Europarecht

Abschiebungsanordnung im Dublin-Verfahren

Aktenzeichen  1 C 27/14

Datum:
17.9.2015
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2015:170915U1C27.14.0
Normen:
Art 78 Abs 2 AEUV
§ 27a AsylVfG
§ 31 Abs 6 AsylVfG
§ 34a Abs 1 AsylVfG
§ 11 AufenthG
Art 2 Abs 1 EGRL 115/2008
Art 7 EGRL 115/2008
Art 7 Abs 1 EGV 1560/2003
Art 10 Abs 1 EGV 343/2003
Art 13 EGV 343/2003
Art 16 Abs 1 EGV 343/2003
Art 18 Abs 7 EGV 343/2003
Art 19 Abs 2 EGV 343/2003
Art 19 Abs 3 EGV 343/2003
Art 19 Abs 4 EGV 343/2003
Art 20 Abs 1 EGV 343/2003
Art 20 Abs 2 EGV 343/2003
Art 26 Abs 2 EUV 604/2013
Art 29 Abs 1 EUV 604/2013
Art 49 Abs 2 EUV 604/2013
Art 52 Abs 1 S 2 EUGrdRCh
Art 6 EUGrdRCh
§ 19 Abs 2 VwVG BW
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Die Regelungen der Dublin-Verordnungen geben keine Rangfolge hinsichtlich der drei von ihnen vorgesehenen Überstellungsmodalitäten vor (vgl. Art. 7 Abs. 1 VO Nr. 1560/2003 ). Es besteht insbesondere kein Vorrang zugunsten einer Überstellung auf eigene Initiative des Asylantragstellers (BVerwG, wie Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26.14).
2. Die Regelung des § 34a Abs. 1 AsylVfG, wonach vom Bundesamt nur die Abschiebung als Möglichkeit der Überstellung eines Ausländers in den für die Prüfung seines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaat angeordnet werden kann, ist mit Unionsrecht vereinbar. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist von der mit dem Vollzug der Abschiebung betrauten Ausländerbehörde Rechnung zu tragen (BVerwG, wie Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26.14).
3. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird dadurch gewahrt, dass die Überstellung zwar regelmäßig in Gestalt der Abschiebung vollzogen wird, im Ausnahmefall aber auch eine Überstellung ohne Verwaltungszwang möglich ist. Eine Überstellung ohne Verwaltungszwang ist dem Asylbewerber von der Vollzugsbehörde dann zu ermöglichen, wenn gesichert erscheint, dass er sich freiwillig in den für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaat begibt und sich dort fristgerecht bei der verantwortlichen Behörde meldet (BVerwG, wie Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26.14).
4. Eine Überstellung ohne Verwaltungszwang ist keine Abschiebung und führt folglich nicht zu einem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG (BVerwG, wie Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26.14).
5. Ist die Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags gemäß § 27a AsylVfG unanfechtbar geworden, ist für die von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vorausgesetzte Durchführung der Abschiebung mit Blick auf die internationale Zuständigkeit nur noch von Bedeutung, ob eine Überstellung an den ersuchten Mitgliedstaat tatsächlich möglich ist.

Verfahrensgang

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 27. August 2014, Az: A 11 S 1286/14, Urteilvorgehend VG Stuttgart, 21. Mai 2014, Az: A 8 K 399/14

