Baurecht

Verwirkung des Schutzanspruchs auf bauordnungsrechtliches Eingreifen

Aktenzeichen  15 B 19.832

Datum:
31.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
RÜ2 – 2020, 259
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6, Art. 55 Abs. 1, Art. 76 S. 1, S. 2
BGB § 242

 

Leitsatz

Ein verwirktes Recht, dessen Geltendmachung grundsätzlich auf Dauer ausgeschlossen bleibt, kann ganz oder teilweise wieder „aufleben“ bzw. trotz Vertrauensbetätigung des Verpflichteten fortbestehen, wenn mit einer Änderung der baulichen Anlage oder einer Änderung deren Nutzung eine intensivere oder neue Beeinträchtigung der nachbarlichen Rechtsposition einhergeht. (Rn. 31)

Verfahrensgang

RO 2 K 14.875 2017-09-14 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Kläger tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar, für den Beigeladenen nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat die gem. § 75 VwGO zulässige Untätigkeitsklage hinsichtlich des im Berufungsverfahren noch anhängigen Sachantrags Nr. I sowohl im Haupt- als auch im Hilfsantrag im Ergebnis zu Recht abgewiesen, § 113 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO. Die Kläger können sich gegenüber dem Beklagten auf einen nachbarlichen Schutzanspruch auf bauordnungsrechtliches Einschreiten gegen die Dachterrasse (gem. Art. 76 Satz 1 i.V. mit Art. 6 BayBO mit dem Ziel eines Abbruchs bzw. eines Rückbaus sowie gem. Art. 76 Satz 2 i.V. mit Art. 6 BayBO mit dem Ziel einer Nutzungsuntersagung) aufgrund einer materiellen Verwirkung nicht berufen.
1. Der Senat geht allerdings davon aus, dass den Klägern an sich – d.h. vorbehaltlich einer hier vorliegenden materiellen Verwirkung (s.u. 2.) – ein Schutzanspruch auf bauordnungsrechtliches Eingreifen aus Art. 76 Satz 1 und / oder Satz 2 BayBO – sei es im Sinne eines strikten Anspruchs bei gleichzeitiger Ermessensreduzierung (hierzu vgl. BayVGH, B.v. 15.1.2019 – 15 ZB 17.317 – juris Rn. 4 m.w.N.; B.v. 16.7.2019 – 15 ZB 17.2529 – juris Rn. 38 m.w.N.), sei es bei verbleibendem Ermessen auf ermessensfehlerfreie Bescheidung ihres bei der Bauaufsichtsbehörde gestellten Antrags vom 10. April 2013 – zustünde.
a) Die gem. Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtige Dachterrasse und ihre Nutzung sind formell und materiell baurechtswidrig, sodass die Eingriffsvoraussetzungen des Art. 76 Satz 1 und Satz 2 BayBO für eine Rückbauanordnung sowie eine Nutzungsuntersagung hinsichtlich der streitgegenständlichen Dachterrasse an sich vorliegen.
