Arbeitsrecht

Tarifliches Übergangsgeld – mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts – Pauschalierung von Ausgleichsansprüchen – Anwendung tariflicher Ausschlussfristen auf Versorgungsansprüche

Aktenzeichen  9 AZR 340/08

Datum:
15.2.2011
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BAG
Dokumenttyp:
Urteil
Normen:
§ 3 Abs 2 Halbs 2 AGG
§ 7 Abs 1 AGG
§ 1 AGG
§ 77 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB 6 vom 21.07.2004
§ 237a Abs 1 SGB 6
§ 237a Abs 2 SGB 6
§ 1 TVG
Spruchkörper:
9. Senat

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Düsseldorf, 18. April 2007, Az: 4 Ca 631/07, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf, 15. Februar 2008, Az: 9 Sa 955/07, Urteil

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 15. Februar 2008 – 9 Sa 955/07 – aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten, an sie über das 60. Lebensjahr hinaus ein tarifliches Übergangsgeld zu zahlen.
2
Die am 26. August 1946 geborene Klägerin und die Beklagte verband im Zeitraum vom 1. Oktober 1993 bis zum 31. August 2005 ein Arbeitsverhältnis. Die Beklagte, ein aus der ehemaligen Bundesanstalt für Flugsicherung hervorgegangenes privates Flugsicherungsunternehmen, nimmt die operativen Flugsicherungsaufgaben für den deutschen Luftraum wahr. Die Beklagte beschäftigte die Klägerin als Flugdatenbearbeiterin (FDB), zuletzt in ihrer Niederlassung Düsseldorf.
3
Kraft einzelvertraglicher Bezugnahme finden auf das Rechtsverhältnis der Parteien die für die Beklagte geltenden Tarifverträge Anwendung. Der „Manteltarifvertrag für die bei der DFS Deutsche Flugsicherung GmbH beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ vom 19. November 2004 (MTV) enthält ua. folgende Bestimmungen:
        
„§ 45 
        
Ausschlussfristen
        
(1)     
Gegenseitige Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwölf Monaten nach ihrer Entstehung schriftlich geltend gemacht werden. Die Frist verkürzt sich mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf sechs Monate.
        
…“    
        
4
Der „Tarifvertrag über die Übergangsversorgung für die bei der DFS Deutsche Flugsicherung GmbH beschäftigten Flugdatenbearbeiter im FVK“ vom 7. Juli 1993 in der Neufassung vom 19. November 2004 (Ü-VersTV-FDB) sieht ua. Folgendes vor:
        
„§ 1   
        
Geltungsbereich
        
Dieser Tarifvertrag gilt für alle Flugdatenbearbeiter im FVK – einschließlich der Flugdatenbearbeiter im FVK, die aus den operativen FVK-Diensten in andere Tätigkeiten gewechselt sind -, die in einem Arbeitsverhältnis mit der DFS Deutsche Flugsicherung GmbH (im Folgenden DFS) stehen und unter den Geltungsbereich des Manteltarifvertrages in der jeweils geltenden Fassung fallen.
        
§ 2     
        
Allgemeine Voraussetzungen
        
(1)     
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DFS erhalten vorbehaltlich der Regelung in Abs. 2 Übergangsgeld, wenn
        
        
a)    
sie das 59. Lebensjahr vollendet haben und
        
        
b)    
sie mindestens 25 Jahre im operativen FS-Dienst waren, davon wenigstens 15 Jahre im FVK und in den zurückliegenden 10 Jahren überwiegend im operativen Bereich und
        
        
c)    
sie ihre Erwerbstätigkeit bei der DFS beendet haben.
        
(2)     
Die Gewährung von Übergangsgeld ist ausgeschlossen, wenn die DFS bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses berechtigt war, das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grunde fristlos zu kündigen.
        
…     
        
        
§ 4     
        
Arbeitslosigkeit
        
Für die Zeit des Bezugs von Übergangsgeld nach Ausscheiden aus den Diensten der DFS verpflichten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sich nicht arbeitslos zu melden.
        