Tatbestand

1
Der Kläger, ein pakistanischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erlassene Abschiebungsanordnung nach Ungarn.
2
Der Kläger reiste im Juni 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 8. Juli 2013 einen Asylantrag. Er gab an, im Mai 2013 in Ungarn erkennungsdienstlich behandelt worden zu sein und einen Ausweis erhalten zu haben, mit dem er sich in Ungarn hätte aufhalten dürfen. Nach zwei Tagen sei er über Österreich nach Deutschland gefahren.
3
Nach einem Abgleich der Fingerabdrücke im Eurodac-System richtete das Bundesamt am 5. November 2013 ein Wiederaufnahmeersuchen an Ungarn, dem die dortigen Behörden am 14. November 2013 zustimmten. Sie gaben an, der Kläger habe am 27. Mai 2013 in Ungarn einen Asylantrag gestellt. Nachdem er abgetaucht sei, sei sein Verfahren im Juni 2013 eingestellt worden.
4
Mit Bescheid vom 17. Januar 2014 entschied das Bundesamt, dass der Asylantrag unzulässig ist (Nr. 1 des Bescheids) und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an (Nr. 2 des Bescheids). Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit Beschluss vom 6. März 2014 ab. Im Hauptsacheverfahren hat es die Klage abgewiesen.
5
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung hinsichtlich der Abschiebungsanordnung (Nr. 2 des Bescheids) zugelassen, hinsichtlich der Zulässigkeitsentscheidung (Nr. 1 des Bescheids) jedoch den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung abgelehnt. Mit Urteil vom 27. August 2014 hat er die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass § 34a Abs. 1 AsylVfG mit den unionsrechtlichen Vorgaben sowohl der Dublin II-Verordnung als auch der Dublin III-Verordnung vereinbar sei. Es könne offenbleiben, welche dieser Verordnungen anwendbar sei, wenn – wie hier – das Wiederaufnahmeersuchen während der Geltung der Dublin II-Verordnung gestellt, das Überstellungsverfahren aber erst nach Inkrafttreten der Dublin III-Verordnung eingeleitet worden sei. Es widerspreche nicht dem Unionsrecht, dass § 34a AsylVfG zwingend den Erlass einer Abschiebungsanordnung vorsehe. Denn der Wortlaut der Vorschrift sei in einer Weise offen, dass eine Abschiebung nicht ausnahmslos stattfinden müsse. Zwar gewährten die Dublin-Regelungen den Mitgliedstaaten insoweit einen gewissen Spielraum bei der Auswahl der Überstellungsvarianten. Dieser werde aber durch den unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip sei bei der Entscheidung über den Vollzug der Überstellungsentscheidung von den hierfür zuständigen Ausländerbehörden der Länder zu beachten; insoweit bedürfe es keiner Regelung im Bundesamtsbescheid. Die Verlagerung der Entscheidung über die Modalitäten der Überstellung auf die Ausländerbehörden entspreche der föderalen Struktur Deutschlands. Gegen die Rechtmäßigkeit der verfügten Abschiebungsandrohung könne nicht mit Erfolg eingewendet werden, dass eine Überstellung nach Ungarn nicht mehr möglich sei. Zum einen sei dies nach wie vor der Fall. Zum anderen könne sich der Kläger auf einen Zuständigkeitswechsel auf Deutschland nicht berufen, weil die Unzulässigkeitsentscheidung in Nr. 1 des angegriffenen Bescheids in Bestandskraft erwachsen und damit die Zuständigkeitsfrage rechtskräftig geklärt sei.
6
Der Kläger rügt mit seiner Revision, dass § 34a AsylVfG gegen den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verstoße. Art. 19 Abs. 1 und 2 der Dublin II-Verordnung spreche nur von “Überstellung” und nicht von “Abschiebung”. Zudem verbiete das Verhältnismäßigkeitsprinzip, eine Überstellung, die nur der Realisierung einer internationalen Zuständigkeitszuweisung diene, ausschließlich mit dem Zwangsmittel der Abschiebung durchzuführen. Das nationale Recht diskriminiere die Asylbewerber, wenn es sie auf dieselbe Stufe mit Gefährdern der öffentlichen Sicherheit stelle. § 34a AsylVfG könne nicht unionsrechtskonform gehandhabt werden, denn die Vorschrift lasse den Ausländerbehörden auch mit Blick auf in § 6 AsylVfG angeordnete Verbindlichkeit der Entscheidungen des Bundesamts keinen Spielraum bei der Umsetzung. Zudem sehe Unionsrecht vor, dass die Überstellungsentscheidung mit den weiteren Regelungen über ihren Vollzug in einem einzigen Bescheid zusammengefasst werde.
7
Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil. Die unionsrechtlichen Regelungen machten dem nationalen Gesetzgeber keine Vorgaben, welche der unionsrechtlich zulässigen Überstellungsvarianten er vorzusehen habe. Seit April 2015 werde in den Bescheiden des Bundesamts die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise angeboten, wenn diese mit allen beteiligten Stellen abgestimmt sei. Hierauf bestehe jedoch kein Rechtsanspruch.
8
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht am Verfahren beteiligt.


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