Baurecht

Unzulässigkeit einer Asylbewerberunterkunft in Industriegebiet

Aktenzeichen  M 9 K 19.6444

Datum:
18.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 42806
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB § 34 Abs. 2, § 246 Abs. 10
BauNVO § 9 Abs. 3 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Als Unterkunft für Menschen, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben, verträgt sich eine Asylbewerberunterkunft nicht mit den emmissionsstarken, störungsintensiven Gewerbebetrieben, wie sie in einem Industriegebiet zulässig sind. Auch wenn sie nicht dem Wohnen dienen, stehen sie doch dieser Nutzungsart erheblich näher als einer industriegebietstypischen gewerblichen Nutzung.   (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Angesichts dessen, dass es sich bei Industriegebieten um die immissionsstärksten und störungsunempfindlichsten Baugebiete der BauNVO handelt, sind derartige Unterkünfte im Industriegebiet somit nicht gebietsverträglich, da sie mit der Zweckbestimmung des Gebiets unvereinbar sind. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Beklagten vom 4.12.2019 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages vorläufig vollstreckbar.  

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klage ist begründet, da der Bescheid des Beklagten vom 4. Dezember 2019 rechtswidrig ist und den Kläger in nachbarschützenden Rechten, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren, verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Richtet sich die Zulässigkeit eines Vorhabens im unbeplanten Innenbereich seiner Art nach nach den Vorschriften der Baunutzungsverordnung (§ 34 Abs. 2 i.V.m. der jeweiligen Vorschrift der BauNVO über den Gebietstyp), so steht dem Nachbarn eines in demselben Gebiet liegenden Grundstücks kraft Bundesrecht ein Abwehrrecht in Gestalt eines Gebietserhaltungsanspruchs gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung zu (BVerwG, B.v. 22.12.2011, 4 B 32.11). Da § 34 Abs. 2 BauGB faktische Baugebiete hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung den festgesetzten Baugebieten gleichstellt und deshalb derselbe Nachbarschutz besteht wie bei bauplanerischen Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung, ist bei einer fehlerhaften Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung auch im faktischen Baugebiet ein nachbarlicher Abwehranspruch gegeben (BVerwG, B.v. 27.8.2013, 4 B 39.13). Diese Rechtsprechung zu § 31 Abs. 2 BauGB lässt sich auf § 246 Abs. 10 BauGB bzw. § 246 Abs. 12 BauGB übertragen (vgl. BayVGH, U.v. 14.2.2018 – 9 BV 16.1694 – juris, zur Befreiungsvorschrift § 246 Abs. 10 BauGB).
Von diesen Grundsätzen ausgehend verletzt die angefochtene Baugenehmigung die Rechte des Klägers, da die streitgegenständliche Asylbewerberunterkunft in einem faktischen Industriegebiet, wie vorliegend, weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig ist und die Befreiungsvoraussetzungen des hier maßgeblichen § 246 Abs. 10 bzw. 12 BauGB nicht eingehalten sind. Der Gebietserhaltungsanspruch des Klägers ist durch die Baugenehmigung vom 4. Dezember 2019 verletzt.
2. Nach Durchführung des Augenscheins am 18. November 2020, unter Berücksichtigung der Verhältnisse vor Ort sowie der vorgelegten Unterlagen und Einlassungen der Beteiligten steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die für das Bauvorhaben maßgebliche Umgebungsbebauung offensichtlich einem faktischen Industriegebiet entspricht. Die Umgebung ist durch Gewerbebetriebe geprägt, die nach dem Dafürhalten der Kammer unter Berücksichtigung des Ergebnisses des Augenscheins in anderen Gebieten unzulässig sind (§ 9 BauNVO).
