Bl. 15 der Behördenakte) in Erfahrung gebracht, dass der Kläger in die … verzogen ist, wobei dieser der Meldebehörde keine genaue Wohnanschrift angegeben hat. Dass der Kläger hier keine weitergehenden Versuche unternommen hat, die zustellungsfähige Anschrift des Schädigers in der … zu ermitteln, steht dem geltend gemachten Erfüllungsübernahmeanspruch nicht entgegen, da nicht erkennbar ist, wie der Kläger dies ohne jegliche Anhaltspunkte zum Verbleib des Schädigers in zumutbarer Weise hätte bewerkstelligen können zumal der Beklagte in Bezug auf die gemäß Art. 14 Satz 1 BayBG infolge der an den geschädigten Beamten geleisteten Dienstunfallfürsorgeleistungen auf ihn übergegangenen gesetzlichen Schadensersatzansprüche nach den Angaben des Vertreters des Beklagten in der mündlichen Verhandlung selbst ebenfalls keine weitergehenden Versuche unternommen hat, die zustellungsfähige Anschrift des Schädigers in der … zu ermitteln. Ist der Aufenthaltsort des Schädigers in der … nicht bekannt und hat der Beamte die ihm zumutbaren Eigenbemühungen zur Ermittlung der Wohnanschrift des Schädigers ausgeschöpft, so ist dies grundsätzlich dem in Art. 97 Abs. 3 Satz 1 BayBG vorausgesetzten Fehlschlagen der Vollstreckung gleichzusetzen (vgl. Buchard in BeckOK Beamtenrecht Bayern, Stand 1. April 2019, Art. 79 BayBG Rn. 40.4).
Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG sieht auf der Rechtsfolgenseite die Erfüllungsübernahme „bis zur Höhe“ des festgestellten Betrages und mithin eine Ermessensentscheidung des Dienstherrn hinsichtlich der Höhe des zu übernehmenden Betrages vor. Ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Frage, ob eine Erfüllungsübernahme erfolgt ist, ist hingegen nicht gegeben (VG München, U.v. 5.7.2017 – M 5 K 16.4266 – juris). Eine Ermessensentscheidung hinsichtlich der Höhe des im Wege der Erfüllungsübernahme auszugleichenden Schmerzensgeldanspruchs hat der Beklagte hier aber nicht getroffen, da er zu Unrecht vom Fehlen sowohl eines rechtskräftig festgestellten Anspruchs im Sinn von Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG als auch von erfolglosen Vollstreckungsversuchen gemäß Art. 97 Abs. 3 Satz 1 BayBG ausgegangen ist (§ 114 Satz 1 VwGO).
Eine unbillige Härte im Sinn von Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG ist zudem auch nach Auffassung des Dienstherrn nicht ausgeschlossen, da dieser im Ausgangsbescheid (S. 3) und im Widerspruchsbescheid (S. 4) davon ausgeht, dass bei den im vorliegenden Fall festgestellten Verletzungen des Klägers zumindest ein Schmerzensgeld zwischen 255,65 EUR und 818,07 EUR als angemessen betrachtet werden kann und damit der in Art. 97 Abs. 2 BayBG genannte (Mindest-)Betrag übertroffen wäre. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass dem Schmerzensgeld eine Doppelfunktion zukommt. Zum einen dient es dem Ausgleich für Schäden nichtvermögensrechtlicher Art, zum anderen trägt es den Umstand Rechnung, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung schuldet für das, was er ihm angetan hat. Was als „billige“ und damit gerechte Entschädigung des Nichtvermögensschadens anzusehen ist, kann nur aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller maßgeblichen Fallumstände vor dem Hintergrund der Funktion des Schmerzensgeldes bestimmt werden. Hierzu stellt die einschlägige aktuelle Rechtsprechung einen wesentlichen Orientierungsrahmen dar. Im Hinblick auf die Ausgleichsfunktion richtet sich die Höhe des Schmerzensgeldes nach den hervorgerufenen Verletzungen, ihrer Versorgung, künftigen gesundheitlichen Risiken sowie den physischen und psychischen Auswirkungen auf den Verletzten und sein berufliches und soziales Leben. Hinsichtlich der Genugtuungsfunktion hingegen ist etwa der Verschuldensgrad sowie eine Mithaftung des Verletzten zu berücksichtigen. Im Hinblick der auf Seiten des Beklagten unter Bezugnahme auf „einschlägige Schmerzensgeldtabellen“ als Vergleichsrechtsprechung herangezogenen Fälle (z.B. AG Wiesbaden, U.v. 19.1.1993 – 97 C 1764/92; OLG Brandenburg, U.v. 4.11.2000 – 12 U 87/10; OLG Frankfurt a. Main, U.v. 22.11.1990 – 16 U 89/90 – BeckRS 1990, 115962) bleibt festzuhalten, dass die als maßgeblich eingestuften Entscheidungen älteren Datums sind (s. oben) und damit – auch unter Berücksichtigung aktuellerer Schmerzensgeld-Judikate (vgl. Slizyk, Schmerzensgeld, 16. Aufl. 2020) – in Bezug auf die angemessene Höhe des Schmerzensgelds nicht unerhebliche Zweifel an der Vergleichbarkeit der vom Beklagten herangezogenen Fälle bestehen.
Ein sonstiger Grund für eine Verweigerung der Erfüllungsübernahme (Gewährung einer einmaligen Unfallentschädigung nach Art. 62 BayBeamtVG oder eines Unfallausgleichs nach Art. 52 BayBeamtVG) ist nicht ersichtlich (Art. 97 Abs. 2 Satz 2 BayBG).
Der Klage war daher mangels Spruchreife (nur) mit der Verpflichtung des Beklagten zur Neuentscheidung stattzugeben (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Daraus folgend hat der Kläger derzeit keinen Anspruch auf Prozesszinsen nach § 291 Satz 1, § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO und berücksichtigt den jeweiligen Grad des Obsiegens und Unterliegens (vgl. hierzu z.B. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 155 Rn. 3 m.w.N.).
Der Anspruch auf die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe, die Berufung zuzulassen, liegen nicht vor (§ 124a Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 3 VwGO).