Europarecht

Ausweisung auch bei ständigem Aufenthalt im Ausland

Aktenzeichen  M 24 K 17.552

Datum:
22.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 227 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 ZPO i.V.m. § 173 VwGO
VwGO VwGO § 95
AufenthG AufenthG § 77 Abs. 3
AEUV Art. 267 des EU-Arbeitsweisevertrages (AEUV)
Richtlinie 2008/115/EG Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 (Rückführungsrichtlinie)
Richtlinie 2010/64/EU Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren
ZustVAuslR § 5 Abs. 3 Nr. 5 Halbs. 1 ZustVAuslR
AufenthG AufenthG § 53 Abs. 1 und Abs. 2
AufenthG AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Der Anwendung der Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG steht nicht entgegen, dass sich der Betroffene zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsverfügung nicht (mehr) in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, da zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausweisung nicht gehört, dass sich der Ausländer noch im Bundesgebiet aufhält. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet und war daher abzuweisen.
1. Das Gericht konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 2017 entscheiden, auch wenn der Kläger persönlich an der mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen hat.
Die Verwaltungsgerichtsordnung kennt kein grundsätzliches Gebot, nur bei persönlicher Anwesenheit der jeweils klagenden Person zu entscheiden, sondern ermöglicht ganz im Gegenteil eine Entscheidung sogar bei vollständigem Nichterscheinen eines Beteiligten (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO). Der Kläger war durch seinen Bevollmächtigten vertreten.
Die Voraussetzungen von § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO, der über § 173 VwGO im Verwaltungsprozess Anwendung findet, lagen nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann aus erheblichen Gründen ein Termin aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Erhebliche Gründe sind nach § 227 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZPO nicht das Ausbleiben einer Partei oder die Ankündigung, nicht zu erscheinen, wenn nicht das Gericht dafür hält, dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert ist. Vorliegend fehlt es bereits am „Ausbleiben einer Partei“, da der Kläger durch seinen Bevollmächtigten vertreten war, so dass es auf die Frage, ob die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen verhindert war, nicht ankommt.
Das persönliche Erscheinen des Klägers nach § 95 Abs. 1 Satz 1 VwGO war vom Gericht nicht angeordnet worden, da es dies vorliegend zur Sachaufklärung aufgrund der Aktenlage nicht für erforderlich erachtete. Eine Verpflichtung des Gerichts, bei Beteiligten, die sich in Haft befinden, das persönliche Erscheinen anzuordnen, ist dieser Vorschrift – insbesondere bei einer anwaltlich vertretenen Partei – nicht zu entnehmen (vgl. Kopp, VwGO, 14. Auflage, 2005, § 95, Rn. 4 und Geiger in Eyermann, VwGO, 14. Auflage, 2014, § 95, Rn. 5). Da das Gericht die Vorschrift des § 95 VwGO auch nicht für verfassungswidrig hält, hat es das Verfahren auch nicht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht eingeholt.
2. Die Klage mit dem zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom 22. Juni 2017 gestellten Antrag (Sitzungsprotokoll S. 12) ist als Anfechtungsklage bzgl. der Ausweisung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots und als hilfsweise erhobene Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Herabsetzung der Sperrfrist zulässig (ständige Rspr., vgl. BVerwG, U.v. 14.02.2012 – 1 C 7/11 – juris Rn. 30).
Die Klage wurde insbesondere am 10. Februar 2017 fristgemäß erhoben, da der am 5. Januar 2017 zur Post gegebene streitgegenständliche Bescheid nach Art. 14 Abs. 3 Satz 3 VwZVG am siebenten Tag nach Aufgabe zur Post als zugestellt gilt und der Kläger ihn dem Vortrag seines Bevollmächtigten nach auch am 12. Januar 2017 erhalten hat.
3. Die Klage ist jedoch sowohl im Hauptals auch im Hilfsantrag unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 30.07.2013 – 1 C 9/12 – juris Rn. 8) rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine weitergehende Verkürzung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots oder auf erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Länge der Sperrfrist (§ 113 Abs. 5 VwGO).
3.1. Der Bescheid ist formell rechtmäßig ergangen.
3.1.1. Das Landratsamt … war für den Erlass des Bescheides nach § 5 Abs. 3 Nr. 5 Halbs. 1 der Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht (ZustVAuslR) insbesondere örtlich zuständig. Nach dieser Vorschrift besteht eine Zuständigkeit nach § 5 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 ZustVAuslR fort für Entscheidungen über nachträgliche Befristungen von Einreise- und Aufenthaltsverboten.