Industriegebiete dienen ausschließlich der Unterbringung von Gewerbebetrieben, und zwar vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind (§ 9 Abs. 1 BauNVO). Zulässig sind Gewerbebetriebe aller Art, Lagerhäuser, Lagerplätze und öffentliche Betriebe (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO) sowie Tankstellen (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO). Nach seinem Hauptzweck ist dem Industriegebiet die Unterbringung erheblich störender Gewerbebetriebe vorbehalten (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2010 – 4 C 10.09 – juris Rn. 20). Industriegebiete liegen typischerweise getrennt von Wohngebieten und sollen allenfalls den durch die Gewerbebetriebe ausgelösten Besucherverkehr bewältigen; für Erholung und Vergnügen sind sie nicht bestimmt (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 23.98 – juris Rn. 12). Demgegenüber ist es die Zweckbestimmung von Gewerbegebieten, solchen Betrieben einen Standort zu bieten, die im Hinblick auf ihre spezifischen Standortanforderungen und ihre Auswirkungen zu Unzuträglichkeiten in Gebieten führen würden, in denen auch oder sogar vorwiegend gewohnt werden soll (BVerwG, U.v. 25.11.1983 – 4 C 21.83 – juris Rn. 11). Industrie- und Gewerbegebiete unterscheiden sich darin, dass die Erheblichkeit der Nachteile und Belästigungen der Maßstab dafür ist, ob der Gewerbebetrieb noch im Gewerbegebiet oder nur im Industriegebiet zulässig ist (BVerwG, U.v. 25.11.1983 a.a.O. Rn. 12); insoweit kennt das Gewerbegebiet eine „Obergrenze“ für Immissionen (vgl. Pützenbacher in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 2. Auflage 2018, § 9 Rn. 15). Industrie- und Gewerbegebiete haben andererseits gemeinsam, dass in ihnen Gewerbebetriebe aller Art allgemein zulässig sind; auszugehen ist insoweit vom gleichen Begriff (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Feb. 2020, § 9 BauNVO Rn. 19). Der Begriff „vorwiegend“ in § 9 Abs. 1 BauNVO lässt es somit zu, dass – neben dem o.g. Hauptzweck des Industriegebiets, der Unterbringung vorwiegend solcher Betriebe, die in anderen Baugebieten unzulässig sind – auch andere Gewerbebetriebe den Gebietscharakter mitbestimmen können, ohne allerdings das Industriegebiet vorwiegend oder überwiegend zu prägen. Gewerbebetriebe, die den zulässigen Störgrad „erheblich belästigend“ nicht erreichen, sind daher vom Gebietscharakter des Industriegebiets nicht von vornherein ausgeschlossen. Insofern können im Industriegebiet auch solche Gewerbebetriebe zulässig sein, die z.B., weil sie nicht erheblich belästigend sind, auch im Gewerbegebiet zulässig sind (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, a.a.O., § 9 BauNVO Rn. 8a m.w.N.; VGH München Urt. v. 9.9.2020 – 9 BV 17.2417, BeckRS 2020, 24819 Rn. 20-22, beck-online). Faktisch ist das Industriegebiet dem produzierenden und verarbeitenden Gewerbe vorbehalten, das Dienstleistungsgewerbe spielt hier nur eine untergeordnete Rolle (Pützenbacher in: Bönker/Bischopink, Baunutzungsverordnung, BauNVO § 9 Rn. 19). Ob ein Vorhaben oberhalb der Schwelle des in den Gewerbegebieten an Störungen Zulässigen liegt, wird vielfach zunächst (unter Berücksichtigung von § 15 Abs. 3 BauNVO) danach beurteilt, ob es einer Genehmigung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) unterliegt; dabei wird unterschieden, ob das förmliche (§ 10 BImSchG) Verfahren oder das vereinfachte (§ 19 BImSchG) anzuwenden ist. Im ersten Fall wird vermutet, dass das Vorhaben im Gewerbegebiet unzulässig ist und im Zweiten, dass es eines Industriegebiets nicht bedarf (Ziegler in: Brügelmann, § 9 BauNVO, Rn. 7, Band 6). Gewerbebetriebe mit einer Störschwelle, die oberhalb derjenigen der Gewerbegebiete liegt, kommen nur in Betracht, sofern diese zu stark emittieren (Ziegler in: Brügelmann, § 9 BauNVO, Rn. 8, Band 6). Herkömmlich unterscheiden sich die Industriegebiete von den Gewerbegebieten auch im Erscheinungsbild. Die Industriegebiete sind von industriellen Anlagen, v.a. von Großanlagen geprägt während zu den Gewerbegebieten im Bereich des produzierenden Gewerbes v.a. das Handwerk mit seinen üblicherweise kleineren Strukturen gehört (Ziegler in: Brügelmann, § 9 BauNVO, Rn. 12, Band 6).
