Aktenzeichen M 9 K 16.50067
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29 Abs. 1, Abs. 2
Leitsatz
1 Der Bescheid, mit dem die Unzulässigkeit des Asylantrags festgestellt und die Abschiebungsanordnung erlassen wurde, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts die Überstellungsfrist bereits abgelaufen ist. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Überstellungsfrist wird durch den vor ihrem Ablauf gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung unterbrochen und mit einer ablehnenden Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes neu in Lauf gesetzt. (redaktioneller Leitsatz)
3 Es liegt auch eine subjektive Rechtsverletzung des Klägers vor, weil er sich auf die mittlerweile eingetretene Zuständigkeit der Beklagten berufen kann. (redaktioneller Leitsatz)
4 Die besondere Ausgestaltung des Asylverfahrens steht im Fall versäumter Sachentscheidung einem Durchentscheiden durch das Gericht entgegen. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … Dezember 2015 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen
II.
Der Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage hat teilweise Erfolg.
Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen, weil sich die Beteiligten damit individuell einverstanden erklärt haben (die Klägerseite) bzw. ein entsprechendes generelles Einverständnis vorliegt (auf Beklagtenseite sowie von der Vertretung des öffentlichen Interesses), § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Anfechtungsklage auf Aufhebung des Bescheids vom … Dezember 2015 ist zulässig und begründet (nachfolgend unter 1). Die Verpflichtungsklage auf Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft samt dazugehöriger Hilfsanträge ist dagegen unzulässig (nachfolgend unter 2.).
1. Die Anfechtungsklage ist zulässig und begründet.
Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheids erhoben (§ 74 Abs. 1 AsylG); insofern wird auf die Ausführungen im Beschluss vom 25. April 2016 (M 9 S 16.50068) Bezug genommen, dort S. 3 zweiter Absatz von unten des Entscheidungsabdrucks.
Die Klage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). In dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung war die Überstellungsfrist bereits abgelaufen.
Unabhängig davon, dass zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses die Unzulässigkeit des Asylantrags festgestellt und die Abschiebung nach Österreich angeordnet werden durften, ist die Beklagte inzwischen durch Zeitablauf für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten (Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO) durchgeführt wird. Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist stellt keinen fingierten Selbsteintritt, sondern, wie bereits ohne weiteres aus dem Wortlaut von Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO folgt, eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die letztlich lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (BayVGH, B. v.11.05.2015 – 13a ZB 15.50006 -, juris Rn. 4f.).
Im vorliegenden Fall ist die Überstellung des Klägers nach Österreich nicht in diesem Sinne fristgemäß erfolgt. Die sechsmonatige Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO grundsätzlich mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat. Die sechsmonatige Überstellungsfrist endete damit grundsätzlich mit Ablauf des 9. Mai 2016. Vor Ablauf der Überstellungsfrist hat der Kläger aber Klage erhoben und gleichzeitig einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt. Den Antrag hat das Gericht mit Beschluss vom 25. April 2016 abgelehnt und diesen Beschluss der Prozessbevollmächtigten des Klägers und dem Bundesamt mit Empfangsbekenntnis zugestellt und zwar der Prozessbevollmächtigten am 25. April 2016 und dem Bundesamt am 26. April 2016. Dies hatte den neuen Beginn der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO zur Folge, denn die Überstellungsfrist wird nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch den vor ihrem Ablauf gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung unterbrochen und mit einer ablehnenden Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes neu in Lauf gesetzt (vgl. BVerwG, U. v.27.04.2016 – 1 C 24.15 -, juris Rn. 18; Vorlagebeschluss v. 27.04.2016 – 1 C 22.15 -, juris Rn. 18ff; vgl. auch SächsOVG, B. v.05.10.2015 – 5 B 259/15.A -, juris Rn. 8ff.; OVG NRW, U. v.07.07.2016 – 13 A 2302/15.A -, juris Rn. 22 – 24). Damit endete die Überstellungsfrist hier spätestens mit Ablauf des 26. Oktober 2016, ohne dass aber die Überstellung durchgeführt wurde, wie die Auskunft der Ausländerbehörde des Landratsamts Miesbach vom 11. November 2016 ergeben hat.
Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO lagen nicht vor und wurden von der Beklagten auch nicht geltend gemacht. Die sechsmonatige Frist ist daher im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung bereits abgelaufen.
Das Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ist damit auf die Beklagte übergegangen.
Es liegt neben der soeben aufgezeigten, durch den Ablauf der Überstellungsfrist eingetretenen objektiven Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Bescheids auch eine subjektive Rechtsverletzung des Klägers vor. Der Kläger kann sich nämlich auf die mittlerweile eingetretene Zuständigkeit der Beklagten berufen. Er hat nach materiellem Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zuständige Bundesrepublik Deutschland das Asylverfahren durchführt. Dem Kläger kann auch nicht die fortdauernde Aufnahmebereitschaft Österreichs entgegengehalten werden. Denn das Bundesamt hat bereits nicht vorgetragen, dass Österreich den Kläger trotz Ablaufs der Überstellungsfrist aufnehmen und das Asylverfahren durchführen wird noch Belege hierfür vorgelegt und auch davon abgesehen bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür (vgl. hierzu OVG NRW, B. v.11.11.2015 – 13 A 1692/15.A -, juris Rn. 6ff.).
2. Im Übrigen, nämlich soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten auf Asylanerkennung und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie hilfsweise die Gewährung subsidiären Schutzes und die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten begehrt, ist die Klage unzulässig. Statthafte Klageart in der vorliegenden Konstellation ist allein die Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom … Dezember 2015 mit dem Ziel der Aufhebung der darin der Sache nach getroffenen Entscheidung über die Unzuständigkeit der Beklagten für die Prüfung der Asylanträge. Der darüber hinausgehende Verpflichtungsantrag ist unzulässig, weil er sich auf die materielle Prüfung der Asylanträge bezieht, die von dem behördlichen Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zu unterscheiden ist (vgl. BVerwG, U. v.27.10.2015 – 1 C 32/14 -, juris Rn. 13, 14, zu § 27a AsylG). Ein Durchentscheiden ist nicht möglich, weil die Sachentscheidung zunächst dem Bundesamt vorbehalten ist. Diesem ist zunächst Gelegenheit zu geben, eine den Streitstoff erschöpfende Sachentscheidung zu treffen. Auch steht die besondere Ausgestaltung des Asylverfahrens im Falle versäumter Sachentscheidung einem Durchentscheiden durch das Gericht entgegen (vgl. BVerwG, U. v.07.03.1995 – 9 C 264/94 -, juris Rn. 12 ff., 15; U. v.05.09.2013 – 10 C 1/13 -, juris Rn. 14 zu §§ 32, 33 AsylVfG). Darauf, ob die Klage auch hinsichtlich des zweiten Hilfsantrags auf Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach nationalem Recht wie die übrigen Verpflichtungsanträge, bei denen das unstreitig der Fall ist, unzulässig ist oder aufgrund der neuen Regelung in § 31 Abs. 3 Satz 1 Var. 2 AsylG anderes zu gelten hat, kommt es hier nicht an. Denn unabhängig davon, dass das in prozessualer Hinsicht voraussetzen würde, dass der Antrag auf Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG sich auf den „Dublin-Zielstaat“ Österreich beziehen müsste, was dem Antrag auch im Wege der Auslegung nicht zu entnehmen ist, weil daran bei der Antragstellung nicht gedacht wurde, kommt es jedenfalls in der Sache mangels Vorliegen der Voraussetzungen nicht in Betracht, hinsichtlich Österreich eine entsprechende Verpflichtung auszusprechen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Bei der Kostenverteilung wird berücksichtigt, dass ausgehend vom wohl verstandenen klägerischen Interesse die Anfechtung des streitgegenständlichen Bescheids einerseits und die übrigen Anträge andererseits gleichgewichtig sind, obwohl es sich bei den Verpflichtungsbegehren genaugenommen um mehrere Streitgegenstände handelt.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen dieses Urteil können die Beteiligten die Zulassung der Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. Dem Antrag sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.