Die Dachterrassennutzung verstößt materiell gegen Art. 6 BayBO. Gemäß Abs. 1 dieser Norm sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten, deren Tiefe sich nach der Wandhöhe bemisst (Abs. 4 – 6), jedoch mindestens 3 m beträgt (Abs. 5 Satz 1). Im vorliegenden Fall ist die Dachterrasse auf einem grenzständigen Gebäude platziert, hält mithin in Richtung des unmittelbar südlich angrenzenden Klägergrundstücks auf dem eigenen (Beigeladenen-) Grundstück keine Abstandsfläche ein. Der Anbau ist nicht gem. Art. 6 Abs. 8 BayBO bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht zu lassen. Auch ist kein Privilegierungstatbestand gem. Art. 6 Abs. 9 BayBO einschlägig (zur mangelnden Einschlägigkeit des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 BayBO im Fall einer Dachterrasse über einer Garage vgl. BayVGH, B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 12). Selbst wenn der Anbau mit der Dachterrasse innerhalb des im Bebauungsplan vorgesehenen Garagenbaufensters liegen sollte, was dahingestellt bleiben kann, kommt diese Festsetzung der Dachterrasse nicht zugute. Zudem galt – abweichend vom heutigen Art. 6 Abs. 5 Satz 3 BayBO – vor dem 1. Juni 1994 nach bayerischem Bauordnungsrecht über eine Ermächtigung, im Bebauungsplan von den Vorgaben des Art. 6 BayBO abzuweichen (Art. 7 Abs. 1 BayBO 1962, Art. 7 Abs. 1 BayBO 1974), der grundsätzliche Vorrang des bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenrechts, wonach Bebauungspläne, die keine ausdrücklichen abweichenden Abstandsflächenregelungen trafen, die Abstandsflächenvorschriften der BayBO unberührt ließen. Dies gilt weiterhin für fortgeltende Alt-Bebauungspläne aus dieser Zeit (vgl. BayVGH, B.v. 8.5.2019 – 15 NE 19.551 u.a. – juris Rn. 24 m.w.N.), mithin auch für den hier einschlägigen Bebauungsplan (Satzungsbeschluss 1964; Bekanntmachung 1967), zumal dieser unter Nr. 8 seiner textlichen Festsetzungen sogar ausdrücklich eine Mindestabstandsfläche von 4 m vorsieht. Eine bestandskräftige, ggf. auch hinsichtlich der Vorgaben des Art. 6 BayBO legalisierende Baugenehmigung speziell für den Ausbau und die Nutzung des Flachdachs des Grenzanbaus als Dachterrasse existiert nicht.
b) Die für einen Schutzanspruch auf bauordnungsrechtliches Eingreifen aus Art. 76 Satz 1 und / oder Satz 2 BayBO zudem erforderliche Schutznormverletzung zulasten der Kläger (vgl. BayVerfGH, E.v. 3.12.1993 – Vf. 108-VI- 92 – BayVBl 1994, 110 = juris Rn. 26; BayVGH, B.v. 16.4.2019 – 15 CE 18.2652 – BayVBl 2020, 53 = juris Rn. 19; B.v. 16.7.2019 – 15 ZB 17.2529 – juris Rn. 15; HessVGH, B.v. 3.3.2016 – 4 B 403/16 – NVwZ 2016, 1101 = juris Rn. 12) liegt ebenfalls vor. Der hier durch den Bestand und die Nutzung der Dachterrasse verletzte Art. 6 BayBO bezweckt im nachbarlichen Verhältnis die Gewährleistung ausreichender Belichtung, Besonnung und Belüftung, nach umstrittener Ansicht (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – BayVBl 2015, 347 = juris Rn. 14, 17; offenlassend BayVGH, B.v. 1.6.2012 – 15 ZB 10.1405 – juris Rn. 7; B.v. 17.7.2018 – 9 ZB 15.2458 – juris Rn. 10; B.v. 20.4.2020 – 15 ZB 19.1846 – juris Rn. 21 m.w.N.; krit. Happ, BayVBl 2014, 65/66 f. sowie Schweinoch, BayVBl 2015, 837 ff.) auch den sozialen Wohnfrieden (Sozialabstand). Die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenregelungen sind daher jedenfalls zugunsten des Eigentümers des unmittelbar angrenzenden Nachbargrundstückes drittschützend, ohne dass es dabei auf eine einzelfallbezogene Unzumutbarkeit bzw. auf eine tatsächliche oder spürbare Betroffenheit des Nachbarn ankommt (Hahn/Kraus, in: Simon/Busse, BayBO, Stand: Januar 2020, Art. 6 Rn. 604 ff.).
2. Der auf Untersagung der Nutzung und auf Anordnung des Rückbaus der Dachterrasse gerichtete Schutzanspruch der Kläger gem. Art. 76 Satz 1 und 2 BayBO i.V. mit Art. 6 BayBO ist aber materiell verwirkt. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts folgt aus den Sanierungsarbeiten im Jahr 2006 keine Zäsur mit der Folge der Neuberechnung des sog. Zeitmoments, vielmehr stellen diese die Vertrauensbetätigung als Bestandteil des sog. Umstandsmoments dar und markieren damit den Zeitpunkt für den eigentlichen Eintritt der Verwirkung.
