Baurecht

Leistungen, Schadensersatz, Vergabeverfahren, Vergabekammer, Bauvorhaben, Vergabe, Feststellung, Leistung, Direktvergabe, Eilantrag, Leistungserbringung, Baustelle, Vertrag, Angebot, Vorwegnahme der Hauptsache, Kosten des Verfahrens, ohne Auftrag

Aktenzeichen  3194.Z3-3_01-21-26

Datum:
3.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 17137
Gerichtsart:
Vergabekammer
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GWB § 169 Abs. 3
GWB § 132

 

Leitsatz

1. § 169 Abs. 3 GWB gilt damit nach seinem klaren Wortlaut nur in einem Vergabeverfahren und erlaubt nur Einwirkungen auf ein Vergabeverfahren.
2. § 169 Abs. 3 GWB bietet keine Rechtsgrundlage, um die weitere Durchführung eines ge-schlossenen Vertrags, der unter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Durchführung eines EU-weiten Vergabeverfahren geschlossen wurde, zu untersagen.
3. Es spricht viel dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland mit der derzeitigen Fassung des § 169 Abs. 3 GWB bzw. der fehlenden Möglichkeit, überhaupt vor den Nachprüfungsinstanzen gegen einen faktischen Vollzug eines öffentlichen Auftrags, der unter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Durchführung eines EU-weiten Vergabeverfahren geschlossen wurde, mit vorläufigen Maßnahmen vorzugehen, Art. 2 Abs. 1 Ziffer a) der Rechtsmittelrichtlinie (2007/66/EG) unzureichend umgesetzt hat.
4. 4.Allerdings wendet sich Artikel 2 Abs. 1 Ziffer a) der RL 2007/66/EG ausschließlich an die Mitgliedsstaaten, so dass eine direkte Anwendung der Richtlinie nicht in Betracht kommt.

Tenor

1. Der Antrag der Antragstellerin vom 26.04.2021, dem Auftraggeber nach § 169 Abs. 3 GWB zu untersagen, den Vertrag mit der Firma G… K… GmbH über Tiefbauarbeiten im Rahmen des Bauvorhabens „F…-Nord, 3. Btl. WA 12 Baugrube-Verbau“ bis zu einer Entscheidung über den Nachprüfungsantrag weiter zu vollziehen, wird zurückgewiesen
2. Eine Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten.

Gründe

I.
Die Antragsgegnerin veröffentlichte am 31.03.2020 eine Bekanntmachung im Supplement des Amtsblattes der Europäischen Union, dass sie beabsichtige im Bauvorhaben „F… Nord, 3. Btl.WA12“, die Leistung „F…-Nord-3Bt-WA12-Baugrube-Verbau“, Vergabenummer …, im Wege eines Offenen Verfahrens zu vergeben.
Das Angebot der Antragstellerin stellte ausweislich des Submissionsprotokolls vom 04.05.2020 seinerzeit das niedrigste Angebot dar. Die Antragsgegnerin schloss die Antragstellerin gleichwohl vom Vergabeverfahren aus, weil diese in einem vorangegangenen Altauftrag schlecht geleistet habe.
Die Antragstellerin ging mit Nachprüfungsverfahren Az.: 3194.Z3-3_01-20-26 vor der Vergabekammer Südbayern gegen den Ausschluss vor. Nach einem rechtlichen Hinweis der Vergabekammer, dass der Ausschluss die Antragstellerin in ihren Rechten verletze, half die Antragsgegnerin dem Nachprüfungsverfahren ab und erteilte der Antragstellerin am 17.11.2020 den Zuschlag. Mit Schreiben vom 01.03.2021 kündigte die Antragsgegnerin der Antragstellerin den Auftrag und begründete dies damit, dass mit einer vollständigen Leistungserbringung bis zum vertraglichen Fertigstellungstermin nicht zu rechnen sei und die Antragstellerin trotz Aufforderung mit Fristsetzung und Kündigungsandrohung ihre Kapazitäten nicht erhöht habe.
