Arbeitsrecht

Sozialplan – mittelbare Benachteiligung wegen Behinderung

Aktenzeichen  1 AZR 590/18

Datum:
28.7.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BAG
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BAG:2020:280720.U.1AZR590.18.0
Normen:
§ 75 Abs 1 BetrVG
§ 1 AGG
§ 236a Abs 1 S 2 SGB 6
Spruchkörper:
1. Senat

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Köln, 17. Januar 2018, Az: 9 Ca 5075/17, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln, 13. September 2018, Az: 6 Sa 150/18, Urteil

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 13. September 2018 – 6 Sa 150/18 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Zinsen auf den Betrag iHv. 60.281,01 Euro brutto seit dem 1. Juli 2017 zu zahlen sind.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten zuletzt noch über die Höhe einer Sozialplanabfindung.
2
Der am 6. Juli 1957 geborene Kläger ist schwerbehinderter Mensch und war seit dem 25. Februar 1992 bei der Beklagten in deren Betrieb in P beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund Kündigung der Beklagten am 30. Juni 2017.
3
Im Hinblick auf die Schließung des Standorts P beschloss die Einigungsstelle am 16. September 2016 einen Sozialplan (SP), dessen Abschnitt B – Sozialplanleistungen – unter § 2 (Bemessung der individuellen Sozialplanleistungen) auszugsweise lautet:
        
„1.    
Abfindungen
        
        
Abfindungen erhalten anspruchsberechtigte Arbeitnehmer, die
        
        
(1)     
aus dem Arbeitsverhältnis mit W endgültig ausscheiden, weil …
        
        
        
(2)     
Arbeitnehmer, die zum Stichtag 31.03.2017 das 59. Lebensjahr vollendet haben und aufgrund der Kündigung wegen der Betriebsänderung aus dem Arbeitsverhältnis bei der W ausscheiden, weil
        
        
        
        
–       
sie kein Angebot gemäß … erhalten oder
        
        
        
        
–       
ein solches Angebot erhalten, aber ablehnen.
        
        
        
(3)     
Alle anderen Arbeitnehmer
        
        
…“    
        
        
        
4
Die von Abschn. B § 2 Ziff. 1 (2) SP erfassten anspruchsberechtigten Arbeitnehmer erhalten nach Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP als Abfindung „eine Zahlung in Höhe eines fiktiven Differenzbetrages“. Zu diesem heißt es unter Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP:
        
„Für jeden Arbeitnehmer werden die Bezugsgrößen
        
(1)     
Datum des regulären Renteneintritts,
        
(2)     
Datum des frühestmöglichen Renteneintritts,
        
(3)     
85 % des Bruttojahresgehalts (Bruttomonatsgehalt x 12),
        
(4)     
fiktiver Arbeitslosengeldanspruch (ALG Monat x Bezugsdauer, pauschal ermittelt),
        
(5)     
Anzahl Jahre zwischen rechtlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses und regulärem Renteneintritt (Volle Monate : 12 mit zwei Nachkommastellen),
        
(6)     
Anzahl Jahre zwischen dem frühestmöglichen Renteneintritt und dem regulären Renteneintritt (Volle Monate : 12 mit zwei Nachkommastellen),
        
(7)     
Anzahl Jahre zwischen rechtlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses und frühestmöglichem Renteneintritt (Volle Monate : 12 mit zwei Nachkommastellen),
        
[…]     
        
        
Die Berechnungsformel des fiktiven Differenzbetrages lautet:
        
85 % des Bruttojahresgehalts x Anzahl Jahre zwischen rechtlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses und frühestmöglichen Renteneintritts abzügl. fiktiver Arbeitslosengeldanspruch ((3) x (7) – (4))
        
zzgl. 
        
Anzahl Jahre zwischen dem frühestmöglichen Renteneintritt und dem regulären Renteneintritt x 12 x 230 EURO ((6) x 12 x 230 EURO)
        
zzgl. 
        
eines pauschalen Abfindungsbetrags für anerkannte Schwerbehinderte (GdB mind. 50 %) und Gleichgestellte (GdB mind. 30 % und Gleichstellungsbescheid) in Höhe von 1.000,00 EURO für jede im Zeitpunkt des Abschlusses des Interessenausgleichs festgestellte und der W zu diesem Zeitpunkt nachgewiesene volle 10 % GdB.
        
Die maßgeblichen Werte und Berechnungen für die einzelnen Arbeitnehmer ergeben sich aus der als ANLAGE 5 beigefügten Tabelle.
        
