Aktenzeichen Au 3 K 17.1675
Leitsatz
Seit der am 1. Januar 2014 in Kraft getretenen Änderung durch das Gesetz zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz – KJVVG) vom 29. August 2013, wodurch die Worte „in diesen Fällen“ eingefügt wurden, ist § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII dahingehend zu verstehen, dass die bisherige Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nur dann bestehen bleibt, wenn die Elternteile die verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalte gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII erst nach Beginn der Leistung begründen (VG Würzburg, U.v. 18.5.2017 – W 3 K 16.332, BeckRS 2017, 123050 Rn. 37 ff.; VG Aachen, U.v. 20.12.2018 – 1 K 909/16, BeckRS 2018, 35751 Rn. 39). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 15.877,16 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. November 2017 zu zahlen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Berufung wird zugelassen.
Gründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat gegenüber dem Beklagten einen Anspruch auf Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von 15.877,16 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. November 2017.
Nachdem sich die Hilfeempfängerin mehr als zwei Jahre bei der Pflegefamilie aufhielt und der Verbleib bei dieser auf Dauer zu erwarten war, wurde gemäß § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII der Kläger zuständig. Allerdings folgt in diesem Fall nach § 89a Abs. 1 und 3 SGB VIII ein Kostenerstattungsanspruch gegenüber dem örtlichen Träger, der ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig gewesen war bzw. geworden wäre. Strittig ist allein die Frage, ob sich diese fiktive Zuständigkeit dynamisch nach § 86 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII durch die Umzüge der Kindsmutter – zuletzt in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten – änderte, oder wegen § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII eine statische Zuständigkeit gilt.
1. Das Bundesverwaltungsgericht ging in der Vergangenheit in mehreren Entscheidungen davon aus, dass § 86 Abs. 5 SGB VIII als umfassende Regelung für verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Eltern alle Fallgestaltungen betreffe, in denen die Eltern nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen. Die zeitliche Abfolge der zuständigkeitsbegründenden Kriterien spielte dagegen keine Rolle. § 86 Abs. 5 SGB VIII sei daher auch in Fällen gegeben, in denen die Eltern schon bei Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten (stRspr. vgl. bspw. BVerwG, U.v. 20.9.2009 – 5 C 18/08 – juris Rn. 22, BVerwG, U.v. 9.12.2010 – 5 C 17/09 – juris Rn. 22; BVerwG, U.v. 19.10.2011 – 5 C 25/10 – juris Rn. 35)
2. Dieser weiten, in der Literatur kritisierten Auslegung ist durch die Einfügung der Worte „in diesen Fällen“ durch das Gesetz zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz – KJVVG) vom 29. August 2013, in Kraft getreten am 1. Januar 2014, die Grundlage entzogen worden. § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII ist nunmehr dahingehend zu verstehen, dass die bisherige Zuständigkeit nur dann bestehen bleibt, wenn die Elternteile die verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalte gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII erst nach Beginn der Leistung begründen (so auch DIJuF-Rechtsgutachten 20.1.2014, J 8.110/J 9.230 DE, JAmt 2014, 15, 16; Häußler, DVBl 2013, 1001, 1007; vgl. ausführlich auch VG Würzburg, U.v. 18.5.2017 – W 3 K 16.332 – beck online Rn. 37 ff.; VG Aachen, U.v. 20.12.2018 – 1 K 909/16 – beck online Rn. 39).
a) Daran ändert auch das nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe erlassene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. November 2013 – 5 C 34/12 – zur früheren Rechtslage nichts. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass diese Entscheidung bereits eine grundlegende Änderung der Rechtsprechung beinhaltete. Das Bundesverwaltungsgericht führte nämlich aus, dass § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII nicht mehr als umfassende Regelung für verschiedene gewöhnliche Aufenthalte verstanden werden könne, sondern nur noch auf Fallgestaltungen Anwendung finde, in denen Eltern nach Leistungsbeginn erstmals einen unterschiedlichen gewöhnlichen Aufenthalt begründen (BVerwG, U.v. 14.11.2013 – 5 C 34/12 – juris Rn. 18). Die „gesonderte Betrachtung“ des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII begründete es nun damit, dass dem Wortlaut des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII nicht zu entnehmen sei, welche Merkmale des Satzes 1 in Bezug genommen würden, und § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII sich daher nach Sinn und Zweck allein auf das Merkmal „nach Beginn der Leistung“ beziehe und nicht auf das Wort „Begründen“ (BVerwG, U.v. 14.11.2013, a.a.O., juris Rn. 23 f.). Eine derart differenzierende Auslegung des Satzes 2 ist durch die Gesetzesänderung unmöglich geworden. Das nun explizit genannte Merkmal „in diesen Fällen“ bezieht sich eindeutig auf beide Alternativen des Satzes 2 und kann deswegen nicht unterschiedlich verstanden werden. Durch die Ergänzung hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die teleologischen Erwägungen nicht mehr entgegen der grammatikalischen und systematischen Auslegung zu einer gesonderten Betrachtung führen können, sondern vielmehr insoweit eine umfassende Bezugnahme erfolgen sollte.
b) Diese einheitlich vorzunehmende Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII ergibt, dass eine Versteinerung der Zuständigkeit nur eintritt, wenn sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII gegeben sind. Nur diese Auslegung entspricht dem Willen des Gesetzgebers. Dieser wandte sich nämlich ausdrücklich gegen die Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts, weil sie zu unbefriedigenden Ergebnissen führe. Insoweit legte er in seinen Erwägungen selbst dar: „Eine Ausweitung der eng begrenzten Ausnahmefälle läuft […] unmittelbar den Absichten zuwider, die der Gesetzgeber mit der Zuständigkeitsregel des § 86 Abs. 5 SGB VIII verfolgt hat.“ (BT-Drs. 17/13531, S. 8). Er wollte die „Anwendung […] auf die Fälle beschränken, in denen nach Beginn der Leistung zum Zeitpunkt der Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte die Personensorge beiden gemeinsam oder keinem Elternteil zugestanden hat“, um dadurch „den mit der Zuständigkeitsregel des Absatzes 5 verfolgten Gesetzeszweck“ zu wahren (BT-Drs. 17/13531, S. 8). Es war daher der Wille des Gesetzgebers, der bisherigen Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII durch das Bundesverwaltungsgericht insgesamt entgegenzutreten und eine Änderung des Anwendungsbereiches der Norm zu erreichen (vgl. Loos in Wiesner, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 86 Rn. 29a; Kunkel/Kepert in LPK-SGB VIII, 6. Auflage 2016, § 86 Rn. 38).
3. Der Anspruch des Klägers ist entsprechend §§ 291, 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 809 Satz 1 und 2 ZPO.
Die Rechtssache hat gemäß §§ 124 Abs. 2 Nr. 3, 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO grundsätzliche Bedeutung, weil sich die Frage nach der richtigen Auslegung des § 86 Abs. 5 SGB VIII in einer Vielzahl von Fällen stellt und seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetzes noch keine ober- oder höchstgerichtliche Entscheidung hierzu ergangen ist.