Dies zugrunde gelegt entspricht die hier maßgebliche Umgebungsbebauung einem faktischen Industriegebiet. Nach Durchführung des Augenscheins und unter Berücksichtigung der Ausführungen der Beteiligten sowie eigener, ergänzender Recherchen des Gerichts erfolgt die Prägung der hier maßgeblichen Umgebungsbebauung vorwiegend durch Gewerbebetriebe, die aufgrund ihres erheblichen Störpotenzials in anderen Baugebieten unzulässig sind. Die maßgebliche Umgebungsbebauung stellt vorliegend der Bereich zwischen der R. … Straße im Süden, FlNr. … bzw. … im Norden sowie FlNr. … im Nordwesten dar. Dieser Bereich ist überwiegend geprägt durch erheblich störende Gewerbebetriebe, welche typischerweise nur in einem Industriegebiet zulässig sind. Der unmittelbar an das Baugrundstück angrenzende Betrieb „B. …“ reinigt und bearbeitet nach Aussage des Beklagten und eigener Internetrecherche des Gerichts belasteten Erdaushub, verfügt nach Aussage des Beklagten in der mündlichen Verhandlung über eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung und unterliegt der Anlagenüberwachung. Die Firma B. … arbeitet im 3-Schicht-Betrieb. Bei dem Betrieb handelt es sich nach dem Augenschein um eine industrielle Großanlage, welche seiner Art und den von ihr ausgehenden Emmissionen nach nur in einem Industriegebiet zulässig ist. Dass der Betrieb nach Aussage des Beklagten die Lärmwerte eines Gewerbegebiets einhalte und einhalten müsse, ist für die Einstufung des Gebiets als faktisches Industriegebiet unbeachtlich, da dies an dem typisierenden Störpotenzial der Emmissionen sowie den insofern relevanten Kriterien einer industriellen Großanlagen zur Aufbereitung kontaminierter Erden unter Inanspruchnahme erheblicher Flächen nichts ändert (vgl. zur Relevanz des typisierenden Störpotenzials etwa OVG NRW, B.v. 27.11.2009 – 8 B 1549/09.AK – juris mit Verweise auf BVerwG, B. v. 28.2.2008 – 4 B 60.07 – NVwZ 2008, 786; OVG Münster Beschluss vom 27.11.2009 – 8 B 1549/09, BeckRS 2009, 41948, beck-online). Eine Atypik betreffend die konkrete Anlage ist nicht erkennbar. Insofern wurde auch nichts vorgetragen. Südlich des Baugrundstücks, auf FlNr. … ist das Ytong-Werk angesiedelt. Das Werksgelände zieht sich parallel zur Straße weiter Richtung Süden, daran angrenzend beginnt das Werksgelände des Betriebs „S. …“. Bei dem „Ytong-Werk“ handelt es sich um produzierendes Gewerbe für Ytong-Steine. Auch dieser Betrieb ist im 3-Schicht-Betrieb tätig, hat erheblichen Schwerverkehr sowie Lärmimmissionen zur Folge und verfügt nach Aussage des Beklagte über eine Genehmigung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz. Bei dem Betrieb „S. …“ handelt es sich um produzierendes Gewerbe im Bereich „Herstellung und Vermarktung von K. … und S. …“. Der Betrieb verfügt über industrielle Großanlage von erheblichem Umfang. Die in Anspruch genommene Fläche mit Blick auf die maßgebliche Umgebung ist von relevantem Gewicht. Der Betrieb auf FlNr. … gehört zu der Firma D. …, ein kunststoffverarbeitender Betrieb, welcher u.a. eine Lackieranlage betreibt und ebenfalls im Besitz einer Genehmigung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz ist. Beauflagt ist zudem nach Aussage des Beklagten eine Abgasreinigungseinrichtung. Die örtlichen Verhältnisse, die Art der prägenden Betriebe sowie die durch diese in Anspruch genommene Gesamtfläche zeigen, dass es sich bei der mit Blick auf das Baugrundstück maßgeblichen Umgebungsbebauung um ein Gebiet handelt, welches von industriellen Großanlagen und Gewerbebetrieben geprägt ist, die nach typisierender Betrachtung in Gewerbegebieten unzulässig sind. Ein faktisches Industriegebiet liegt mithin vor. Dies wird auch bestätigt durch ein seitens des Landratsamtes N.-Sch. veröffentlichtes Dokument über das Überwachungsprogramm für den Bereich Immissionsschutz der maßgeblichen Anlagen, die nach der 4. BImSchV dem förmlichen Genehmigungsverfahren nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz (§ 10 BImschG) unterlagen bzw. unterliegen (file:/ …c:/temp/ISA-B_UEBERWACHUNGSPROGRAMM_2020-02-12.pdf, zuletzt abgerufen am 16.2.2021). Umstände, die ausnahmsweise eine andere Beurteilung zur Folge hätten sind werder vorgetragen noch ersichtlich.