…“    
5
Die nach Abschn. B § 2 Ziff. 1.6 SP in der „Höchstsumme … pro Arbeitnehmer“ auf einen Maximalbetrag iHv. 100.000,00 Euro begrenzten Sozialplanleistungen sind nach Abschn. B § 4 Abs. 1 Satz 1 SP frühestens „zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses … fällig“. Nach Abschn. B § 7 Satz 1 SP müssen „Ansprüche aus diesem Sozialplan … binnen einer Ausschlussfrist von 3 Monaten nach Fälligkeit schriftlich jeweils bei der anderen Arbeitsvertragspartei geltend gemacht werden“.
6
Die Beklagte ermittelte für den unter Abschn. B § 2 Ziff. 1 (2) SP fallenden Kläger unter Berücksichtigung des pauschalen Abfindungsbetrags für anerkannte Schwerbehinderte iHv. 5.000,00 Euro iSv. Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP und eines frühestmöglichen Renteneintritts nach § 236a Abs. 2 Satz 2 SGB VI bei der Altersrente für schwerbehinderte Menschen eine Abfindung iHv. insgesamt 39.718,99 Euro. Läge der Berechnung ein frühestmöglicher Rentenbeginn ohne Schwerbehinderung zugrunde, ergäbe sich für den Kläger unter Berücksichtigung von Abschn. B § 2 Ziff. 1.6 SP eine Abfindung iHv. 100.000,00 Euro.
7
Der Kläger hat mit seiner der Beklagten am 8. September 2017 zugestellten Klage die Zahlung des Differenzbetrags nebst Zinsen geltend gemacht. Er hat die Ansicht vertreten, die Regelung in Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP bewirke eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung. Bei der Berechnung der Abfindung sei der Bezugsgröße „frühestmöglicher Renteneintritt“ das frühestmögliche Renteneintrittsalter für nicht schwerbehinderte Menschen zugrunde zu legen.
8
Der Kläger hat – soweit für die Revision noch von Bedeutung – beantragt,
        
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 60.281,01 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 1. April 2017 zu zahlen.
9
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
10
Soweit für die Revision von Bedeutung hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht ihr stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Entscheidungsgründe