a) Unter Verwirkung versteht man ein auf dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) beruhendes Rechtsinstitut, unter dem als Anwendungsfall des „venire contra factum proprium“ bestimmte Fallgestaltungen zusammengefasst werden, in denen die Geltendmachung eines an sich bestehenden Rechts nach einem gewissen Zeitablauf sowie aufgrund des Verhaltens sowohl des Rechtsinhabers als auch des rechtlich Verpflichteten als rechtsmissbräuchlich zu bewerten ist. Ein (materielles oder prozessuales) Recht kann nach den allgemeinen Grundsätzen der Verwirkung untergehen, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten, welche die verspätete Geltendmachung als treuwidrig erscheinen lassen (Umstandsmoment). Im öffentlichen Baunachbarrecht sind die Anforderungen für das Umstandsmoment durch die höchstrichterliche Rechtsprechung, der der Senat folgt, wie folgt konkretisiert worden: Der Verpflichtete (= der Bauherr, hier der Beigeladene bzw. dessen Rechtsvorgänger) muss infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (= des Nachbarn, hier der Kläger bzw. deren Rechtsvorgänger) darauf vertraut haben dürfen, dass Letzterer das Recht nach so langer Zeit nicht mehr geltend macht (Vertrauensgrundlage). Der Verpflichtete (Bauherr) muss ferner tatsächlich darauf vertraut haben, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand) und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen – insbesondere durch kostenträchtige Sanierungsmaßnahmen, ggf. auch durch Eingehen rechtlicher Bindungen (z.B. durch Vermietung) oder durch Integrierung der baulichen Anlage in einen Gewerbebetrieb – so eingerichtet haben, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (Vertrauensbetätigung) (zum Ganzen: BVerwG, U.v. 7.2.1974 – III C 115.71 – BVerwGE 44, 339 = juris Rn. 18; B.v. 18.3.1988 – 4 B 50.88 – NVwZ 1988, 730 = juris Rn. 2 ff.; U.v. 16.5.1991 – 4 C 4.89 – NVwZ 1991, 1182 = juris Rn. 21 ff., 28; B.v. 13.8.1996 – 4 B 135.96 – BauR 1997, 281 = juris Rn. 3; B.v. 11.2.1997 – 4 B 10.97 – NJW 1998, 329 = juris Rn. 2; B.v. 16.4.2002 – 4 B 8.02 – BauR 2003, 1031= juris Rn. 11; U.v. 27.7.2005 – 8 C 15.04 – NVwZ 2005, 1334 = juris Rn. 25; B.v. 11.9.2018 – 4 B 34.18 – NVwZ 2019, 245 = juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 28.3.1990 – 20 B 89.3055 – BayVBl 1991, 725 = juris Rn. 25 f.; U.v. 7.8.2001 – 8 A 01.40004 – NVwZ-RR 2002, 426 = juris Rn. 21; B.v. 25.6.2018 – 2 ZB 17.1157 – juris Rn. 2; B.v. 14.5.2020 – 15 ZB 19.2263 – juris Rn. 12 ff.; B.v. 5.6.2020 – 15 ZB 19.1909 – juris Rn. 9; OVG Saarl, U.v. 25.1.1994 – 2 R 12/93 – BRS 56 Nr. 183; OVG NW, U.v. 21.3.1995 – 11 A 1089/91 – NVwZ 1996, 921 = juris Rn. 27 ff.; VGH BW, U.v. 28.8.1987 – 8 S 1345/87 – NVwZ 1989, 76/78; U.v. 25.9.1991 – 3 S 2000/91 – VBlBW 1991, 103 = juris Rn. 28; B.v. 18.12.2007 – 3 S 2107/07 – VBlBW 2008, 190 = juris Rn. 14; OVG MV, B.v. 5.11.2001 – 3 M 93/01 – NVwZ-RR 2003, 15 = juris Rn. 22; OVG LSA, B.v. 4.6.2012 – 2 L 56/11 – NVwZ-RR 2012, 752 = juris Rn. 7; OVG RhPf, U.v. 1.6.2011 – 8 A 10196/11 – NVwZ-RR 2011, 849 = juris Rn. 63; NdsOVG, U.v. 8.10.2013 – 1 LB 162/13 – juris Rn. 38; Bauer, Die Verwaltung 1990, 211 ff.; Troidl, NVwZ 2004, 315 ff.; Charnitzky/Rung, BauR 2016, 1254 ff., 1406 