Der Kläger hat sich zuletzt bis seiner Verurteilung durch das Landgericht … in Untersuchungshaft in der JVA … aufgehalten. Diese Zuständigkeit besteht auch nach der Ausreise des Klägers nach Italien für den Erlass des streitgegenständlichen Bescheides fort. Zwar wurde vorliegend nicht eine nachträgliche Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, sondern eine Ausweisung zusammen mit einer Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots verfügt. § 5 Abs. 3 Nr. 5 Halbs. 1 ZustVAuslR stammt jedoch vom 14. Juli 2005 und mithin aus einer Zeit vor der Änderung des § 11 Abs. 2 AufenthG zum 1. August 2015, wonach die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr auf Antrag, sondern von Amts wegen und im Falle der Ausweisung gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung festzusetzen ist. Vor diesem Hintergrund ist § 5 Abs. 3 Nr. 5 Halbs. 1 ZustVAuslR erweiternd dahingehend auszulegen, dass auch für Fallgestaltungen, in denen noch keine Ausweisungsverfügung existiert, hinsichtlich der eine nachträgliche Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots verfügt werden könnte, die zuletzt zuständig gewesene Ausländerbehörde für ausländerrechtliche Maßnahmen weiterhin zuständig ist.
3.1.2. Dem Kläger wurde vor Erlass des Bescheides Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG). Der vorgelegten Behördenakte zufolge erfolgte die Anhörung mit Schreiben vom 4. August 2016 als internationales Einschreiben mit Rückschein (Bl. 46 d.A.), das der Kläger, wie sich u.a. aus dem Schreiben seines Bevollmächtigten vom 8. September 2016 (Bl. 47 d.A.) ergibt, auch erhalten hat.
Die Behörde war auch nicht gehalten, dem Kläger das Anhörungsschreiben in einer anderen als der deutschen Sprache zuzuleiten. Nach Art. 23 Abs. 1 BayVwVfG ist die Amtssprache grundsätzlich deutsch. Nach § 77 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist dem Ausländer auf Antrag eine Übersetzung der Entscheidungsformel des Verwaltungsaktes, mit dem der Aufenthaltstitel versagt oder mit dem der Aufenthaltstitel zum Erlöschen gebracht oder mit dem eine Befristungsentscheidung nach § 11 AufenthG getroffen wird, und der Rechtsbehelfsbelehrung:kostenfrei in einer Sprache zu Verfügung zu stellen, die der Ausländer versteht oder bei der vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass er sie versteht. Vorliegend ist zum einen das Anhörungsschreiben in der genannten Vorschrift nicht aufgeführt, zum anderen hat der anwaltlich vertretene Kläger keinen entsprechenden Antrag auf Übersetzung gestellt. Darüber hinaus sind nach § 77 Abs. 3 Satz 6 AufenthG die Sätze 1 bis 3 nicht anzuwenden, wenn der Ausländer – wie vorliegend – bereits ausgereist ist. Das Gericht hält die Vorschrift des § 77 Abs. 3 AufenthG auch nicht für verfassungswidrig, weshalb es das Verfahren auch nicht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht eingeholt hat.
Eine Aussetzung des Verfahrens und eine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) waren ebenso nicht veranlasst. Eine Vorlagepflicht besteht nach Art. 267 Abs. 2 AEUV für das erstinstanzliche Gericht nicht. Das Gericht hält eine Vorlage auch nicht für erforderlich. Aus den Erwägungsgründen und den Bestimmungen der Richtlinie 2010/64/EU vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ergibt sich zweifelslos, dass sich diese Richtlinie ausschließlich auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren bezieht. Für eine analoge Anwendung dieser Richtlinie auf das vorliegende Verwaltungsverfahren ist mangels Regelungslücke kein Raum, da Art. 12 der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie), der in § 77 Abs. 3 AufenthG seine Umsetzung erfahren hat, für Verwaltungsverfahren wie das vorliegende die einschlägigen Verfahrensgarantien im Hinblick auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen vorgibt.