11
Die Revision der Beklagten ist – bis auf den titulierten Zinsanspruch – unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Es hat zutreffend angenommen, dass die in Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP geregelte Ausgestaltung der Sozialplanabfindung für schwerbehinderte Menschen wie den Kläger gegen § 75 Abs. 1 BetrVG verstößt. Das führt dazu, dass der Kläger einen Anspruch auf Zahlung einer weiteren Abfindung in der geltend gemachten Höhe hat. Zinsen hierauf kann er allerdings erst ab dem 1. Juli 2017 beanspruchen.
12
I. Dem Kläger steht der geltend gemachte weitere Abfindungsanspruch nach dem SP iVm. dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Abs. 1 BetrVG zu.
13
1. Er unterfällt dem Geltungsbereich des SP und gehört zu den nach Abschn. B § 2 Ziff. 1 (2) SP anspruchsberechtigten Arbeitnehmern, deren Abfindung sich nach Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP berechnet. Darüber streiten die Parteien nicht.
14
2. Die in Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP niedergelegte Berechnung der Sozialplanabfindung verstößt gegen § 75 Abs. 1 BetrVG.
15
a) Sozialpläne unterliegen, wie andere Betriebsvereinbarungen, der gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle. Sie sind daraufhin zu überprüfen, ob sie mit höherrangigem Recht, wie insbesondere dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Abs. 1 BetrVG, vereinbar sind. Bei einer Entscheidung der Einigungsstelle über die Aufstellung eines Sozialplans gilt kein anderer Prüfungsmaßstab. Die Einigungsstelle ist bei der Ermessensausübung nach § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG an die Grundsätze des § 75 Abs. 1 BetrVG und im Fall der Aufstellung eines Sozialplans zudem an die Vorgaben des § 112 Abs. 5 BetrVG gebunden (BAG 6. Mai 2003 – 1 ABR 11/02 – zu B II 2 a der Gründe, BAGE 106, 95).
16
b) Arbeitgeber und Betriebsrat haben nach § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus den in der Vorschrift genannten Gründen unterbleibt. § 75 Abs. 1 BetrVG enthält nicht nur ein Überwachungsgebot, sondern verbietet zugleich Vereinbarungen, durch die Arbeitnehmer aufgrund der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt werden. Der Gesetzgeber hat die in § 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbote in § 75 Abs. 1 BetrVG übernommen. Die unterschiedliche Behandlung der Betriebsangehörigen aus einem in § 1 AGG genannten Grund ist daher nur unter den im AGG normierten Voraussetzungen zulässig (BAG 9. Dezember 2014 – 1 AZR 102/13 – Rn. 19, BAGE 150, 136).
17
c) Hiervon ausgehend wird der Kläger durch die Regelungen zur Höhe der Abfindung in Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP entgegen den Vorgaben des § 75 Abs. 1 BetrVG wegen seiner (Schwer-)Behinderung benachteiligt.
18
aa) Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP, wonach bei der Berechnung des als Abfindung zu zahlenden fiktiven Differenzbetrags (in einem ersten Teil) auf den „frühestmöglichen Renteneintritt“ als eine die Höhe der Abfindung bestimmende Bezugsgröße abgestellt wird, enthält eine mittelbar auf dem Kriterium der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung.
19
(1) Der Senat hat bereits entschieden, dass eine in einem Sozialplan zur Berechnung der Abfindung enthaltene Bestimmung, wonach die Abfindungshöhe für den Umfang der Absicherung auf den Zeitraum bis zum frühestmöglichen Wechsel der Arbeitnehmer in die gesetzliche Rente Bezug nimmt, eine mittelbar auf dem Kriterium der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung darstellt (BAG 16. Juli 2019 – 1 AZR 842/16 – Rn. 12; vgl. auch EuGH 6. Dezember 2012 – C-152/11 – [Odar] Rn. 57 ff.). Denn schwerbehinderte Menschen können gemäß § 236a Abs. 1 Satz 2 SGB VI zu einem früheren Zeitpunkt Altersrente vorzeitig in Anspruch nehmen als nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer. Auch die unter Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP niedergelegte Formel zur Berechnung der Abfindung legt (in ihrem ersten Teil) einen Faktor zugrunde, dessen Höhe sich nach dem Differenzzeitraum zwischen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und dem „frühestmöglichen Renteneintritt“ bestimmt.
20
(2) Ob mit der Regelung andere Arbeitnehmer – wie vor dem 1. Januar 1952 geborene Frauen (vgl. § 237a Abs. 1 SGB VI) oder besonders langjährig Versicherte (§ 38 SGB VI) – ebenso benachteiligt sind, ist für die Frage der Benachteiligung des Klägers ohne Bedeutung. Die (mittelbare) Benachteiligung weiterer Beschäftigtengruppen lässt die mittelbare Benachteiligung einer bestimmten Beschäftigtengruppe – hier: schwerbehinderter Arbeitnehmer – nicht entfallen. Die Ungleichbehandlung folgt aus dem gesetzlich unterschiedlich geregelten Lebensalter des frühestmöglichen Renteneintritts im Sinn einer vorzeitigen Inanspruchnahme von Altersrente. Sie ist damit normativ vorgegeben. Auf die Annahme des Landesarbeitsgerichts, es sei mangels hinreichenden Bestreitens davon auszugehen, die Bestimmung des Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP treffe im Betrieb der Beklagten nur Schwerbehinderte (und nicht auch andere Arbeitnehmer), kommt es damit ebenso wenig an wie auf die dagegen erhobenen Verfahrensrügen der Beklagten.
