Europarecht

Abschiebungsanordnung rechtswidrig: Ablauf der sog. Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 9 K 15.50450

Datum:
10.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 34a Abs. 2 S. 2
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 1
VwGO VwGO § 42 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Die sog. Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO beginnt für den Fall, dass – wie hier – ein Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat im Dublin III-Verfahren erfolglos war, ab der Zustellung der ablehnenden Eilentscheidung an das Bundesamt neu zu laufen. Mit der Neuregelung des § 34a Abs. 2 S. 2 AsylG ist nämlich im Fall eines eingelegten Eilrechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 VwGO von Gesetzes wegen nunmehr ein grundsätzliches Vollstreckungshindernis vorgesehen, das den ersuchenden Mitgliedstaat vorübergehend daran hindert, die Überstellung des betroffenen Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedstaat zu organisieren und durchzuführen.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … März 2015 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gem. § 101 Abs. 2 VwGO konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da beide Parteien auf eine mündliche Verhandlung verzichtet haben.
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom … März 2015 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der streitgegenständliche Bescheid ist aufgrund des Ablaufs der sog. Überstellungsfrist und des hierdurch bedingten Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO rechtswidrig geworden.
Anzuwenden ist im vorliegenden Fall wegen Art. 49 UAbs. 2 VO (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) die Dublin-III-VO, da sowohl der Antrag auf internationalen Schutz als auch das Übernahmeersuchen nach dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind.
Die sechsmonatige Überstellungsfrist nach dem somit einschlägigen Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO ist abgelaufen: Die Frist beginnt für den Fall, dass – wie hier (vgl. VG München v. 18.03.2014, Az. M 21 S. 14.30499) – ein Antrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat im Dublin-III-Verfahren erfolglos war, ab der Zustellung der ablehnenden Eilentscheidung an das Bundesamt neu zu laufen. Denn mit der Neuregelung des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 28. August 2013 (BGBl. 2013 I S. 3474 ff.) ist im Fall eines eingelegten Eilrechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 VwGO von Gesetzes wegen nunmehr ein grundsätzliches Vollstreckungshindernis vorgesehen, das den ersuchenden Mitgliedstaat vorübergehend daran hindert, die Überstellung des betroffenen Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedstaat zu organisieren und durchzuführen. Hiernach ist mit der Zustellung der ablehnenden Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz an die Beklagte am 20. November 2015 der Lauf einer neuen sechsmonatigen Überstellungsfrist ausgelöst worden, die folglich – jedenfalls spätestens – am Ende des 20. Mai 2016 (d.h. 24:00 Uhr) abgelaufen ist.
Der Fristablauf begründet gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO den Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte für die Prüfung des Asylbegehrens. Der Asylantrag ist damit nicht mehr nach § 27a AsylG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig. Eine Umdeutung der Entscheidung in die Ablehnung eines Zweitantrages gem. § 71a AsylG ist nicht möglich (BayVGH, B.v. 29.07.2015 – 13a ZB 15.50096 – juris Rn. 13; BVerwG, U.v. 27.04.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 19).
Mit dieser zunächst objektiven Rechtswidrigkeit geht auch eine subjektive Rechtsverletzung der Klagepartei i.S. von § 42 Abs. 2, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO einher, da eine Rückübernahmebereitschaft Bulgariens nicht ersichtlich ist (VGH Mannheim, U.v. 29.04.2015 – A 121/15 – juris). Die Beklagte hat nicht vorgetragen, dass Bulgarien trotz des Ablaufs der Überstellungsfrist zur Rückübernahme des Klägers bereit wäre. Hierfür bestehen auch keine Anhaltspunkte. Damit kann sich der Kläger auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen, da Bulgarien jedenfalls nicht verpflichtet ist, das Asylverfahren durchzuführen und der Anspruch des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens verletzt wäre (VG München, Urteil vom 28.10.2015 – M 11 K 14.50671). Der nach den Dublin-Bestimmungen infolge des Fristablaufs zuständige Mitgliedsstaat darf einen Schutzsuchenden jedenfalls dann nicht auf eine Prüfung durch einen anderen Mitgliedsstaat verweisen, wenn dessen (Wieder-) Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht (BVerwG, U.v. 27.04.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 20).
Auch die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung betreffend den zunächst zuständigen Mitgliedstaat auf der Grundlage des § 34a i. V. m. § 27a AsylG liegen nicht mehr vor, so dass der Bescheid vom … März 2015 insgesamt rechtswidrig geworden und aufzuheben ist.
Das Bundesamt ist in der Folge kraft Gesetzes (vgl. § 31 Abs. 2 AsylG) verpflichtet, das Asylverfahren des Klägers fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22).
Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.


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