Im Übrigen ist für das Gericht auch nicht ersichtlich, inwieweit das Ergebnis dieses Klageverfahrens von der Beantwortung der Vorlagefragen abhängen könnte, zumal der Bevollmächtigte ausweislich seines Schreibens vom 8. September 2016 das an den Kläger gerichtete Anhörungsschreiben vom 4. August 2016 erhalten hat und ihm (nach anwaltlicher Kenntnisnahme) daran anschließend von der Behörde vor Erlass der streitgegenständlichen Entscheidung Akteneinsicht und Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt wurde. Soweit der Bevollmächtigte in seinem Aussetzungsantrag darauf hinweist, dass der Kläger der deutschen und der Bevollmächtigte der arabischen Sprache nicht mächtig ist, wird auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Dolmetschern im Innenverhältnis zwischen Mandanten und Rechtsanwalt, beispielsweise den vom Bevollmächtigten im Schriftsatz vom 20. März 2017 an das Gericht benannten in München wohnhaften Dolmetscher, „der den Kläger bereits persönlich kenne und mit dem er sich problemlos verständigen könne“, verwiesen. Im Übrigen tangieren die Belange des Innenverhältnisses zwischen Mandanten und Rechtsanwalt das Verwaltungsverfahren nicht.
3.1.3. Zur Frage, inwieweit der streitgegenständliche Bescheid dem Kläger in seiner Landes-/Muttersprache hätte übersetzt werden müssen, wird auf die Ausführungen unter Nr. 3.1.2. verwiesen. Ergänzend hierzu wird darauf hingewiesen, dass der streitgegenständliche Bescheid vom 4. Januar 2017 dem Klägerbevollmächtigten auf dessen Wunsch hin mit Schreiben vom 23. Januar 2017 (Bl. 89 d.A.) von der Behörde innerhalb der offenen Rechtsbehelfsfrist übersandt wurde, so dass für das Gericht auch insoweit nicht ersichtlich ist, inwieweit das Ergebnis dieses Klageverfahrens von der Beantwortung der Vorlagefragen abhängen könnte.
3.2. Der Bescheid ist auch materiell rechtmäßig.
3.2.1. Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.
3.2.1.1. Die Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG sind vorliegend anwendbar. Dass sich der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides und auch weiterhin in Italien aufhält, steht der Anwendbarkeit nicht entgegen, da zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausweisung nicht gehört, dass sich der Ausländer noch im Bundesgebiet aufhält (BVerwG, U.v. 31.03.1998 – 1 C 28.97 – juris Leitsatz).
Auch dass sich der Kläger bislang – bis auf seinen Aufenthalt ab der Auslieferung aus Italien am 14. Januar 2016 bis zur Verurteilung am 18. Juli 2016 – zumindest nicht durch ausländerrechtliche Registrierung nachweislich in Deutschland aufgehalten hat, und auch die Anlasstat nicht in Deutschland, sondern in Italien begangen wurde, führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar hatte das Bundesverwaltungsgericht in dem genannten Urteil vom 31. März 1998 nicht darüber zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer ausgewiesen werden kann, der noch nie eingereist ist oder dessen früherer Aufenthalt im Bundesgebiet mit der Ausweisung in keinem Zusammenhang steht (BVerwG, U.v. 31.03.1998 – 1 C 28.97 – juris Rn. 9). Vorliegend sind durch die vom Kläger begangene, der Verurteilung vom 18. Juli 2016 durch das Landgericht … zugrundeliegenden Tat jedoch auch Rechtsgüter im Inland betroffen; die Tatbegehung im Ausland hatte Auswirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland, weshalb auch die strafrechtliche Verurteilung im Inland erfolgte, so dass auch die inländischen ausländerrechtlichen Vorschriften der §§ 53 ff. AufenthG anwendbar sind. Im Übrigen könnten nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG selbst im Ausland begangene Straftaten ohne Verurteilung eine Ausweisung rechtfertigen.
3.2.1.2. Nach der Grundsatznorm des § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weitere Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausweisung überwiegt.