21
(3) Der Senat hat weiter im Anschluss an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH 6. Dezember 2012 – C-152/11 – [Odar] Rn. 61 f.) bereits entschieden, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer und nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer in Bezug auf die durch die Betriebsschließung verursachten wirtschaftlichen Nachteile in einer vergleichbaren Situation sind. Ihr Arbeitsverhältnis mit ihrem Arbeitgeber endet aus demselben Grund und unter denselben Voraussetzungen (BAG 16. Juli 2019 – 1 AZR 842/16 – Rn. 13; krit. Maschmann Anm. AP BetrVG 1972 § 112 Nr. 232).
22
bb) Die durch Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP bedingte Benachteiligung schwerbehinderter Menschen ist nicht gerechtfertigt.
23
(1) Zwar ist eine Berechnung der Abfindungshöhe wie hier im Sozialplan vorgesehen grundsätzlich von einem legitimen Ziel getragen. Denn damit soll entsprechend dem zukunftsgerichteten Entschädigungscharakter von Abfindungen den von der Betriebsschließung betroffenen Arbeitnehmern ein pauschalierter Ausgleich für das bis zum frühestmöglichen Renteneintritt entfallende Arbeitsentgelt bei gleichzeitiger Berücksichtigung der begrenzten Sozialplanmittel gewährt werden. Damit dient die Regelung einem legitimen Ziel, ohne dass dieses im Sozialplan ausdrücklich benannt werden muss (BAG 16. Juli 2019 – 1 AZR 842/16 – Rn. 16 f.). Auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union stellt die Gewährung eines Ausgleichs für die Zukunft entsprechend den Bedürfnissen der betroffenen Arbeitnehmer, die der Notwendigkeit der für einen Sozialplan nur begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel Rechnung trägt, ein rechtmäßiges Ziel dar (vgl. EuGH 19. September 2018 – C-312/17 – [Bedi] Rn. 61; 6. Dezember 2012 – C-152/11 – [Odar] Rn. 40 ff., 68).
24
(2) Die Regelung geht jedoch über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinaus.
25
(a) Durch das undifferenzierte Abstellen auf den „frühestmöglichen“ Wechsel in die gesetzliche Rente wird die durch dieses neutrale Kriterium bewirkte Ungleichbehandlung zum einen nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit der Behinderung zu tun haben (vgl. EuGH 6. Dezember 2012 – C-152/11 – [Odar] Rn. 67). Zum anderen führt dieses Tatbestandsmerkmal zu einer übermäßigen Beeinträchtigung der legitimen Interessen der schwerbehinderten Arbeitnehmer, da die Betriebsparteien damit zur Begrenzung der Höhe der diesen Arbeitnehmern zu zahlenden Abfindung an einen sozialversicherungsrechtlichen Vorteil anknüpfen, dessen Daseinsberechtigung gerade den Schwierigkeiten und den besonderen Risiken Rechnung tragen soll, mit denen schwerbehinderte Arbeitnehmer konfrontiert sind (vgl. EuGH 6. Dezember 2012 – C-152/11 – [Odar] aaO).
26
(b) Dem Risiko schwerbehinderter Menschen ist nicht deshalb – zur Wahrung der Erforderlichkeit – Rechnung getragen, weil nach der Berechnungsformel des Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP in die Ermittlung des als Abfindung zu zahlenden fiktiven Differenzbetrags noch zwei weitere – jeweils mit „zzgl.“ ausgedrückte – Teilbeträge (ein sog. Rentenverlustausgleich sowie ein Pauschbetrag für Schwerbehinderte) einfließen.
27
(aa) Schwerbehinderte Personen haben spezifische Bedürfnisse im Zusammenhang sowohl mit dem Schutz, den ihr Zustand erfordert, als auch mit der Notwendigkeit, dessen mögliche Verschlechterung zu berücksichtigen. Daher ist dem Risiko Rechnung zu tragen, dass Schwerbehinderte unabweisbaren finanziellen Aufwendungen im Zusammenhang mit ihrer Behinderung ausgesetzt sind und/oder dass sich ihre finanziellen Aufwendungen mit zunehmendem Alter erhöhen (EuGH 19. September 2018 – C-312/17 – [Bedi] Rn. 75; vgl. auch EuGH 6. Dezember 2012 – C-152/11 – [Odar] Rn. 69).
28
(bb) Insoweit sind die zwei Teilbeträge nicht geeignet, den Nachteil beim Abstellen auf den „frühestmöglichen Renteneintritt“ auszugleichen. Es kann daher dahinstehen, ob die Verfahrensrüge der Beklagten, das Landesarbeitsgericht habe in diesem Zusammenhang ihren Sachvortrag übergangen und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, zulässig und begründet wäre.
29