Mit Schreiben vom 29.03.2021 beauftragte die Antragsgegnerin die Firma G… K… GmbH mit den Restarbeiten. Diese Firma hat von der Antragsgegnerin in einem europaweiten Vergabeverfahren (2019/S …) einen Auftrag über Baugrubensicherung und Verbau in einem Bauvorhaben „MK 6, R… Bau“ erhalten. Die Antragsgegnerin hat die verfahrensgegenständlichen Erdarbeiten als Nachtrag zu dem ursprünglichen Auftrag in der R…, der an die Firma K… GmbH ging, bei dieser beauftragt, wobei der Wert des Nachtrags unter 15% des Wertes des ursprünglich erteilten Auftrags liegt.
Das Bauvorhaben, für welches die Firma G… K… GmbH den Zuschlag erhalten hat, ist ein Neubau von 223 Wohneinheiten mit Flexiheim, Supermarkt, Restaurant, Kita, Gewerbe und Tiefgarage in der R… im Münchner Stadtteil S…, während das streitgegenständliche Bauvorhaben ein Neubau von 133 Woheinheiten, ein integriertes Haus für Kinder mit sechs Gruppen und Tiefgarage umfasst und sich im Münchner Stadtteil A… befindet. Die beiden Baufelder sind Luftlinie gut 12km voneinander entfernt.
Am 22.04.2021 rügte die Antragstellerin die Vergabe der streitgegenständlichen Leistungen an die Firma G… K… GmbH.
Nachdem den Rügen der Antragstellerin nicht abgeholfen wurde, stellte die Antragstellerin mit Schreiben vom 26.04.2021 einen Nachprüfungsantrag und beantragte unter anderem ein Nachprüfungsverfahren gemäß § 160 Abs. 1 GWB über die Vergabe der Tiefbauarbeiten im Bauvorhaben „F…-Nord, 3. Btl. WA 12 Baugrube-Verbau“ einzuleiten sowie dem Antragsgegner zu untersagen, den Vertrag mit der Firma G… K… GmbH über Tiefbauarbeiten im Rahmen des Bauvorhabens „F…-Nord, 3. Btl. WA 12 Baugrube-Verbau“ bis zu einer Entscheidung über den Nachprüfungsantrag weiter zu vollziehen.
Der Vertrag zwischen der Antragsgegnerin und der Firma G… K… GmbH über die streitgegenständlichen Tiefbauleistungen sei eine unzulässige Direktvergabe. Es lägen auch keine Ausnahmetatbestände vor, die eine Direktvergabe rechtfertigen könnten. Insbesondere dürfe die Antragsgegnerin die Restarbeiten nicht nachträglich dem 20%-Kontingent nach § 3 Abs. 9 VgV zuzuordnen. Da die Firma G… K… GmbH bisher auch nicht am Bauprojekt, für das die streitgegenständliche Leistung zu erbringen wäre, beteiligt sei, komme auch keine Beauftragung im Rahmen einer Vertragsänderung in Betracht.
Nach Angaben der Antragstellerin werde die Firma G… K… GmbH die streitgegenständlichen Restarbeiten binnen der nächsten zwei Wochen abgeschlossen haben, so dass durch die Fortsetzung der Arbeiten vollendete und irreversible Fakten geschaffen würden. Ein nach Auftragsausführung durch die Vergabekammer ergangener Beschluss, mit dem die Unwirksamkeit des Auftrags festgestellt würde, liefe ins Leere. Die Antragstellerin habe jedoch weiterhin ein erhebliches Interesse an dem streitgegenständlichen Auftrag und hätte im Falle einer Ausschreibung ein Angebot abgegeben.
Für die Antragsgegnerin drohten dagegen andererseits keine substanziellen Nachteile, würden die Arbeiten während der Dauer des Nachprüfungsverfahrens ausgesetzt. Unabhängig von den Erfolgsaussichten des Nachprüfungsantrags seien ohnehin weitere Leistungen auszuschreiben. Nach Kenntnis der Antragstellerin seien noch gar nicht sämtliche Leistungen für das Projekt ausgeschrieben. Hätte der Nachprüfungsantrag Erfolg, würde dies die (ja noch gar nicht begonnenen) Vergabeverfahren und Bauarbeiten nicht verzögern. Zeitverlust, Bauverzug und unnötiger Stillstand der Baustelle der Antragsgegnerin sei insoweit nicht ersichtlich und auch nicht zu befürchten.