ff.; zur Verwirkung des Rechtsschutzinteresses in besonderen Einzelfällen vgl. BayVGH, B.v. 8.1.2014 – 15 ZB 12.1236 – juris Rn. 5). Dabei müssen Vertrauenstatbestand und Vertrauensbetätigung in einer Kausalbeziehung zueinanderstehen (BVerwG, U.v. 16.5.1991 a.a.O. juris Rn. 28; OVG RhPf, U.v. I. 6.2011 a.a.O. juris Rn. 72; OVG NW, U.v. 16.4.2012 – 7 A 1984/10 – juris Rn. 48 ff.; Charnitzky/Rung, BauR 2016, 1406/1415.). Unter diesen Voraussetzungen können im öffentlichen Baunachbarrecht auch Abwehransprüche sowie Schutzansprüche auf bauordnungsrechtliches Eingreifen materiell verwirkt werden (vgl. BVerwG, B.v. 18.3.1988 a.a.O.; U.v. 16.5.1991 a.a.O. juris Rn. 21 ff.; B.v. 13.8.1996 a.a.O.; B.v. I1. 2.1997 a.a.O.; B.v. 16.4.2002 a.a.O.; B.v. 15.1.2014 – 4 B 57.13 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 28.3.1990 a.a.O.; B.v. 14.5.2020 a.a.O.; OVG MV, U.v. 5.11.2001 a.a.O.; OVG LSA, B.v. 4.6.2012 a.a.O.; OVG Saarl, U.v. 25.1.1994 a.a.O.; B.v. 12.11.2018 – 2 A 815/17 – juris Rn. 12).
b) Im vorliegenden Fall ist das Zeitmoment, nach dem ein von den Umständen des Einzelfalls abhängiger Zeitraum zu fordern ist, der sich grundsätzlich von den im Regelfall geltenden verfahrensrechtlichen Rechtsbehelfsfristen (vgl. § 70 Abs. 1, § 74 VwGO) abhebt (BVerwG, U.v. 16.5.1991 a.a.O. juris Rn. 22; OVG Saarl, U.v. 25.1.1994 a.a.O.; OVG RhPf, U.v. 1.6.2011 a.a.O. juris Rn. 65; OVG MV, B.v. 5.11.2001 a.a.O. juris Rn. 24), offensichtlich allein deshalb gegeben, weil die – am Maßstab von Art. 6 BayBO materiell baurechtswidrige – Dachterrasse auf dem Flachdachanbau seit den 1970er Jahren bis zur Antragstellung im April 2013 sowie auch schon bis zu den Sanierungsarbeiten im Jahr 2006 über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten tatsächlich bestand und als solche genutzt wurde.
c) Ob es Fallkonstellationen gibt, in denen – etwa nach einem Zeitablauf von 10 Jahren, in denen keine nachbarlichen Einwendungen erhoben worden sind und der nachbarrechtswidrige Zustand durchgehend widerspruchslos geduldet wurde – das Umstandsmoment vollständig in den Hintergrund tritt und der Zeitablauf allein genügt, um eine materielle Verwirkung zu begründen (so in einer Einzelfallentscheidung BayVGH, B.v. 28.3.1990 a.a.O. juris Rn. 25 f.), kann vorliegend offenbleiben. Ein solcher Ansatz ist jedenfalls mit dem dogmatischen Grundansatz, wonach die Verwirkung im dreipoligen nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis im Baurecht grundsätzlich als Fall des schützenswerten Vertrauens des Bauherrn vor nutzlosen Investitionen oder sonstigen Schäden anzusehen ist (vgl. BVerwG, B.v. 18.3.1988 a.a.O. juris Rn. 4; U.v. 16.5.1991 a.a.O. juris Rn. 25; B.v. 16.4.2002 a.a.O. juris Rn. 11; OVG NW, B.v. 10.6.2005 – 10 A 3664/03 – NVwZ-RR 2006, 236 = juris Rn. 7 ff.; OVG Saarl, U.v. 25.1.1994 a.a.O.; OVG LSA, B.v. 4.6.2012 a.a.O. juris Rn. 7 ff.), nicht unproblematisch (vgl. die Kritik bei BayVGH, B.v. 26.10.1998 – 14 B 94.4150 – juris Rn. 26 f.). Im vorliegenden Fall kann dies dahingestellt bleiben, weil das für die Verwirkung erforderliche Umstandsmoment vorliegt resp. mit der Durchführung der Renovierungs- und Umbauarbeiten an der Dachterrasse im Jahr 2006 (= Vertrauensbetätigung) vollendet wurde.