(aaa) Das gilt für den sog. Rentenverlustausgleich – berechnet nach der Formel „Anzahl Jahre zwischen dem frühestmöglichen Renteneintritt und dem regulären Renteneintritt x 12 x 230 EURO“ – bereits deshalb, weil auf ihn nicht nur schwerbehinderte Arbeitnehmer Anspruch haben. Eine mit ihm bewirkte Kompensation etwaiger Nachteile der Schwerbehinderten gegenüber nicht schwerbehinderten Arbeitnehmern scheidet aus.
30
(bbb) Auch der pauschale Schwerbehindertenzuschlag ist zum Ausgleich der mit dem Rechenansatz „frühestmöglicher Renteneintritt“ für schwerbehinderte Arbeitnehmer bewirkten Benachteiligung ungeeignet. Abgesehen davon, dass bei seiner Berücksichtigung eine ggf. aus anderen Gründen geregelte unmittelbare Bevorzugung Schwerbehinderter zur Rechtfertigung deren mittelbarer Benachteiligung herangezogen würde, erweist er sich bereits der Höhe nach als zur Kompensation untauglich. Die vorgesehene pauschale Erhöhung des Abfindungsbetrags iHv. 1.000,00 Euro für je 10 GdB – mithin maximal 10.000,00 Euro (für den Kläger iHv. 5.000,00 Euro) – vermag die Nachteile der Anknüpfung an den frühestmöglichen Renteneintritt nicht ansatzweise zu kompensieren. Einem maximalen Zuschlag von 10.000,00 Euro steht ein mindestens zwei Jahre eher liegender frühestmöglicher Renteneintritt – mithin ein Betrag iHv. 1,7 (= 2 x 0,85) Bruttojahresgehältern – gegenüber.
31
d) Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP verstößt damit gegen § 75 Abs. 1 BetrVG, weil die Regelung eine Benachteiligung schwerbehinderter Arbeitnehmer bewirkt. Der Einwand der Revision, die Argumentation des Senats in seiner Entscheidung vom 16. Juli 2019 (- 1 AZR 537/17 -) zu einer mittelbaren Benachteiligung schwerbehinderter Arbeitnehmer, wenn eine kollektivrechtlich begründete Abfindung in der Höhe maßgebend vom „frühestmöglichen Renteneintritt“ beeinflusst werde, betreffe (allein) einen Sozialtarifvertrag, verfängt nicht. Er vernachlässigt bereits, dass der Senat in einer weiteren Entscheidung vom selben Tag für einen (den Sozialtarifvertrag in Bezug nehmenden) Sozialplan nichts anderes angenommen hat (BAG 16. Juli 2019 – 1 AZR 842/16 -). Im Übrigen sind – wie bereits ausgeführt – die Betriebsparteien gemäß § 75 Abs. 1 BetrVG an die Grundsätze von Recht und Billigkeit sowie an den Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden. Das gilt ebenso für die Einigungsstelle. Insofern ist auch nicht zwischen Sozialplänen aufgrund freiwilliger Einigung und solchen, die auf Spruch der Einigungsstelle beruhen, zu differenzieren. Die Revision verkennt, dass mit den Vorgaben von § 112 Abs. 5 BetrVG zusätzliche – die allgemeine Abwägungsklausel des § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG konkretisierende – und keine die rechtlichen Maßstäbe des § 75 Abs. 1 BetrVG relativierenden Grundsätze aufgestellt sind.
32
3. Der Verstoß der Sozialplanbestimmung gegen § 75 Abs. 1 BetrVG bewirkt, dass dem benachteiligten Arbeitnehmer für die Vergangenheit ein Anspruch auf die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen ist (sog. „Anpassung nach oben“). Den Angehörigen der mittelbar benachteiligten Gruppe sind dieselben Vorteile zu gewähren wie den nicht benachteiligten Arbeitnehmern. Kann der Arbeitgeber – wie vorliegend – den Begünstigten für die Vergangenheit die gewährten Leistungen nicht mehr entziehen, ist eine solche zur Beseitigung der Diskriminierung erforderliche „Anpassung nach oben“ selbst dann gerechtfertigt, wenn sie zu erheblichen finanziellen Belastungen des Arbeitgebers führt (vgl. BAG 18. Februar 2016 – 6 AZR 700/14 – Rn. 32, BAGE 154, 118). Die Regelungen des Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP sind daher so anzuwenden, wie sie für vergleichbare nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer gegolten hätten (vgl. BAG 16. Juli 2019 – 1 AZR 842/16 – Rn. 21). Das begründet die Zahlung einer Abfindung, bei deren Berechnung der frühestmögliche Renteneintritt zugrunde zu legen ist, der für den Kläger gölte, wenn er nicht schwerbehindert wäre. Im Hinblick auf die im SP begrenzte Höchstsumme der Abfindung wären das – insoweit besteht kein Streit der Parteien – 100.000,00 Euro brutto, so dass unter Berücksichtigung der gewährten Abfindung die Klageforderung besteht.
33
4. Der Anspruch ist nicht verfallen; der Kläger hat die Ausschlussfrist nach Abschn. B § 7 SP mit der der Beklagten am 8. September 2017 zugestellten Klageschrift gewahrt.
34
II. Zinsen kann der Kläger im Hinblick auf die Fälligkeitsbestimmung von Abschn. B § 4 Abs. 1 Satz 1 SP gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 1 iVm. Abs. 1 Satz 1, § 288 Abs. 1 BGB erst ab dem 1. Juli 2017 verlangen.
        
    Schmidt    
        
    Ahrendt    
        
    K. Schmidt    
        
        
        
    H. Schwitzer    
        
    Rose    
        
        


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