Weiterhin ist der Umstand, dass, wie der Beklagte meint, in dem maßgeblichen Bereich auch Betriebe angesiedelt sind, welche auch in einem Gewerbegebiet zulässig sind, für die Einstufung als faktisches Industriegebiet im vorliegenden Fall unschädlich. Denn maßgeblich für die Einstufung als faktisches Industriegebiet ist allein, dass die Gebietsprägung hier im Sinne eines „über- oder vorwiegend“ durch störende Gewerbebetriebe erfolgt, welche typischerweise in anderen Gebieten als einem Industriegebiet unzulässig sind. Einzelne gewerbegebietstypische Betriebe führen demnach nicht zu einem „Umkippen“, solange die Prägung des Gebiets im beschriebenen Sinne erhalten bleibt. Dies ist vorliegend der Fall (s.o.). Auf die Frage, ob der K. … Weg vorliegend trennende Wirkung hat und ob das dort angesiedelte Transportbetonwerk in einem Gewerbegebiet zulässig ist, kommt es somit nicht an, da beide Umstände die Gebietsprägung im oben beschriebenen Sinne nicht berühren. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist in diesem Zusammenhang auch nicht von Bedeutung, dass das Gebiet nördlich des K. … Wegs Bebauungsplangebiet ist und in diesem Zusammenhang ein Industriegebiet festgesetzt wurde. Maßgeblich ist die tatsächlich vorhandene Umgebungsbebauung und deren Prägung mit Blick auf das Baugrundstück. Insofern ist auch umgekehrt nicht von ausschlaggebender Bedeutung, dass im Flächennutzungsplan der Stadt Sch. das gesamte Gebiet, welches die Umgebungsbebauung für das Baugrundstück darstellt, als Industriegebiet dargestellt ist.
Unschädlich für die Einstufung als faktisches Industriegebiet ist auch, dass sich auf dem Baugrundstück bereits eine Asylbewerberunterkunft befindet. Denn auch diese Nutzung berührt die Prägung des Gebiets nicht. Eine einzelne wohnähnliche Nutzung (wie hier die bereits bestehende Asylbewerberunterkunft, welcher eine bestandskräftige Baugenehmigung zugrunde liegt) kann der Einstufung als Industriegebiet nicht entgegenstehen. Diese stellt vielmehr einen Fremdkörper dar, welcher in einer gewerblich und industriell geprägten Umgebung den Gebietscharakter nicht mitbestimmt (vgl. BayVGH, U.v. 2.1.2008 – 1 BV 04.2737 – juris; M 9 K 18.2511 zur Prägung eines Gewerbegebiets), da die Nutzung völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden Bebauung herausfällt, in einem auffälligen Kontrast zur übrigen Bebauung steht und deshalb den Charakter der Umgebung letztlich nicht beeinflusst (OVG SH, B.v. 6.7.2011 – 1 LA 41/11, BeckRS 2011, 54233, beckonline). Die bestehende Asylbewerberunterkunft fällt unter Berücksichtigung des Ergebnisses des Augenscheins völlig aus dem Rahmen der sonst in der näheren Umgebung anzutreffenden, durch Industriebetriebe geprägten Bebauung. Sie ist mithin weder prägend noch tonangebend und kann somit keinen Einfluss auf die Einstufung des Gebiets als faktisches Industriegebiet haben.
3. Die streitgegenständliche Asylbewerberunterkunft ist in einem faktischen Industriegebiet weder allgemein noch ausnahmsweise, insbesondere auch nicht als Anlage für soziale Zwecke nach § 9 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zulässig. Im Gegensatz zu den sonstigen Fällen von Anlagen für soziale Zwecke, also Anlagen, die der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt, aber nicht der Übernachtung dienen, können auch Gebäude, die der Unterbringung von Asylbewerbern dienen, Anlagen für soziale Zwecke darstellen, soweit keine autonome Wohnnutzung vorliegt (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, § 4 BauNVO, Rn. 91 ff.). Als Unterkunft für Menschen, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben, verträgt sie sich jedoch nicht mit den emmissionsstarken, störungsintensiven Gewerbebetrieben, wie sie in einem Industriegebiet zulässig sind. Auch wenn sie nicht dem Wohnen dienen, stehen sie doch dieser Nutzungsart erheblich näher als einer industriegebietstypischen gewerblichen Nutzung. Solche Unterkünfte sind mit den ausnahmsweise zulässigen Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter (§ 9 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO) nicht zu vergleichen, da solche in einem funktionalen Zusammenhang zwischen der Unterbringung von Menschen und einem Gewerbebetrieb stehen. Angesichts dessen, dass es sich bei Industriegebieten um die immissionsstärksten und störungsunempfindlichsten Baugebiete der BauNVO handelt, sind derartige Unterkünfte im Industriegebiet somit nicht gebietsverträglich, da sie mit der Zweckbestimmung des Gebiets unvereinbar sind (OVG Münster, B.v. 4.11.2003 – 22 B 1345/03; vgl. in diesem Zusammenhang auch BayVGH, B.v. 6.2.2015 – 15 B 14.1832).
