Europarecht

Erfolgreiche Klage gegen Dublin-Bescheid (Italien)

Aktenzeichen  W 8 K 17.50755

Datum:
21.12.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 101 Abs. 2
RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) Art. 21
Dublin III-VO
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG
AsylG AsylG § 34a

 

Leitsatz

Schwangere sind besonders schutzbedürftige Personen. Ihre Überstellung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens ist nur zulässig, wenn zuvor individuelle, also konkrete und einzelfallbezogene Garantien, eingeholt wurden, dass ihre angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung in Italien sichergestellt sind.  (Rn. 16 und 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. November 2017 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten.

Gründe

Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 8. November 2017 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
Das Gericht nimmt im Einzelnen auf seinen Beschluss im Sofortverfahren (VG Würzburg, B.v. 27.11.2017 – W 8 S. 17.50760) Bezug, in dem es das wechselseitige Vorbringen schon ausführlich gewürdigt hat. Im weiteren gerichtlichen Verfahren wurden keine neuen Gesichtspunkte vorgebracht, die eine andere Beurteilung rechtfertigen. Solche Gründe sind auch nicht ersichtlich.
Ergänzend wird noch angefügt:
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Eine Zuständigkeit Italiens ist nach der Regelung der Dublin III-VO jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht (mehr) gegeben, weil eine Überstellung nach Italien wegen eines dauerhaften Abschiebungshindernisses und insoweit systemischer Mängel für besonders schutzbedürftige Personen im Sinne des Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie), zu denen auch Schwangere gehören, nicht möglich ist (vgl. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO).
Denn die Kläger sind nicht nur eine Familie mit zwei Kleinkindern (sechs bzw. sieben Jahre alt), sondern die Klägerin zu 2) hat darüber hinaus nachgewiesen, dass sie schwanger ist. Damit gehören die Kläger, insbesondere die Klägerin zu 2), zu den besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne von Art. 21 RL 2013/33/EU Aufnahmerichtlinie. Die Mitgliedsstaaten müssen nach dieser Vorschrift im einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie z.B. Schwangeren berücksichtigen.
In seiner Entscheidung vom 4. November 2014 (Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127) hat der EGMR ausgeführt, dass die Anzahl und die Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen Italiens Befürchtungen zulassen, dass im Einzelfall Asylsuchende ohne Unterkunft bleiben bzw. in überfüllten Einrichtungen untergebracht werden, auch wenn die Struktur und die Gesamtsituation des Aufnahmesystems in Italien nicht mit der Griechenlands vergleichbar sei und keine systemischen Mängel vorlägen (Rn. 114, 115). Vor der Abschiebung einer Familie mit Kindern als besonders Schutzbedürftige seien daher individuelle Garantien von den italienischen Behörden einzuholen, dass die Familie bei ihrer Ankunft in Italien in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werde, die dem Alter der Kinder angemessen seien, und dass sie als Familie zusammenbleiben könnten (Rn. 120, 122). Weder an der Zahl der Flüchtlinge noch an den Aufnahmebedingungen in Italien haben sich nach Kenntnis des Gerichts gegenüber dem Zeitpunkt der Tarakhel-Entscheidung wesentliche Änderungen ergeben.
Das Gericht geht im Hinblick auf diese Ausführungen davon aus, dass bei den Klägern als besonders schutzbedürftige Personen eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn zuvor entsprechende individuelle Garantien, also konkrete und einzelfallbezogene Garantien (siehe BVerfG, B.v. 27.5.2015 – 2 BvR 3024/14 – BayVBl. 2015, 744), eingeholt würden, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind. An solchen Garantien fehlt es zum jetzigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. auch VG Düsseldorf, B.v. 30.6.2017 – 8 L 203/17.A – juris).
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2017 ausdrücklich mitgeteilt, dass auch nach Bekanntwerden der Schwangerschaft (Frühstadium) eine Übernahme ins nationale Verfahren ihrerseits nicht in Betracht kommt. Im Hinblick auf die tatsächliche Überstellungspraxis bestehen darüber hinaus keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte die vorstehend erwähnten individuellen Garantien in angemessener Zeit seitens der italienischen Behörden erwirken kann und will, so dass es bei der rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nach Italien verbleibt.
Abschließend ist noch anzumerken, dass die Kläger zu 3) und 4) mit sechs bzw. sieben Jahren zwar keine Kleinstkinder mehr sind, allerdings Kleinkinder. Jedoch fällt die Schwangerschaft der Klägerin zu 2) gravierend ins Gewicht. Nach der Entbindung wird die Familie nicht nur zwei Kleinkinder, sondern zusätzlich noch ein Kleinstkind, konkret einen Säugling, haben. Vor diesem Hintergrund besteht nach jetzigem Kenntnisstand ein dauerhaftes Abschiebungshindernis.
Nach alledem war der Klage in vollem Umfang stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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