Arbeitsrecht

Zur Auslegung eines Tarifvertrages

Aktenzeichen  3 Sa 405/20

Datum:
1.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 45359
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
ArbGG § 64, § 66 Abs. 1, § 69 Abs. 2
BGB § 133, § 157

 

Leitsatz

1. Die Auslegung einer Tarifnorm hat nach ständiger Rechtsprechung der anzuwendenden Auslegungsgrundsätzen des Bundesarbeitsgerichts für den normativen Teil eines Tarifvertrags zu erfolgen. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Abzustellen ist auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dies Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Bleiben auch dann Zweifel, können die Arbeitsgerichte weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

8 Ca 501/19 2020-01-21 Endurteil ARBGAUGSBURG ArbG Augsburg

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Augsburg vom 21.01.2020 – 8 Ca 501/19 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen
2. Die Revision wird nicht zugelassen

Gründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
I.
Die nach § 64 Abs. 2 lit. a) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO, und damit zulässig.
II.
Die Berufung ist aber unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht und mit zutreffenden Ausführungen den Anspruch der Klägerin auf Zahlung von 30,00 € brutto als weiteres Weihnachtsgeld gemäß § 17 Ziff. 1 Satz 1 MTV bejaht. Hierauf wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG ausdrücklich Bezug genommen. Das Berufungsvorbringen der Beklagten vermag eine andere rechtliche Beurteilung nicht zu begründen.
1. Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus § 17 Ziff. 1 Satz 1 und Satz 2 MTV. Dies folgt aus der Auslegung der Tarifnorm. Insoweit ist zwischen den Parteien unstreitig, dass die Auslegung nach den in ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts anzuwendenden Auslegungsgrundsätzen für den normativen Teil eines Tarifvertrags zu erfolgen hat (vgl. BAG, Urteil vom 22.04.2010 – 6 AZR 962/08 – Rn. 17 m.w.N.).
Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dies Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfrei Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG, Urteil vom 22.04.2010, 6 AZR 962/08, NZA 2011, 1293 Rn. 17).
2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt mit der Nephrologie-Zulage eine regelmäßig wiederkehrende Zulage im Sinne des § 17 Ziff. 1 Satz 1 MTV vor, die bei der Berechnung des Weihnachtsgeldes zu berücksichtigen ist, weil sie keine sonstige Vergütung darstellt, § 17 Ziff. 1 Satz 2 MTV.
Nach dem Wortlaut des Satz 1 des § 17 Ziff. 1 Satz 1 MTV erhalten die Arbeitnehmer ein Weihnachtsgeld in Höhe von 100% des für den Monat November maßgeblichen Tarifgehaltes zuzüglich regelmäßig wiederkehrender Zulagen. Danach ist das Tarifgehalt um solche Vergütungsbestandteile zu erhöhen, die 1. Zulagen sind und 2. regelmäßig wiederkehren. Die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung enthält Satz 2 des § 17 Ziff. 1 MTV: „Sonstige Vergütungen … bleiben unberücksichtigt …“.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist Satz 2 damit nicht überflüssig. Er trägt vielmehr zum besseren Verständnis der in § 17 Ziff. 1 Satz 1 MTV gemeinten Vergütungsbestandteile für die Berechnung des Weihnachtsgeldes bei. Regelmäßig wiederkehrende Zulagen werden für dessen Berechnung berücksichtigt, sonstige Vergütungen nicht. Dieser Sinngehalt des Satz 2 verdeutlicht sich auch im Klammerzusatz, der mit der Umschreibung „z.B. §§ 13, 14 MTV“ auf Beispiele nicht berücksichtigungsfähiger sonstiger Vergütungen hinweist. Dabei bleibt mit der Formulierung „z.B. §§ 13, 14 MTV“ nur scheinbar offen, ob die Tarifvertragsparteien damit auf §§ 13, 14 MTV insgesamt oder nur auf die dort geregelten Beispiele sonstiger Vergütungen verweisen wollten, die nicht regelmäßig wiederkehrende Zulagen sind. Für eine nur eingeschränkte Verweisung spricht bereits, dass § 17 Ziff. 1 S. 2 MTV lediglich „sonstige Vergütungen“ von der Berücksichtigung im Rahmen des Weihnachtsgeldes ausnimmt. Regelungen in §§ 13, 14 MTV, die sich auf Anderes beziehen, können nicht als Beispiel für eine sonstige Vergütung dienen. Dies gilt etwa für den Ausgleich für Dienste zu ungünstigen Zeiten in Form von freien Tagen (§ 13 Ziff. 5, 6, 7 MTV) bzw. grundsätzliche Regelungen zur Rufbereitschaft (§ 14 Ziff. 1 – 5 MTV) und Freizeitausgleich (§ 14 Ziff. 6 b) MTV). Diese Regelungen spielen für die Berechnung des Weihnachtsgeldes keine Rolle. Darüber hinaus sprechen der systematische Zusammenhang des Satz 2 zu Satz 1 und der sonst bestehende Widerspruch dieser Bestimmungen dafür, den Klammerzusatz „z. B. §§ 13, 14“ als Verweisung auf Beispiele sonstiger, d. h. nicht regelmäßig wiederkehrender Vergütungen in §§ 13, 14 MVT zu verstehen. Andernfalls würde § 17 Abs. 1 Satz 2 MTV die Berücksichtigung eines Vergütungsbestandteils ausschließen, der durch § 17 Ziff. 1 Satz 1 MTV gerade geboten wäre. Es kann aber den Tarifvertragsparteien nicht unterstellt werden, eine widersprüchliche und damit unvernünftige Regelung treffen zu wollen. Gegen die Annahme der Beklagten, § 17 Ziff. 1 Satz 2 MTV sei lex speciales zu § 17 Ziff. 1 Satz 2 MTV spricht schließlich ein rechtstechnisches Argument: ein Beispiel (hier: „z. B.