Aktenzeichen 4 B 7/10
Verfahrensgang
vorgehend Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, 11. November 2009, Az: 2 Bf 201/06, Urteilnachgehend BVerfG, 30. August 2010, Az: 1 BvR 974/10, Nichtannahmebeschluss
Tenor
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 11. November 2009 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladenen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu je einem Viertel.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
Gründe
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Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beigeladenen beimessen.
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1. Die Beigeladenen pflichten dem Oberverwaltungsgericht darin bei, dass eine unwirksame Zustellung nach § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 189 ZPO nur dann als wirksam angesehen werden kann, wenn das Gericht mit Zustellungswillen gehandelt hat (so auch BGH, Beschluss vom 26. November 2002 – VI ZB 41/02 – NJW 2003, 1192 ). Sie möchten grundsätzlich geklärt wissen, ob ein fehlender Zustellungswille immer schon dann angenommen werden kann, wenn ein Gericht hätte zustellen müssen und dies nicht getan hat.
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Es kann offen bleiben, ob die Frage der Beigeladenen überhaupt eine Rechtsfrage ist oder einen – der Grundsatzrüge nicht zugänglichen – Erfahrungssatz zum Inhalt hat. Denn sie würde sich so, wie sie formuliert worden ist, in dem erstrebten Revisionsverfahren nicht stellen. Das Oberverwaltungsgericht hat den eigenen Zustellungswillen nicht deshalb verneint, weil eine Zustellung der Berufungsbegründungsschriften an den Kläger tatsächlich nicht erfolgt ist, sondern weil die Zustellung weder richterlich verfügt worden sei noch im Übrigen Anhaltspunkte dafür bestünden, dass eine Zustellung habe erfolgen sollen (UA S. 16). Die Beigeladenen sehen dies anders, weil sie die richterliche Verfügung des Inhalts „Nach Eingang des Originals Kopie an andere Beteiligte mit der Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 2 Monaten“ als Anordnung an die Geschäftsstelle werten, die Zustellung der Durchschriften zu veranlassen. Mit einer Kritik an der vorinstanzlichen Sachverhaltswürdigung und Rechtsanwendung im Einzelfall lässt sich die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache freilich nicht begründen.
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Die Zulassung der Grundsatzrevision ist auch nicht deshalb geboten, weil es der VGH Mannheim für den Nachweis des Zustellungswillens hat ausreichen lassen, dass das Gericht das zuzustellende Dokument dem Empfänger zuleitet (Urteil vom 7. November 1997 – 8 S 1170/97 – VBlBW 1998, 217). Die Entscheidung des VGH Mannheim ist überholt. Sie ist zu § 2 Abs. 1 Satz 1 VwZG a.F. ergangen, wonach die Zustellung in der ”Übergabe des Schriftstücks in Urschrift, Ausfertigung oder beglaubigter Abschrift oder in dem Vorlegen der Urschrift” besteht. Vorliegend geht es um § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 166 Abs. 1 ZPO, der in der Sache übereinstimmend mit § 2 Abs. 1 VwZG in der jetzigen Fassung bestimmt, dass Zustellung „die Bekanntgabe eines Dokuments an eine Person in der in diesem Titel bestimmten Form“ ist. Die den Zustellungswillen kennzeichnenden Merkmale dessen, was eine Zustellung im Sinne der maßgeblichen Vorschrift ausmacht (Urteil vom 15. Januar 1988 – BVerwG 8 C 8.86 – NJW 1988, 1612), hat der Gesetzgeber mithin geändert.
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2. Das Oberverwaltungsgericht hat aus § 69 Abs. 2 Satz 2 HBauO abgeleitet, dass die gerichtliche Aufhebung einer Baugenehmigung auch gegenüber einem Miteigentümer des Baugrundstücks wirkt, der im Prozess nicht beigeladenen worden ist. Die Frage der Beigeladenen, ob die vorinstanzliche Auslegung und Anwendung des § 69 Abs. 2 Satz 2 HBauO mit Art. 14 GG und Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar sei, nötigt ebenfalls nicht zur Zulassung der Grundsatzrevision. Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ist es nicht mit der Behauptung getan, die Interpretation einer Vorschrift des nach § 173 VwGO i.V.m. § 560 ZPO nicht revisiblen Landesrechts durch das Berufungsgericht stehe mit einer Regelung des Bundesrechts (einschließlich des Bundesverfassungsrechts) nicht im Einklang. Vielmehr muss dargelegt werden, dass die bundesrechtliche Norm ihrerseits ungeklärte Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft (vgl. Beschluss vom 11. März 1998 – BVerwG 8 BN 6.97 – NVwZ 1998, 952; stRspr). Dem werden die Beigeladenen nicht gerecht.