…       
        
§ 6     
        
Zahlungsmodalitäten
        
…     
        
(4)     
Die/der Mitarbeiterin/Mitarbeiter kann nach Vorliegen der Voraussetzungen für die Übergangsversorgung eine Teilabfindung der laufenden Übergangsleistungen verlangen …
        
§ 7     
        
Erlöschen und Ruhen des Anspruchs
        
(1)     
Der Anspruch auf Übergangsgeld erlischt
        
        
a)    
mit Beginn des Monats, von dem ab der/die ausgeschiedene Mitarbeiterin/Mitarbeiter Altersrente vor Vollendung des 65. Lebensjahres oder ähnliche Bezüge öffentlich-rechtlicher Art beanspruchen kann;
        
        
…       
        
        
(2)     
Der Anspruch erlischt auch dann nach Absatz 1 Buchstabe a, wenn Altersrente oder ähnliche Bezüge öffentlich-rechtlicher Art nur mit Abschlägen wegen vorzeitiger Inanspruchnahme bezogen werden können. Solange dies für Frauen mit einem geringeren Lebensalter als für Männer möglich ist, werden weibliche FDB, die am 1. November 2002
        
        
•       
in einem aktiven Beschäftigungsverhältnis mit der DFS stehen oder
        
        
•       
sich in der Übergangsversorgung nach diesem Tarifvertrag befinden
        
        
und spätestens am 01.01.2003
        
        
•       
das 51. Lebensjahr vollendet haben,
        
        
•       
am 01.01.2003 nicht älter als 59 Jahre sind (Ziffer 10 b SR FS-Dienste)
        
        
und     
        
        
•       
sozialversicherungspflichtig Übergangsversorgung nach diesem Tarifvertrag bis zum frühestmöglichen Renteneintritt bezogen haben bzw. beziehen werden,
        
        
durch Zahlung eines Rentenverlustausgleichs (brutto) hinsichtlich ihrer Gesamtversorgung aus Altersrente und DFS-Altersruhegeld so gestellt, wie ein vergleichbarer männlicher FDB gestellt ist, der zum frühestmöglichen Zeitpunkt aus der Übergangsversorgung ausscheidet bzw. ausgeschieden ist. Die Höhe der Zahlung wird zunächst durch Vergleich der Gesamtversorgung der ehemaligen Mitarbeiterin mit der Übergangsversorgung eines vergleichbaren männlichen Kollegen, jeweils nach Abzug der üblicherweise anfallenden gesetzlichen Abzüge, für jeweils 12 Kalendermonate im Voraus bestimmt. Ab dem Zeitpunkt des frühestmöglichen Eintritts des männlichen vergleichbaren Kollegen in die Altersversorgung werden die Gesamtversorgungsbezüge (brutto) verglichen und etwaige Differenzen der ehemaligen Mitarbeiterin brutto ausgeglichen.
        
…       
        
        
§ 9     
        
Mitwirkungs- und Erstattungspflichten
        
(1)     
Der/die ausgeschiedene Mitarbeiterin/Mitarbeiter ist verpflichtet, frühestmöglich Antrag auf Altersrente oder vergleichbare Leistungen zu stellen, die zum Erlöschen des Anspruchs auf Übergangsgeld führen, und die DFS hierüber unverzüglich zu unterrichten.
        