Die Antragsgegnerin erwiderte auf den Nachprüfungsantrag mit Schriftsatz vom 28.04.2021 und beantragte unter anderem, den auf § 169 Abs. 3 Satz 1 GWB gestützten Antrag der Antragstellerin aus dem Schriftsatz vom 26.04.2021 zurückzuweisen.
Der Eilantrag sei bereits deswegen unzulässig, da § 169 Abs. 3 GWB nur vorläufige Maßnahmen in Bezug auf das Vergabeverfahren gestatte, ein laufendes Vergabeverfahren existiere aber nicht, so dass der Eilantrag schon nach dem Wortlaut des § 169 Abs. 3 GWB unzulässig sei. Darüber hinaus würde er eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache darstellen, da der Vertrag mit der Firma G… K… GmbH bis zur Feststellung der Unwirksamkeit als wirksam gelte und die Durchführung daher nicht ohne Vorwegnahme der Hauptsache untersagt werden könne.
Der Eilantrag sei zudem unbegründet, da die verfahrensgegenständlichen Restarbeiten nach der Kündigung des Auftrags mit der Antragstellerin als Nachtrag zum Auftrag über Baugrubensicherung und Verbau im Bauvorhaben „MK 6, R… Bau“ im Rahmen einer Auftragserweiterung nach § 132 Abs. 3 GWB vergeben worden seien. Die Voraussetzungen der Auftragserweiterung nach § 132 Abs. 3 GWB lägen vor, insbesondere übersteige der Wert der Änderungen nicht den Schwellenwert für Bauaufträge und betrage nicht mehr als 15% des ursprünglichen Auftragswertes. Auch ändere sich der Gesamtcharakter des Auftrags durch die Beauftragung der zusätzlichen Erdarbeiten nicht, da es sich ebenfalls um Erdarbeiten handle.
Ein Baustopp wäre zudem unverhältnismäßig, da die zwangsläufige Folge eine weitere erhebliche Verzögerung dieses Gewerks sowie eine Verschiebung der Termine aller Folgegewerke wäre. Insbesondere seien die Baumeisterarbeiten bereits ausgeschrieben und stünden unmittelbar bevor, so dass diese erheblich behindert würden.
Die Beteiligten wurden durch den Austausch der jeweiligen Schriftsätze informiert. Auf die ausgetauschten Schriftsätze, die Verfahrensakte der Vergabekammer sowie auf die Vergabeakten, soweit sie der Vergabekammer vorgelegt wurden, wird ergänzend Bezug genommen.
II.
Die Vergabekammer Südbayern ist für die Überprüfung des streitgegenständlichen Vergabeverfahrens zuständig.
Die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Vergabekammer Südbayern ergibt sich aus §§ 155, 156 Abs. 1, 158 Abs. 2 GWB i. V. m. §§ 1 und 2 BayNpV.
Gegenstand der Vergabe ist ein Bauauftrag i. S. d. § 103 Abs. 3GWB. Die Antragsgegnerinist Auftraggeber gemäß §§ 98, 99 Nr. 2 GWB. Der geschätzte Gesamtauftragswert der Baumaßnahme überschreitet den gemäß § 106 GWB maßgeblichen Schwellenwert in Höhe von 5.350.000 Euro erheblich.
Eine Ausnahmebestimmung der §§ 107 – 109 GWB liegt nicht vor.
1. Dem Antrag, die Vertragsdurchführung vorläufig zu untersagen, kann nicht stattgegeben werden, da sie Statthaftigkeit eines solchen Antrags fraglich ist und die Abwägung nicht zugunsten der Antragstellerin ausfällt.
1.1 Es ist bereits unklar, ob der konkrete, von der Antragstellerin gestellte Antrag nach § 169 Abs. 3 GWB, die Vertragsdurchführung vorläufig zu untersagen, überhaupt statthaft ist, da der Wortlaut des § 169 Abs. 3 GWB einen Eingriff mit vorläufigen Maßnahmen nur in ein Vergabeverfahren, nicht aber in die Vertragsdurchführung gestattet.