aa) Aus dem nachbarlichen Verhalten seit den 1970er Jahren wurde über Jahrzehnte seitens der Nachbarschaft eine Vertrauensgrundlage gesetzt, wonach der Beigeladene und dessen Rechtsvorgänger davon ausgehen durften, dass ein Schutzanspruch auf bauordnungsrechtliches Einschreiten gegen den Bestand und die Nutzung der Dachterrasse auf dem Flachdach nicht mehr geltend gemacht wird. Nachbarn stehen in einem besonderen „nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis“ zueinander, das nach Treu und Glauben von ihnen besondere Rücksichtnahmen abverlangt. Es verpflichtet sie, durch ein zumutbares aktives Handeln mitzuwirken, einen wirtschaftlichen Schaden eines benachbarten Bauherrn zu vermeiden oder den Vermögensverlust möglichst niedrig zu halten. Für die Schaffung der für das Umstandsmoment erforderlichen Vertrauensgrundlage kann aus diesem Grund im öffentlichen Baunachbarrecht auch ein schlichtes Unterlassen – etwa ein längerfristiges widerspruchsloses Hinnehmen von Baumaßnahmen in Kenntnis oder in fahrlässiger Unkenntnis der Nachbarrechtsverletzung bzw. ein tatenloses Abwarten seitens des Nachbarn mit der Erhebung von Einwänden oder der Einlegung statthafter formeller Rechtsbehelfe gegen eine bereits errichtete bauliche Anlage – genügen, wenn gerade dies aus objektiver Sicht ein (insbesondere Investitionen auslösendes) Vertrauen des Bauherrn begründen kann, der Nachbar werde sein Abwehrrecht nicht mehr ausüben (vgl. BVerwG, B.v. 18.3.1988 a.a.O. juris Rn. 4; U.v. 16.5.1991 a.a.O. juris Rn. 28; B.v. 16.4.2002 a.a.O. juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 25.6.2018 a.a.O. juris Rn. 2; B.v. 14.5.2020 a.a.O. juris Rn. 12; OVG Saarl, U.v. 25.1.1994 a.a.O.; OVG MV, B.v. 5.11.2001 a.a.O. juris Rn. 23; OVG RhPf, U.v. 1.6.2011 a.a.O. juris Rn. 68; OVG NW, U.v. 8.3.2012 – 10 A 214/10 – BauR 2012, 1234 = juris Rn. 47; Troidl, NVwZ 2004, 315/317). In diesem Sinne ist bereits durch den oder die Voreigentümer des südlich an das Baugrundstück des Beigeladenen angrenzenden Grundstücks, das heute im Eigentum der Kläger steht, durch widerspruchsloses Hinnehmen des beeinträchtigenden, gegen Art. 6 BayBO verstoßenden nachbarrechtswidrigen Zustands über einen jahrzehntelangen Zeitraum hinweg gegenüber dem Beigeladenen bzw. dessen Rechtsvorgänger eine Vertrauensgrundlage im o.g. Sinn geschaffen worden. Ebenso wie durch einen Verzicht des Nachbarn auf öffentlichrechtliche nachbarliche Abwehransprüche das grundstücksbezogene Abwehrrecht untergeht, sodass ein späterer Eigentümerwechsel an den betroffenen Grundstücken nicht zum Wiederaufleben der nachbarlichen Abwehrposition führt, ist auch die Verwirkung grundstücksbezogen ausgerichtet und bindet mithin nach einem Eigentumswechsel auch den nachbarlichen Rechtsnachfolger (BayVGH, B.v. 28.3.1990 a.a.O. juris Rn. 22; OVG MV, B.v. 5.11.2001 a.a.O. juris Rn. 35; OVG LSA, B.v. 4.6.2012 a.a.O. juris Rn. 7; VGH BW, U.v. 25.9.1991 a.a.O. juris Rn. 29; OVG SH, B.v. 25.5.2018 – 1 LA 44/17 – juris Rn. 7; Charnitzky/Rung, BauR 2016, 1406/1415 f.). Die Kläger müssen sich mithin die von ihrem Rechtsvorgänger bzw. ihren Rechtsvorgängern geschaffene Vertrauensgrundlage zurechnen lassen.