“) ist keine generelle Regelung des Normsetzenden, sondern eine Verdeutlichung der vorangehenden Regelung. Der Klammerzusatz „z.B. §§ 13, 14 MTV“ in § 17 Ziff. 1 Satz 2 MTV ist daher dahin zu verstehen, dass nur auf diejenigen sonstigen Vergütungen i. S. d. §§ 13, 14 MTV, die nicht regelmäßige wiederkehrende Zulagen sind, verwiesen wird.
Für dieses Verständnis spricht schließlich die Tarifhistorie, auf die sich gerade der Beklagte beruft. Zur Zeit des erstmaligen Inkrafttretens des MTV 1993 zum 01.04.1993 enthielt § 13 lediglich Zuschläge, die nicht regelmäßig wiederkehrten. Es handelte sich dabei um Überstundenzuschläge (§ 13 Ziff. 1 MTV 1993), Zuschläge für Arbeit an Sonn- und Feiertagen sowie während der Nacht (§ 13 Ziff. 3 a), 3 b) und 3 c)) und für Arbeiten in Zweier-Wechselschicht und Dreier-Wechselschicht (§ 13Ziff. 3 d) und 3 e)). Der damalige pauschale Verweis auf „sonstige Vergütungen z.B. §§ 13, 14 MTV“ 1993 machte Sinn. Demgegenüber ist nunmehr zwischen Zuschlägen, die sonstige Vergütung darstellt, und Zulagen, die monatlich zahlbar und damit regelmäßig wiederkehrend sind, zu unterscheiden, wie die geänderten Überschriften des § 13 MTV nahelegen. Während § 13 MTV 1993 lediglich „Überstundenvergütung, Zuschläge und Ausgleich für Dienste zu ungünstigen Zeiten“ näher bestimmte, regelt § 13 MTV schon ausweislich der Überschrift „Überstundenvergütung, Zuschläge, Ausgleich für Dienste zu ungünstigen Zeiten und Springerzulage“.
Darüber hinaus spricht der Sinn und Zweck des § 17 Ziff. 1 MTV für die Berücksichtigung auch der Nephrologie-Zulage. Mit 100% des für den Monat November maßgeblichen Tarifgehalts und den regelmäßig wiederkehrenden Zulagen wollten die Tarifvertragsparteien den Arbeitnehmern erkennbar ein Weihnachtsgeld gewähren, das dem Niveau ihres regelmäßigen monatlichen Einkommens entspricht. Würde die monatliche Nephrologie-Zulage bei der Berechnung des Weihnachtsgeldes unberücksichtigt bleiben, würde dieses Niveau nicht erreicht werden. Dabei ist ein „enger Zusammenhang mit dem Tarifgehalt“ auch bei der Nephrologie-Zulage gegeben. Sie wird nur an Arbeitnehmer gezahlt, die eine abgeschlossene bzw. anerkannte Fachweiterbildung Nephrologie aufweisen können und somit von ihrer Person und für die Anforderungen ihres Arbeitsplatzes besonders qualifiziert sind. Diese Qualifikation fließt regelmäßig in die Bemessung des Gehalts mit ein. Dementsprechend spricht gerade auch die Berücksichtigung über- und außertariflicher Zulagen bei der Berechnung des Weihnachtsgeldes, die unstreitig und ohne konkrete Regelung im MTV erfolgt, für die Berücksichtigung auch der monatlich gezahlten Nephrologie-Zulage. Allen diesen Zulagen ist gemein, dass sie regelmäßig wiederkehrend für die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers in Ergänzung des Tarifgehalts gezahlt werden. Demgegenüber werden Überstundenzuschläge, Zuschläge für Wechselschichten, Zuschläge für Sonn-, Feiertagsund Nachtarbeit etc. nicht für die Arbeitsleistung als solche, sondern für deren besondere Bedingungen gezahlt.
Schlussendlich spricht nicht die Tarifpraxis gegen diese Auslegung. Die Nephrologie-Zulage wurde erst mit Wirkung zum 01.01.2017 eingeführt. Eine „Praxis“ ist im November 2018, d.h. im zweiten Jahr der Einführung noch nicht entstanden. Durch die Vereinbarung der Springerzulage (§ 13 Nr. 1 MTV) und der Nephrologie-Zulage (§ 13 Nr. 9 MTV) haben die Tarifvertragsparteien vielmehr weitere Regelungen eingeführt, die durch Auslegung in den sonst unverändert gebliebenen Tarifvertrag so einzupassen sind, dass er vernünftig, sachgerecht, zweckorientiert und praktisch brauchbar ist.
III.
Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen.
IV.
Es bestand kein Grund, die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen. Die vorliegende Entscheidung erfolgt auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und in Übereinstimmung mit einem gleichgelagerten Fall des LAG D-StadtBrandenburg (vgl. LAG D-Stadt-Brandenburg, Urteil vom 28.08.2020 – 13 Sa 1670/19 -).


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