…“   
        
5
Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete am 31. August 2005, da die Klägerin zu diesem Zeitpunkt die tarifvertragliche Altersgrenze von 59 Jahren erreichte.
6
Im Zeitraum vom 1. September 2005 bis zum 31. August 2006 zahlte die Beklagte an die Klägerin Übergangsgeld.
7
Mit Wirkung zum 31. August 2006 stellte die Beklagte die Zahlung von Übergangsgeld an die Klägerin mit der Begründung ein, der Anspruch der Klägerin sei gemäß § 7 Abs. 1 Buchst. a Ü-VersTV-FDB erloschen.
8
Ab dem 1. September 2006 bezog die Klägerin neben einer Versichertenrente der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder eine monatliche Altersrente der Deutschen Rentenversicherung. Darüber hinaus zahlte die Beklagte an die Klägerin ein vorzeitiges betriebliches Altersruhegeld. Die Klägerin, die privat krankenversichert ist, führte monatlich Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ab. Nach § 10 iVm. § 7 des „Tarifvertrags über die Kranken- und Pflegeversicherung für die bei der DFS Deutsche Flugsicherung GmbH beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ vom 19. November 2004 erhalten Mitarbeiter, die – wie die Klägerin – nicht ehemals Beamte waren, zwar während des Bezugs von Übergangsgeld, nicht jedoch während des Bezugs von Altersrente einen Zuschuss zur Krankenversicherung.
9
Die Beklagte zahlte an die Klägerin nach näherer Maßgabe des § 7 Abs. 2 Ü-VersTV-FDB einen monatlichen Rentenverlustausgleich. Diesen berechnete die Beklagte auf der Grundlage des durchschnittlichen Krankenversicherungsbeitrags in der gesetzlichen Krankenversicherung, ohne den steuerlichen Besonderheiten des jeweiligen Mitarbeiters Rechnung zu tragen.
10
Mit Schreiben vom 15. November 2006 rügte die Klägerin gegenüber der Beklagten, die Berechnung des Rentenverlustausgleichs sei fehlerhaft.
11
Unter dem 14. Dezember 2006 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten geltend, die tariflichen Regelungen des Ü-VersTV-FDB benachteiligten sie im Vergleich zu männlichen Mitarbeitern.
12
Die Klägerin hat die Rechtsauffassung vertreten, die Beklagte sei verpflichtet, das Übergangsgeld bis zur Vollendung ihres 63. Lebensjahres fortzuzahlen. Die Regelungen des § 7 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 Satz 1 und § 9 Abs. 1 Ü-VersTV-FDB verstießen ungeachtet des Rentenverlustausgleichs nach § 7 Abs. 2 Ü-VersTV-FDB gegen das Diskriminierungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG. Im Wege einer Angleichung an die für Männer geltende Regelung habe die Beklagte die Übergangsversorgung bis zum 31. August 2009 zu leisten. In diesem Zusammenhang behauptet die Klägerin, 90 % der bei der Beklagten tätigen Flugdatenbearbeiter seien privat krankenversichert. Zumindest sei die Beklagte verpflichtet, den ihr durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente entstehenden finanziellen Verlust auszugleichen.
13
Die Klägerin hat vor dem Landesarbeitsgericht beantragt
        
1.    
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres – also für die Zeit vom 1. September 2006 bis zum 31. August 2009 – Übergangsgeld nach dem Ü-VersTV-FDB vom 7. Juli 1993 in der jeweils gültigen Fassung zu zahlen,
        
hilfsweise
        
2.    
die Beklagte zu verurteilen, ihr zum Ausgleich der ihr durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente für Frauen entstehenden Nachteile in der Zeit vom 1. September 2006 bis zum 31. August 2009 über den bereits geleisteten Rentenverlustausgleich gemäß § 7 Abs. 2 Ü-VersTV-FDB weitere Ausgleichsleistungen zu zahlen, und zwar
        
        
a)    
für die Zeit vom 1. September bis zum 31. Oktober 2006 monatlich 542,87 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jeweils ab dem Folgemonat,
        
        
b)    
für die Zeit vom 1. November bis zum 31. Dezember 2006 monatlich 615,49 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jeweils ab dem Folgemonat,
        
        
c)    
für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August 2007 monatlich 504,57 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jeweils ab dem Folgemonat,
        
        
d)    
für die Zeit vom 1. September bis zum 31. Oktober 2007 monatlich 442,14 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem Folgemonat und
        
        
e)    
ab dem 1. November 2007 monatlich 516,94 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jeweils ab dem Folgemonat,
        
höchst hilfsweise
        
3.    
festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, sie unter Berücksichtigung der Beiträge und Arbeitgeberzuschüsse zur Sozialversicherung und zur privaten Krankenversicherung sowie unter Berücksichtigung auch der nachträglich erfolgenden Steuerabzüge hinsichtlich ihres Nettoeinkommens so zu stellen wie ein männlicher Flugdatenbearbeiter in der Vergütungsgruppe 6 Stufe 3 des Eingruppierungstarifvertrags, der bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres Übergangsgeld nach dem Ü-VersTV-FDB beziehen kann, gestellt ist.
14
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie ist der Ansicht, die Differenzierung aufgrund eines unterschiedlichen Renteneintrittsalters sei sachlich gerechtfertigt, da die Tarifvertragsparteien an die rentenversicherungsrechtlichen Vorgaben des Gesetzgebers anknüpften. Zudem kompensiere der in § 7 Abs. 2 Satz 2 Ü-VersTV-FDB vorgesehene Ausgleich die Abschläge in ausreichender Weise. Den Tarifvertragsparteien stehe bei der Ausgestaltung des Rentenverlustausgleichs ein Gestaltungsspielraum zu, den sie nach zulässigen generalisierenden und typisierenden Merkmalen ausgefüllt hätten. Es sei rechtlich nicht zu beanstanden, bei der Berechnung des auszugleichenden Verlusts auf die üblicherweise anfallenden gesetzlichen Abzüge abzustellen.
15
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.


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