Nach § 169 Abs. 3 GWB kann die Vergabekammer auf besonderen Antrag mit weiteren vorläufigen Maßnahmen in das Vergabeverfahren eingreifen, wenn Rechte des Antragstellers aus § 97 Abs. 6 GWB im Vergabeverfahren auf andere Weise als durch den drohenden Zuschlag gefährdet sind. Die Vorschrift gilt damit nach ihrem klaren Wortlaut nur in einem Vergabeverfahren und erlaubt nur Einwirkungen auf ein Vergabeverfahren.
Im vorliegenden Fall läuft aber kein Vergabeverfahren, sondern die Antragsgegnerin hat die G… K… GmbH, die auf einer anderen Baustelle der Antragsgegnerin Erdarbeiten durchführt bzw. durchgeführt hat, über einen „Nachtrag“ mit den Leistungen in F… beauftragt. Diese Leistungen werden derzeit ausgeführt.
§ 169 Abs. 3 GWB bietet keine Rechtsgrundlage, um die Durchführung eines geschlossenen Vertrags, der möglicherweise unter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Durchführung eines EUweiten Vergabeverfahren, geschlossen wurde, zu untersagen.
Da das GWB auch in den weiteren Vorschriften über das Nachprüfungsverfahren keinen Rechtsschutz vor der Vergabekammer gegen den faktischen Vollzug vergaberechtswidrig abgeschlossener Verträge vorsieht, müsste die Antragstellerin einstweilige Verfügung vor den ordentlichen Gerichten beantragen (Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG). Deren Erfolgsaussichten würden dann u.a. von den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens vor der Vergabekammer abhängen.
1.2 Allerdings spricht nach Auffassung der Vergabekammer Südbayern viel dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland mit der derzeitigen Fassung des § 169 Abs. 3 GWB bzw. der fehlenden Möglichkeit, überhaupt vor den Nachprüfungsinstanzen gegen einen faktischen Vollzug eines öffentlichen Auftrags mit vorläufigen Maßnahmen vorzugehen, Art. 2 Abs. 1 Ziffer a) der Rechtsmittelrichtlinie (2007/66/EG) unzureichend umgesetzt hat.
Artikel 2 Abs. 1 Ziffer a) der RL 2007/66/EG verpflichtet die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass für Nachprüfungsverfahren die erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden, um den behaupteten Verstoß zu beseitigen oder weitere Schädigungen der betroffenen Interessen zu verhindern; dazu gehören auch Maßnahmen, um das Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags oder die Durchführung jeder sonstigen Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers auszusetzen oder die Aussetzung zu veranlassen.
Da diese Vorgaben auch für Nachprüfungsverfahren nach Art. 2d der RL 2007/66/EG gelten, müssten die deutschen Nachprüfungsinstanzen nach Auffassung der Vergabekammer Südbayern die Befugnis haben, die Durchführung von sonstigen Entscheidungen des öffentlichen Auftraggebers – wie z.B. eine Bedarfsdeckung durch faktischen Vollzug eines unter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Durchführung eines EUweiten Vergabeverfahren geschlossenen Vertrags – vorläufig bis zum Abschluss des Nachprüfungsverfahrens zu untersagen.
Es liefe dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes zuwider, wenn ein öffentlicher Auftraggeber, der einen Vertrag unter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Durchführung eines EUweiten Vergabeverfahren geschlossen hat, diesen während des laufenden Nachprüfungsverfahren vollständig ausführen könnte, ohne dass die Nachprüfungsinstanzen dies im Einzelfall untersagen könnten. Ist der Beschaffungsbedarf einmal vollständig gedeckt, läuft die Sanktion der Nichtigkeitsfeststellung des Vertrags gem. § 135 Abs. 1 GWB ins Leere. Zudem ist in einem solchen Fall auch Schadensersatz für den Antragsteller kaum zu erlangen, wenn er kein Angebot abgeben durfte. Der Vergaberechtsschutz würde komplett leer laufen.