bb) Hiervon ausgehend liegt auf Seite des Beigeladenen auch eine Vertrauensbetätigung als kausale Folge eines Vertrauenstatbestands vor: Wenn eine bauliche Anlage über einen derart langen Zeitraum nicht beanstandet wird, kann und wird der Grundstückseigentümer – hier der Beigeladene – ohne weiteres darauf vertrauen, dass der Nachbar – hier die Kläger bzw. deren Rechtsvorgänger – ein Einschreiten gegen diese Anlage nicht mehr verlangen wird, selbst wenn sie nachbarrechtswidrig ist. Je länger die nachbarliche Untätigkeit dauert, umso mehr spricht dies für das Entstehen eines schutzwürdigen Vertrauens beim betroffenen Grundstückseigentümer. Hier hat der Beigeladene – damals noch als Miteigentümer des Beigeladenengrundstücks – aktiv sein Vertrauen ausgeübt, indem er im Jahr 2006 Sanierungsinvestitionen für die bereits seit Jahrzehnten bestehende Dachterrasse getätigt hat (Erneuerung der undicht gewordenen Dachhaut des Flachdaches, Verstärkung des Unterbodens, Neugestaltung des begehbaren Oberbodens durch Auswechseln der vormaligen Bodenplatten durch modernere Fliesen; Ersetzung des Geländers der Terrasse durch eine gemauerte Brüstung als neue Absturzsicherung bzw. Umwehrung). Dass er dies (zusammen mit der damaligen Miteigentümerin) im Vertrauen darauf getan hat, dass seitens der südlich angrenzenden Nachbarn nach (zu diesem Zeitpunkt) tatsächlich mehr als
Jahren Hinnahme des Bestands und der Nutzung der Dachterrasse keine Einschreitensansprüche mehr geltend gemacht würden, ist offensichtlich. Denn ansonsten wäre er nicht das Risiko eingegangen, die mit nicht unerheblichem finanziellen Aufwand renovierte Dachterrasse wieder beseitigen bzw. die Terrassennutzung des Flachdachs einstellen zu müssen (vgl. OVG MV, B.v. 5.11.2001 a.a.O. juris Rn. 32; VG Saarl, U.v. 25.3.2015 – 5 K 617/14 – juris Rn. 38).
d) Die Verwirkung des Schutzanspruchs der Kläger auf bauordnungsrechtliches Einschreiten bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hierüber ist nicht dadurch „unterbrochen“ oder im Nachhinein obsolet geworden, dass der Beigeladene im Zuge der Sanierungsarbeiten nicht nur den vorherigen Zustand wiederhergestellt, sondern diese unter Verstärkung des Unterbodens mit moderneren Fliesen ausgestattet und statt des alten Metallgeländers als Absturzsicherung eine Umwehrung in Form einer gemauerten Brüstung / Attika hergestellt hat.
Ein verwirktes Recht, dessen Geltendmachung grundsätzlich auf Dauer ausgeschlossen bleibt, kann ganz oder teilweise wieder „aufleben“ bzw. trotz Vertrauensbetätigung des Verpflichteten fortbestehen, wenn mit einer Änderung der baulichen Anlage oder einer Änderung deren Nutzung eine intensivere oder neue Beeinträchtigung der nachbarlichen Rechtsposition einhergeht (OVG RhPf, U.v. 29.9.2004 – 8 A 10664/04 – NVwZ-RR 2005, 525 = juris Rn. 20 ff.; VGH BW, B.v. 18.12.2007 – 3 S 2107/07 – VBlBW 2008, 190 = juris Rn. 15; Charnitzky/Rung, BauR 2016, 1406/1416 m.w.N.). Im Fall der Verwirkung richtet sich die Reichweite des Vertrauensschutzes allein danach, inwieweit die Geltendmachung nachbarlicher Schutz- bzw. Abwehrrechte nach Änderung des geduldeten Baubestandes einen treuwidrigen Widerspruch zum bisherigen Verhalten des Nachbarn darstellen würde. Ausschlaggebend für ein Wiederaufleben des verwirkten Schutzanspruchs auf bauordnungsrechtliches Einschreiten gegen die materiell gegen Art. 6 BayBO verstoßende Terrasse ist insofern nicht, ob mit Umbaumaßnahmen – etwa mit der Errichtung der Brüstung oder einer neuen Bodengestaltung – ein weiterer genehmigungspflichtiger Tatbestand gesetzt wurde (Art. 55 Abs. 1 BayBO), sondern vielmehr, ob aufgrund dieser neuen Maßnahme die negative Betroffenheit der Kläger in den nachbarlichen Belangen und Interessen, die durch den (hier objektiv verletzten) Art. 6 BayBO geschützt werden, verstärkt wurde. Letzteres ist nach den konkreten Umständen des vorliegenden Einzelfalls zu verneinen. Aufgrund der Sanierungsmaßnahmen im Jahr 2006 ist es hinsichtlich des verwirkten Rechts nicht zu einer neuen, die verwirkte Rechtsposition „überschießende“ Betroffenheit hinsichtlich Art. 6 BayBO gekommen.