3.2.1.3. Vom Kläger geht eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Er wurde mit Urteil des Landgerichts … vom 18. Juli 2016 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren mit dreijähriger Bewährungszeit verurteilt und hat damit den Tatbestand des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Die Ausweisung erfolgte zum einen aus generalpräventiven Gründen. Ein Ausländer, der sich trotz der verschiedenen Ausweisungstatbestände nicht von der Begehung einer Straftat abhalten lässt, setzt selbst die Voraussetzung für eine Ausweisungsverfügung. Er gibt durch sein Verhalten anderen Ausländern auch in der Bundesrepublik ein schlechtes Beispiel und dadurch die Veranlassung für eine generalpräventive Maßnahme (BayVGH, B.v. 19.09.2016 – 19 CS 15.1600 – juris Rn. 34). So liegt es hier. Die Ausweisung erfolgt zur Abschreckung anderer Ausländer, die sich als Schleuser betätigen wollen. Der unkontrollierte Zuzug von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland soll damit verhindert werden.
Ob „in der Hochphase der Flüchtlingswelle insbesondere in Deutschland und Österreich die Grenzen geöffnet wurden“, ist in diesem Zusammenhang bereits deshalb unerheblich, weil die Tat, wegen der der Kläger zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, bereits am 9. November 2014 und damit vor „der Hochphase der Flüchtlingswelle“ im Sommer 2015 begangen wurde. Bei der Frage, ob aufgrund dieser Tat und der daraus resultierenden Verurteilung des Klägers von diesem eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG ausgeht, handelt es sich zudem nicht um eine Tatsachenbehauptung, sondern um eine Subsumtion bzw. Wertung, die vom Gericht vorzunehmen und einer Beweisführung nicht zugänglich ist.
3.2.1.4. Ob die Ausweisung zudem auf spezialpräventive Gründe gestützt werden kann, kann insoweit dahingestellt bleiben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (st. Rspr.; BayVGH, B.v. 03.03.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn 11; B.v. 16.03.2016 – 10 ZB 15.2109 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
Im vorliegenden Fall spricht zwar einiges dafür, dass die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erfüllt sind. Der Kläger ist mit Urteil des Landgerichts … vom 18. Juli 2016 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren mit dreijähriger Bewährungszeit wegen gewerbsmäßigen Einschleusens verurteilt worden. Dabei handelte er laut Urteil in der Absicht, sich durch weitere derartige Handlungen eine Einkommensquelle von nicht unerheblichem Umfang zu verschaffen. Die sechs weiteren in der Anklageschrift aufgeführten Einzeltaten wurden lediglich nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt. Die finanzielle Situation des Klägers ist weiterhin problematisch; er hat in Italien eine Frau und zwei Kinder und bekommt seinen eigenen Angaben bei der Beschuldigtenvernehmung zufolge in Italien nur Essen und die Wohnung, jedoch kein Geld (Bl. 63 d.A.), so dass hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Kläger auch in Zukunft Schleusertätigkeiten auszuführen vermag, um sich eine Einnahmequelle zu verschaffen.
Allerdings ist die Vollstreckung der zweijährigen Freiheitsstrafe vom Landgericht … wegen des Geständnisses des Klägers und „da er vom bisherigen Vollzug der Untersuchungshaft beeindruckt erscheint, so dass die Kammer davon ausgeht, dass der Kläger in Zukunft keine Straftaten mehr begehen wird“ zur Bewährung nach § 56 Abs. 2 StGB ausgesetzt worden. Es besteht keine rechtliche Bindung von Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten an die tatsächlichen Feststellungen und die Beurteilung des Strafrichters, also auch nicht an die strafgerichtliche Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18 m.w.N.; BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21). Vielmehr haben Ausländerbehörde und Verwaltungsgerichte über das Vorliegen einer hinreichenden Gefahr neuer Verfehlungen eigenständig zu entscheiden. Die strafgerichtliche Entscheidung über die Aussetzung der Strafe zur Bewährung ist aber von tatsächlicher Bedeutung für die behördliche und verwaltungsgerichtliche Sachverhaltswürdigung dahingehend, ob eine die Ausweisung rechtfertigende Gefahr gegeben ist; auch vor dem Hintergrund, dass dem Strafrecht und dem Ausländerrecht unterschiedliche Gesetzeszwecke zugrunde liegen, kann von der sachkundigen strafrichterlichen Prognose bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abgewichen werden (BayVGH, B.v. 22.2.2012 – 19 ZB 11.2850 – juris). Dies gilt namentlich bei einer Strafaussetzung nach § 56 StGB (vgl. BayVGH, B.v. 27.12.2016 – 10 CS 16.2289 – juris Rn. 8). Derartige Gründe wurden im streitgegenständlichen Bescheid nicht benannt; ob derartige überzeugende Gründe vorliegen, ist nach Auffassung des Gerichts zumindest zweifelhaft.