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3. Zur Zulassung der Revision führt ferner nicht die Frage, ob § 31 Abs. 2 BauGB zu Gunsten des Bauherrn erweiternd auszulegen ist, wenn seinem Vorhaben ein Anspruch eines Dritten auf Gebietserhaltung entgegengehalten wird. Das Oberverwaltungsgericht hat den Rechtssatz formuliert, im Anwendungsbereich des § 34 Abs. 2 Halbs. 2 BauGB scheide die Erteilung einer Befreiung aus, wenn durch das zu beurteilende Vorhaben der sich aus der tatsächlich vorhandenen Bebauung ergebende Gebietscharakter verändert würde (UA S. 19). Die Beigeladenen versprechen sich von einer revisionsgerichtlichen Kontrolle dieses Rechtssatzes im Ergebnis, dass der Anspruch auf Gebietserhaltung zurückgeschnitten und einem Nachbarn nur zuerkannt wird, wenn sein Grundstück durch das rechtswidrige Vorhaben tatsächlich beeinträchtigt wird. Die von ihnen für geboten gehaltene Beschränkung des ihrer Ansicht nach zu weit reichenden Gebietserhaltungsanspruchs lässt sich indes nicht mit Hilfe des § 31 Abs. 2 BauGB erreichen. Im Übrigen zeigen sie keinen Grund dafür auf, warum die Ansicht des Senats, Vorschriften zur Art der baulichen Nutzung gewährten dem Nachbarn unabhängig von tatsächlichen Beeinträchtigungen ein Abwehrrecht in Gestalt eines Gebietserhaltungsanspruchs (vgl. Urteil vom 28. April 2004 – BVerwG 4 C 10.03 – NVwZ 2004, 1244 ; Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151), in einem Revisionsverfahren überdacht werden müsste. Dass sie diese Ansicht als für sie nachteilig ablehnen, genügt für die Zulassung der Revision nicht.
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4. Auch die Frage, ob eine Beseitigungsanordnung ermessensfehlerhaft ist, wenn die Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem dafür erforderlichen Aufwand steht, rechtfertigt nicht die Zulassung der Grundsatzrevision. Die Ermessensausübung richtet sich nach § 76 Abs. 1 Satz 1 HBauO und gehört deshalb im Grundsatz zum irrevisiblen Landesrecht. Die Beigeladenen stellen zwar einen Bezug zum Bundesrecht her, indem sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ansprechen, der der Ermessenbetätigung Schranken setzt. In diesem Punkt zeigen sie jedoch keinen Klärungsbedarf auf. Es ist juristisches Allgemeingut, dass eine Maßnahme unterbleiben muss, wenn die Nachteile, die mit ihr verbunden sind, in einem krassen Missverhältnis zu den Vorteilen stehen, die sie bewirkt. Ob das Oberverwaltungsgericht dem gerecht geworden ist, entzieht sich einer grundsätzlichen Klärung.
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5. Die Frage, ob es mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung vereinbar ist, dass ein Anspruch auf Gebietserhaltung primär zwingend in eine Beseitigung des rechtswidrigen Vorhabens münden muss, führt schon deshalb nicht zur Zulassung der Revision, weil sie sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen würde. Das Oberverwaltungsgericht hat einen Rechtssatz des Inhalts, dass die Bauaufsichtsbehörde bei jedem Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften unabhängig von dessen Ausmaß und Schwere zu einem Einschreiten verpflichtet sei, nicht aufgestellt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO und die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Die gegen diese Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 30.08.2010 – Az: 1 BvR 974/10 – nicht zur Entscheidung angenommen.