aa) Bereits die frühere Umwehrung der Terrasse mit einem schlichten Metallgeländer war in die Berechnung der an sich einzuhaltenden Abstandsfläche einzubeziehen, sodass sich rein rechnerisch am Maßstab von Art. 6 Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 BayBO die Betroffenheit der Kläger durch die Maßnahmen im Jahr 2006 nicht verschärft hat. Nach Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO = Art. 6 Abs. 3 Satz 2 BayBO 1998 ist und war die für die Abstandsflächenberechnung maßgebliche Wandhöhe das Maß von der Geländeoberfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Abschluss der Wand. Das Vorliegen einer Außenwand oder eines Außenwandteiles hängt grundsätzlich nicht von der Ausgestaltung der Wand ab (vgl. BayVGH, B.v. 8.8.2001 – 2 ZS 01.1331 – juris Rn. 5; B.v. 26.3.2015 – 2 ZB 13.2395 – juris Rn. 3; B.v. 10.7.2015 – 15 ZB 13.2671 – BayVBl 2016, 311 = juris Rn. 13; Molodovsky/Waldmann, in: Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, Stand: Mai 2019, Art. 6 Rn. 124 m.w.N.). Mithin kommt es für die Berechnung des Höhenmaßes der Wand und für die (an sich) einzuhaltende Abstandsfläche nicht darauf an, ob das vormalige Geländer licht- und luftdurchlässig gestaltet war (BayVGH, B.v. 10.7.2015 a.a.O.; a.A. Dirnberger in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Stand: Okt. 2018, Art. 6 Rn. 127). Allenfalls dann, wenn bei natürlicher Betrachtungsweise die Wirkung einer Wand nicht gegeben ist, kann von einer Abstandsflächenpflicht nicht mehr ausgegangen werden (BayVGH, B.v. 8.8.2001 a.a.O.; B.v. 26.3.2015 a.a.O.). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Der Eindruck eines Außenwandteils wurde durch das vormalige Geländer allein schon dadurch vermittelt, dass dieses nach Außen erkennbar (vgl. das mit Schriftsatz vom 10.6.2020 vorgelegte Lichtbild der Terrasse mit dem im Jahr 1978 verstorbenen Großvater des Beigeladenen) in dieser Funktion und damit als Umwehrung und Absturzsicherung und deshalb als nach oben wandverlängernder Gebäudebestandteil die Dachterrasse zu allen drei offenen Seiten (d.h. nach Westen, Süden und Osten) hin abschloss. Oberer Bezugspunkt für die Bestimmung der Wandhöhe war somit auch bis zu den Sanierungsmaßnahmen im Jahr 2006 die Oberkante des vormaligen Geländers als Terrassenumwehrung, zumal für das Geländer als Gebäudebestandteil auch der heutige Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO keine Anwendung fände (a.A. Dirnberger a.a.O.) und in Art. 6 Abs. 8 BayBO bzw. Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO 1998 diesbezüglich kein Ausnahmefall geregelt ist bzw. war. Dasselbe gilt für die heute bestehende Umwehrung in Form einer gemauerten Brüstung / Attika. Diese heutige Brüstung, deren Höhe die Klägerseite mit 1,00 m bis 1,10 m angibt (vgl. die Berufungsbegründung vom 13. Juni 2019), was sich mit dem Eindruck der vorgelegten Lichtbilder deckt, ist – wie die vorgelegten Lichtbilder ebenfalls belegen – jedenfalls nicht höher als das frühere Terrassengeländer. Im Übrigen hat die Klägerseite die Darlegung des Beigeladenen, dass im Zuge der Maßnahmen im Jahr 2006 anstelle des Altgeländers „eine Brüstungsmauer in selbiger Höhe“ errichtet wurde (vgl. Seite 3 des Schriftsatzes vom 10. Juni 2020), nicht infrage gestellt.