3.2.1.5. Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG steht weder ein vertyptes Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG noch ein sonstiges Bleibeinteresse gegenüber. Der Kläger hat keinerlei Bindungen zum Bundesgebiet. Soweit sein Bevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgetragen hat, dass die zuvor in Syrien bzw. im Libanon aufhältige Familie des Klägers, d.h. seine (erste) Ehefrau und seine vier Kinder, seit der Untersuchungshaft des Klägers in Deutschland leben würden, ist bereits zweifelhaft, ob dies den Tatsachen entspricht. Der Bevollmächtigte des Klägers hat weder die Namen noch eine konkrete Anschrift der in Deutschland aufhältigen Familie benannt. Im Übrigen wurde weder vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, dass der Kläger das Personensorgerecht für eines der minderjährigen Kinder im Bundesgebiet ausüben (§ 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG) oder die Belange oder das Wohl der Kinder eine Anwesenheit des bislang abwesenden Klägers erfordern würde (§ 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG). Vom Bevollmächtigten des Klägers wurde in der mündlichen Verhandlung auch nicht vorgetragen, dass der Kläger nunmehr seine neue in Italien lebende Lebensgefährtin, mit der er zwei Kinder hat, verlassen und zu seiner ersten Familie zurückkehren möchte.
3.2.1.6. Bei der gebotenen Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteressen überwiegt im vorliegenden Fall das Interesse an einer Ausweisung des Klägers.
Bei der Abwägung sind nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (§ 53 Abs. 2 AufenthG). In diesem Zusammenhang sind auch die in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten Kriterien zu beachten (vgl. EGMR, U.v. 2.8.2001 – Nr. 54273/00, Boultif/Schweiz – InfAuslR 2001, 476 und U.v. 18.10.2006 – Nr. 46410/99, Üner/Niederlande – NVwZ 2007,1279). Dazu gehören die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat; die Dauer seines Aufenthalts im Land, aus dem er ausgewiesen werden soll; die seit Begehen der Straftat vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers seit der Tat; die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten; die familiäre Situation des Ausländers und gegebenenfalls die Dauer seiner Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen; ob der Partner bei Begründung der familiären Beziehung Kenntnis von der Straftat hatte; ob der Verbindung Kinder entstammen, und in diesem Fall deren Alter; den Grund für die Schwierigkeiten, die der Partner in dem Land haben kann, in das der Ausländer ausgewiesen werden soll.
Dem oben genannten besonders schweren Ausweisungsinteresse aus § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG stehen keine hinreichenden Bindungen des Klägers zum Bundesgebiet und damit kein hinreichendes Bleibeinteresse des Klägers gegenüber. Die Ausweisungsverfügung ist zu Recht ergangen.
3.2.2. Die Verpflichtungsklage auf Neubescheidung der Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung nach § 11 AufenthG bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Die in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids vom 4. Januar 2017 getroffene und in der mündlichen Verhandlung am 22. Juni 2017 modifizierte Entscheidung, die Wiedereinreise für 2 Jahre ab der Ausreise zu untersagen, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
3.2.2.1. Einschlägige Rechtsgrundlage ist § 11 AufenthG in seiner seit 1. August 2015 geltenden Fassung. Gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG ist das aus § 11 Abs. 1 AufenthG folgende Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist mit der Ausreise zu laufen beginnt. Gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG wird über die Länge der Frist – anders als in der alten Fassung der Vorschrift – nach Ermessen entschieden. Die Ermessensentscheidung ist nach Maßgabe des § 114 VwGO (eingeschränkt) gerichtlich überprüfbar.
3.2.2.2. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Rahmen. Danach darf die Frist fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll zehn Jahre nicht überschreiten.
Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrfrist muss sich dann in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 42; BayVGH, U.v. 22.1.2013 – 10 B 12.2008 – juris Rn. 64; BayVGH U.v. 25.8. 2014 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56).
Unter Abwägung aller, bereits in der Ausweisungsentscheidung im Einzelnen erörterten Umstände, hat die Ausländerbehörde die Frist auf 2 Jahre festgesetzt. Eine Verletzung verfassungsmäßiger Wertentscheidungen oder Vorgaben aus Art. 8 EMRK vermag das Gericht bei Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls nicht zu erkennen.
4. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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