1.3 Allerdings wendet sich Artikel 2 Abs. 1 Ziffer a) der RL 2007/66/EG ausschließlich an die Mitgliedsstaaten, so dass es eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV bedürfte, um zu klären, ob § 169 Abs. 3 GWB gegen seinen Wortlaut richtlinienkonform so ausgelegt werden kann, dass mit der Gefährdung von Rechten im Vergabeverfahren in § 169 Abs. 3 GWB nicht allein gemeint ist, dass Rechte der Antragstellerin in einem noch laufenden Vergabeverfahren gefährdet sein müssen, sondern dass diese Rechte auch durch ein unzulässigerweise durch Zuschlag beendetes Vergabeverfahren, d.h. durch die Durchführung eines Vertrags, gefährdet werden können, gegen welches ein Nachprüfungsantrag zulässig erhoben wurde.
Die Vergabekammer verzichtet jedoch auf eine Vorlage dieser Frage an den EuGH, da ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV im vorliegenden Fall schon allein aufgrund seiner Dauer untunlich ist und der Antrag nach § 169 Abs. 3 GWB zudem unbegründet ist und es daher auf die Klärung dieser Frage nicht ankommt.
2. Die nach § 169 Abs. 3 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 GWB vorzunehmende Interessensabwägung führt jedenfalls dazu, dass die von der Antragstellerin begehrte Anordnung nicht zu treffen ist.
2.1 Nach § 169 Abs. 3 Satz 2 GWB gilt bei der Beurteilung, ob einem Antrag auf vorläufige Maßnahmen zur Sicherung von Rechten des Antragstellers im Vergabeverfahren stattgegeben wird, ebenfalls der Prüfungsmaßstab des § 169 Abs. 2 S. 1 GWB. Danach sind in persönlicher Hinsicht nicht nur die Interessen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin, sondern auch die Interessen der Allgemeinheit und die Interessen der übrigen am Vergabeverfahren Beteiligten, z.B. des Zuschlagsaspiranten, zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn dieser nicht beigeladen ist. In sachlicher Hinsicht geht es um die Wahrung oder gar Verbesserung der Zuschlagschancen der Antragstellerin und zugleich um deren Interesse an der Gewährung eines effektiven (Primär-)Rechtsschutzes sowie um die möglichen wirtschaftlichen Auswirkungen der zu prüfenden Entscheidungsvarianten. Zu beachten ist weiter das Interesse des Auftraggebers, die beabsichtigte Beschaffungsmaßnahme – auch mit Blick auf ihre volkswirtschaftliche Bedeutung, auf die Vermeidung von Kostensteigerungen oder die durch die Beschaffung zu erfüllenden im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben – zügig durchzuführen (vgl. OLG Naumburg, Beschluss vom 18.10.2019 – 7 Verg 4/19).
2.2. Im Rahmen der Gesamtbetrachtung und nach Abwägung aller Interessen, überwiegen im streitgegenständlichen Verfahren die Aspekte, welche gegen den Erlass von vorläufigen Maßnahmen sprechen.
2.2.1. Die Vergabekammer hat bei der Abwägung nicht außer Acht gelassen, dass die Antragsgegnerin den streitgegenständlichen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet wäre. Die Voraussetzungen für eine vergaberechtsfreie Auftragsänderung nach § 132 Abs. 3 GWB liegen nach vorläufiger Rechtsauffassung der Vergabekammer nicht vor.
Zwar erfüllt der von der Antragsgegnerin beauftragte Nachtrag bei der Firma G… K… GmbH die Voraussetzungen, dass der Wert der Änderung weder den jeweiligen Schwellenwerte nach § 106 GWB noch 15% der ursprünglichen Auftragssumme übersteigt, jedoch ändert sich durch den Nachtrag der Gesamtcharakter des ursprünglichen Auftrags.
Zu der Frage, wann der Gesamtcharakter des Auftrags gewahrt bleibt, existiert bislang keine einschlägige Rechtsprechung und auch die Kommentarliteratur hat das Thema bisher sehr vage behandelt (vgl. Ziekow in Ziekow/Völlink, GWB § 132 Rn. 41). Insbesondere hat diese Frage in der Rechtsprechung des EuGH bisher keinen Niederschlag gefunden (Hüttinger in Burgi/Dreher, Beck’scher Vergaberechtskommentar, GWB § 132 Rn. 52).