bb) Unabhängig hiervon sind die Kläger durch die heutige gemauerte Brüstung im Vergleich zur Dachterrasse mit einem – lichtdurchlässigen – Metallgeländer hinsichtlich der von Art. 6 BayBO geschützten nachbarlichen Belange Belichtung, Belüftung und Besonnung nicht tatsächlich stärker betroffen. Weil der Anbau mit der Dachterrasse, auch wenn dieser direkt und ohne Abstand an der gemeinsamen Grenze steht, nördlich des Klägergrundstücks liegt, ist mit Blick auf den täglichen Sonnenverlauf von Osten (morgens) über Süden (mittags) nach Westen (abends) nicht ersichtlich, dass es seit 2006 zu einer spürbar stärkeren Verschattung des Klägergrundstücks kommt (zur Darstellung orts- und datumsbezogener Sonnenverläufe vgl. z.B. https://www.sonnenverlauf.de). Ohne dass es darauf noch ankommt, würden sich – tatsächlich nicht gegebene – Beeinträchtigungen der Kläger aufgrund der Auswechslung des Geländers durch die Brüstung in Bezug auf Belichtung und Belüftung ohnehin auf den kaum effektiv nutzbaren rückwärtigen Grundstücksbereich zwischen ihrer Garagenrückwand und der nahen Grundstücksnordgrenze begrenzen. Hinsichtlich eines Anspruchs der Kläger auf Nutzungsuntersagung bzw. auf ermessensfehlerfreie Entscheidung liegt es auf der Hand, dass es insofern zu keinen neuen oder intensiveren Rechtsverletzungen der Kläger kommt. Denn an der Nutzbarkeit des Flachdachs als Dachterrasse hat die neue Umwehrung in Form einer gemauerten Brüstung nichts geändert. Sieht man auch den sog. sozialen Wohnfrieden (Sozialabstand) als rechtlich geschütztes Nachbarinteresse des Art. 6 BayBO an – zum Streitstand s.o. 1. b) -, folgt aus den Sanierungsmaßnahmen im Jahr 2006 diesbezüglich keine stärkere Belastung. Eher im Gegenteil dürfte die gemauerte Brüstung im Vergleich zum früheren Metallgeländer Sichtbeziehungen insbesondere von sitzender Position auf der Dachterrasse hinüber auf das nachbarliche Grundstück der Kläger sogar partiell erschweren.
cc) Schließlich ist nicht ersichtlich, dass es allein aufgrund einer moderneren Ausgestaltung der Dachterrasse (etwa aufgrund der Ersetzung älterer Bodenplatten durch modernere Fliesen) im Jahr 2006 zu einer Verstärkung der Betroffenheit der Kläger unter dem Aspekt des sozialen Wohnfriedens gekommen ist. Das Flachdach ist und wurde – auch aus dem Blickwinkel im Jahr 2006 – bereits seit Jahrzehnten als Dachterrasse benutzt. Dass im Rahmen der Sanierungsmaßnahmen auf Gestaltungsmittel, die so Anfang der 1970er Jahre noch nicht üblich waren, zur Aufrechterhaltung der Nutzung in einem moderneren Gewand zurückgegriffen wurde, ist im nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis kein dem Umstandsmoment der Verwirkung entgegenstehender Aspekt, sondern dies erfolgt typischerweise bei einer Renovierung bzw. Sanierung, stellt mithin m.a.W. den Normallfall dar.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO.
Es entspricht der Billigkeit, dass die Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen tragen, weil Letzterer einen Sachantrag gestellt und sich deshalb einem Kostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).


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