Europarecht

Abschiebung im Rahmen des Dublin-Verfahrens – Italien

Aktenzeichen  M 19 S 19.50513

Datum:
4.6.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 33932
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 4, Art. 21 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens ist davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der 1986 geborene Antragsteller, ein Staatsangehöriger der Vereinigten Republik Tansania, reiste im November 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Angaben beruhen auf seinen Aussagen, Dokumente wurden nicht vorgelegt. Der Antragsteller stellte am 7. März 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
Bei seinen Anhörungen und Befragungen durch die Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde) und durch das Bundesamt gab er an, dass er im September 2018 sein Heimatland verlassen habe und über Dubai nach Nizza gereist sei. Von dort sei er nach Belgien und anschließend über die Niederlande nach Deutschland gereist.
Eine Eurodac-Recherche vom 30. Januar 2019 ergab keinen Treffer. Eine VIS-Abfrage weist ein Kurzaufenthaltsvisum für Italien aus, das für den Zeitraum vom 4. September 2018 bis zum 10. September 2018 ausgestellt worden ist.
Das Bundesamt stellte ausweislich der Zugangsbestätigung vom 13. März 2019 ein Aufnahmeersuchen an Italien, das aber bisher nicht beantwortet wurde.
Mit Bescheid vom 14. Mai 2019, zugestellt am 16. Mai 2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 6 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Italien aufgrund des erteilten Visums für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei (Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO).
Am 17. Mai 2019 erhob der Antragsteller zur Niederschrift Klage zum Verwaltungsgericht München (M 19 K 19.50512). Gleichzeitig beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids anzuordnen.
Zur Begründung bezog er sich auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt. Er wolle nicht nach Italien und habe ohnedies seinen Asylantrag nur in Deutschland gestellt.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Nummer 3 des Bescheids vom 14. Mai 2019 ist zwar zulässig, da wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt und er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt wurde.
Der Antrag ist allerdings nicht begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids vom 14. Mai 2019, auf den im Sinne von § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird, bestehen bei summarischer Prüfung keine durchgreifenden Bedenken.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass diese Voraussetzungen vorliegen und Italien der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist. Der Asylantrag war daher als unzulässig abzulehnen. Da auch die Abschiebung weder tatsächlich unmöglich noch rechtlich unzulässig ist, war auch die Abschiebung nach Italien anzuordnen.
1. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass Italien der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Die Zuständigkeit Italiens für den Asylantrag des Klägers ergibt sich aus Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO, da Italien dem Kläger ein Visum ausgestellt hat, das für den Zeitraum vom 4. September 2018 bis zum 10. September 2018 ausgestellt worden ist und damit weniger als sechs Monate vor der Einreise des Antragstellers nach Deutschland abgelaufen ist. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller vorübergehend das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verlassen hat.
b) Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 21 Abs. 1 Unterabsatz 3 Dublin III-VO ein, weil das Aufnahmegesuch vom 13. März 2019 fristgerecht innerhalb von drei Monaten nach der Antragstellung am 7. März 2019 erfolgte.
c) Gleichfalls ist die sechsmonatige Überstellungsfrist (fristauslösendes Ereignis ist die Annahme des Aufnahmegesuchs oder die endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf) gemäß Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO, die einen Zuständigkeitswechsel begründen würde auch ohne, dass der zuständige Mitgliedstaat die Verpflichtung zur Aufnahme der betreffenden Person ablehnt, noch nicht abgelaufen.
d) Die Zuständigkeit ist schließlich auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung an Italien als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO scheitern würde.
Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) ist davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. Diese nicht unwiderlegliche Vermutung ist auch nicht erschüttert. Von systemischen Mängeln ist nur auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Ls. und Rn. 6). Von solchen Mängeln kann jedoch nach Auffassung des Gerichts in Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausgegangen werden (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 4.4.2018 – 10 LB 96/17 – juris Rn. 32 ff.; VG München, B.v. 13.3.2019 – M 9 S 17.50582 – juris Rn. 18).
Nichts anderes ergibt sich aus dem am 4. Dezember 2018 in Kraft getretenen sog. „Salvini-Dekret“ vom 4. Oktober 2018 (abrufbar unter www.n…it/… ?urn:nir:stato:legge:2018-12-01; 132; vgl. auch OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018, 10 LB 201/18, juris Rn. 40). Die damit zwar einhergehende Reduktion der Unterkunftskapazitäten lässt jedoch ein evidentes Missverhältnis zur Zahl der im Asylverfahren befindlichen Migranten nicht erkennen (vgl. VG München, B.v. 1.3.2019 – M 11 S 19.50094).
e) Die demnach bestehende Zuständigkeit Italiens ändert sich schließlich auch nicht deshalb, weil individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen würden.
Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich.
Italien ist daher zuständig.
2. Die Überstellung an Italien ist auch tatsächlich möglich und rechtlich zulässig, die Abschiebung kann daher im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden.
a) Die italienischen Behörden haben auf das Aufnahmegesuch zwar nicht geantwortet. Aber Italien ist auch in diesem Fall nach Art. 22 Abs. 2 Dublin III-VO – die Frist von zwei Monaten ist abgelaufen – innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller aufzunehmen. Von einer Übernahmebereitschaft ist daher auszugehen. Insoweit ist die Abschiebung tatsächlich möglich.
b) Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, die die Antragsgegnerin zu berücksichtigen hätte, sind nicht ersichtlich. Es fehlt insoweit auch jeglicher Vortrag des Antragstellers.
c) Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Antragsgegnerin auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244; Bergmann in Dienelt/Bergmann, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 29 AsylG Rn. 35), da die Abschiebung nur durchgeführt werden darf, wenn sie rechtlich und tatsächlich möglich ist, sind ebenfalls nicht ersichtlich.
3. Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids vom 14. Mai 2019 voraussichtlich erfolglos bleiben wird, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes, so dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen war.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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