4. Der Beklagte hat in diesem Zusammenhang zu Unrecht eine Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB für eine Asylbewerberunterkunft erteilt. Im Falle eines faktischen Industriegebiets, wie vorliegend, findet § 246 Abs. 10 BauGB keine Anwendung. Die seitens des Beklagten erteilte Befreiung nach § 246 Abs. 10 BauGB ist rechtswidrig, da die nachbarschützenden Voraussetzungen der Vorschrift, die die Anwendbarkeit determinieren, schon nicht vorliegen (vgl. in diesem Zusammenhang und zum nachbarschützenden Charakter des § 246 Abs. 10 BauGB BayVGH, B.v. 2.9.2016 – 1 CS 16.1275; VG Ansbach, U.v. 23.10.2018 – AN 9 K 16.991 m.w.N.). § 246 Abs. 10 BauGB tangiert bereits per se den grundsätzlich bestehenden Gebietserhaltungsanspruch der Nachbarn nachhaltig und schränkt diesen ganz grundsätzlich mit Blick auf das Absehen von der Prüfung der Grundzüge der Planung, wie sie sonst im Rahmen von § 31 Abs. 2 BauGB zu prüfen sind, erheblich ein. Werden die Voraussetzungen der Befreiungsvorschrift in § 246 Abs. 10 BauGB schon nicht erfüllt, ist hierdurch der Gebietserhaltungsanspruch des klagenden Nachbarn verletzt.
Auch die Befreiungsmöglichkeit in § 246 Abs. 12 BauGB führt im vorliegenden Fall zu keinem anderen Ergebnis. Zwar ermöglicht § 246 Abs. 12 BauGB die Zulassung einer Asylbewerberunterkunft in einem Industriegebiet unter den in § 246 Abs. 12 Nr. 1 und 2 BauGB genannten Voraussetzungen. Jedoch steht die Befreiungsmöglichkeit nach Abs. 12 stets unter dem Vorbehalt der Befristung auf höchstens drei Jahre. Die Pflicht zur Befristung hat ihren Grund in dem Schutz des durch die Regelung ohnehin eingeschränkten Gebietserhaltungsanspruchs. Eine solche Befristung ist im Rahmen der streitgegenständlichen Genehmigung vom 4. Dezember 2019 schon nicht erfolgt, sodass eine Befreiungsmöglichkeit im faktischen Industriegebiet schon aus diesem Grund ausscheidet und ohne eine solche Befristung auch insofern der Gebietserhaltungsanspruch des Klägers verletzt ist. Im Übrigen handelt es sich bei der streitgegenständlichen Asylbewerberunterkunft weder um eine mobile Unterkunft im Sinne von § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 BauGB noch um eine bloße Nutzungsänderung im Sinne von § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 2 BauGB. Auch die Voraussetzungen des § 246 Abs. 14 BauGB sind vorliegend nicht erfüllt.
5. Da die durch den Beklagten erteilte Baugenehmigung nebst Befreiung vom 4. Dezember 2019 bereits den Gebietserhaltungsanspruch des Klägers verletzt, kommt es auf eine Verletzung von Nachbarrechten im Übrigen nicht mehr an. Lediglich der Vollständigkeit halber und ohne, dass es für die Entscheidung darauf ankäme, wird darauf hingewiesen, dass der Beklagte ausweislich der Stellungnahme des Immissionsschutzes vom 19. November 2019 offenbar nicht abschließend geprüft hat, ob etwa im Hinblick auf die streitgegenständliche Asylbewerberunterkunft gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse eingehalten sind. So schreibt der Immissionsschutz des Beklagten in seiner Stellungnahme vom 19. November 2019 im Zuge des Baugenehmigungsverfahren lediglich: „Durch die Lage des Plangrundstückes in einem Gewerbegebiet wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass gesunde Wohnverhältnisse unter Umstände nicht gegeben sind und dass schädliche Umwelteinwirkungen durch die umliegenden Gewerbebetriebe zu erwarten sind“. Auch in der mündlichen Verhandlung am 18. November 2020 ist der Beklagte auf Nachfrage des Gerichts substantiiertere Ausführungen hierzu schuldig geblieben.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, Abs. 3. Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt und sich damit nicht in ein Kostenrisiko begeben. Sie tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Dies entspricht der Billigkeit (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO).
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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