Im Erwägungsgrund 109 der RL 2014/24/EU ist als Grenze für den Erhalt des Gesamtcharakters eines Auftrages aufgeführt, dass „beispielsweise die zu beschaffenden Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen durch andersartige Leistungen ersetzt werden oder indem sich die Art der Beschaffung grundlegend ändert“. Dem Gesamtcharakter eines Auftrags prägt damit nicht nur die Auftragsart oder der Vertragstyp, sondern gerade auch die beschaffte Leistung selbst. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Formulierung des Erwägungsgrundes 109 im französischen und englischen Richtlinientext hinzuzieht. Sowohl die französische Formulierung „par exemple lorsque les travaux, fournitures ou services faisant l’objet du marché sont remplacés par une commande différente ou que le type de marché est fondamentalement modifié“ als auch die englische „for instance by replacing the works, supplies or services to be procured by something different or by fundamentally changing the type of procurement“ stützen die Auslegung, dass sich der Gesamtcharakter des Auftrags ändert, wenn die ursprünglich beschaffte Leistung oder der ursprünglich beschaffte Gegenstand durch eine andere Leistung ersetzt oder im Falle der Auftragserweiterung ergänzt werden soll.
Im vorliegenden Fall handelt es sich zwar bei dem Nachtrag vom 29.03.2021 weiterhin um Bauleistungen und sogar um Leistungen des Erdbaus. Diese sind jedoch auf einer völlig anderen Baustelle zu erbringen wie die Arbeiten, mit welchen die Firma G… K… GmbH ursprünglich betraut worden war. Es handelt sich dabei auch nicht lediglich um eine geringfügige Änderung des Ortes der Leistungserbringung wie dies bei Lieferleistungen unter Umständen noch ohne großen Aufwand möglich wäre. Es geht stattdessen um die Erbringung von Leistungen auf einer völlig anderen Baustelle. Dort muss der entsprechende Auftragnehmer unter anderem in den Bauablauf neu eingebunden werden, schweres Gerät muss zur Baustelle gebracht werden und die Baustelle muss neu von ihm für die Erbringung der entsprechenden Leistung eingerichtet werden. Bei der Erbringung von Bauleistungen ist die konkrete Baustelle auf welcher die Leistung zu erbringen ist schon auf Grund des komplexen Zusammenspiels von Bauleitung, verschiedenen Gewerken und verschiedenen Unternehmern, bestimmend für den Gesamtcharakter des Auftrags und kann damit in der Regel nicht über eine Auftragsänderung nach § 132 Abs. 3 GWB verändert werden.
Im Übrigen ergäben sich gerade für große öffentliche Auftraggeber, die gleichzeitig zahlreiche Baustellen betreiben, erhebliche Umgehungsmöglichkeiten des Vergaberechts, da sie Gewerke über das 20% Kontingent hinaus, nicht nur nicht EUweit, sondern gar nicht ausschreiben müssten und sie stattdessen direkt als „Nachtrag“ an die bereits vorhandenen Auftragnehmer ähnlicher Gewerke bei anderen Baumaßnahmen vergeben könnten.
2.2.2. Die Vergabekammer hat auch das Interesse der Antragstellerin am Erhalt des Auftrags über die Restarbeiten in einem neuen Verfahren berücksichtigt.
Dabei fiel insbesondere ins Gewicht, dass die Antragstellerin selbst mitteilte, dass die Restbauarbeiten zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits fast abgeschlossen waren und in zwei Wochen beendet sein würden. Nach der erforderlichen Gewährung von rechtlichem Gehör und Einholung einer Stellungnahme der Antragsgegnerin mit kurzer Fristsetzung sowie der Zeit, welche die Vergabekammer für eine Entscheidungsfindung, Entscheidungsniederlegung und Zustellung des Beschlusses auch in einem Eilverfahren benötigt, werden die Restarbeiten nach den von der Antragstellerin beigebrachten Informationen zur Eilbedürftigkeit voraussichtlich nur noch eine Woche andauern. Dies entspräche bei einer Beauftragung am 29.03.2021 und einem vermuteten Beginn nach den darauf folgenden Osterfeiertagen etwa einem Restauftragswert von einem Fünftel bis maximal einem Viertel der Auftragssumme, mithin einem Restauftragswert von unter 85.000 €.
2.2.3. Ebenfalls in die Abwägung eingestellt hat die Vergabekammer, dass der Antragstellerin ein Vergütungsanspruch nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 VOB/B gegen die Antragsgegnerin zustehen kann, falls sich vor den ordentlichen Gerichten herausstellen sollte, dass Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung aus wichtigem Grund nicht vorgelegen haben und die Kündigung daher als freie Auftraggeberkündigung anzusehen ist. Die Antragstellerin kann damit möglicherweise die vereinbarte Vergütung für den ursprünglichen Auftrag abzüglich der ersparten Kosten verlangen. In diesem Fall hätte die Antragstellerin die Möglichkeit den entgangenen Gewinn aus dem ursprünglichen Auftrag zu erhalten.
2.2.4. Unter Berücksichtigung der Höhe des Restauftragswertes, der Möglichkeit der Antragstellerin den entgangenen Gewinn für den gekündigten Auftrag zu verlangen, den geringen Aussichten der Antragstellerin, den Restauftrag zur erhalten, sowie der der zu erwartenden Verzögerungen und Kostensteigerungen für die Auftraggeberin, überwiegen in der Gesamtbetrachtung die Aspekte, die gegen den Erlass einer vorläufigen Maßnahme sprechen.
Die Vergabekammer hat hierbei in sinngemäßer Heranziehung des § 169 Abs. 2 Satz 4 GWB insbesondere berücksichtigt, dass die Aussichten der Antragstellerin, den noch verbleibenden Restauftrag zu erhalten, recht gering sein dürften. Der Vergabekammer ist aus anderen Nachprüfungsverfahren bekannt, dass gerade im Erdbaubereich derzeit eine starke Konkurrenzsituation zwischen den Unternehmen um öffentliche Aufträge besteht, so dass mit einer regen Beteiligung und knapp kalkulierten Angeboten zahlreicher Bieter zu rechnen ist.
Auch aufgrund des geringen Restauftragswert dürfte es in einem hypothetischen künftigen Vergabeverfahren über die Restleistungen für die Antragstellerin schwierig sein, ein günstigeres Angebot abzugeben als z.B. der derzeitige Auftragnehmer, der bereits Maschinen und Baustelleneinrichtung vor Ort hat.
Zudem ist das Verhältnis zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin durch die erfolgten rechtlichen Auseinandersetzungen tiefgreifend gestört. Ausgehend von den Erfahrungen aus dem Nachprüfungsverfahren des vergangenen Jahres mit dem Az. 3194.Z3-3_01-20-26 und dem Vorgehen bei der jetzigen Beauftragung der G… K… GmbH, ist nicht zu erwarten, dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin einfach bezuschlagen würde, wenn es dieser tatsächlich gelänge, das wirtschaftlichste Angebot abzugeben. Stattdessen ist zu befürchten, dass weitere Rechtstreitigkeit folgen würden, z.B. weil die Antragsgegnerin wegen der Kündigung des Vertragsverhältnisses vom 01.03.2021 versuchen könnte, Ausschlussgründe gegenüber der Antragstellerin geltend zu machen. Eine weitere Zusammenarbeit der Antragstellerin mit der Antragsgegnerin erscheint derzeit nicht zielführend.
Ungeachtet der Zweifel, ob eine Anordnung, die Vertragsdurchführung vorläufig zu untersagen, vor dem Hintergrund der deutschen Umsetzung der Rechtsmittelrichtlinie überhaupt rechtlich möglich, gebietet damit auch die Interessenabwägung keine derartige vorläufige Maßnahme.
3. Kosten des Verfahrens
Eine Kostenentscheidung ist beim vorliegenden Verfahrensstand nicht veranlasst und bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten Hinweis Die Entscheidung der Vergabekammer ist gem. § 169 Abs. 3 Satz 3 GWB nicht selbständig, sondern nur zusammen mit der Entscheidung in der Hauptsache anfechtbar.


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