Europarecht

erfolgreicher erneuter Eilantrag auf Familienzusammenführung in Deutschland im Wege des Dublin-Verfahrens nach vorausgegangenem, ebenso bereits erfolgreichen Verfahren, keine Überstellung nach Deutschland innerhalb der Überstellungsfrist, erneutes Übernahmeersuchen Griechenlands basierend auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO (bejaht) – Anspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland auf erneute Zuständigerklärung für die Bearbeitung der Asylgesuche in Griechenland aufhältiger Antragsteller (Mutter und Geschwisterkinder), deren minderjährige Söhne/Brüder und Ehemann/Vater sich in Deutschland befinden

Aktenzeichen  AN 17 E 21.50200

Datum:
25.8.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26531
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
Dublin III-VO Art. 17 Abs. 2, Art. 29 Abs. 1, 2

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs sowie der Wiedervorlage durch das Griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat – diesem gegenüber für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehren die Antragsteller im Ergebnis die Durchführung ihrer Asylverfahren in Deutschland.
Die Antragstellerin zu 1) ist die Mutter der minderjährigen Antragsteller zu 2) bis 6). Der Ehemann/Vater der Antragsteller, …, befindet sich bereits in Deutschland, ebenso wie die beiden weiteren minderjährigen Söhne des Paares, … (Söhne/Brüder der Antragsteller). Die beiden Söhne reisten 2015 bzw. 2016 nach Deutschland ein, während der Vater 2018 nachzog. Ersteren wurde die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, dem Ehemann/Vater der Antragsteller der subsidiäre Schutz.
Die Antragsteller zu 1) bis 6) reisten am 14. Mai 2019 in Griechenland ein. Nachdem ein auf Art. 9 Dublin III-VO gestütztes Aufnahmegesuch der griechischen Behörden erfolglos blieb, stellten die Antragsteller mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 20. Juni 2020, am 22. Juni 2020 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO (Az.: AN 17 E 20.50232). Das Gericht verpflichtete die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 24. August 2020 im Wege der einstweiligen Anordnung, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs sowie der Wiedervorlagen für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären und stützte die Zuständigkeit der Antragsgegnerin auf die Regelungen in Art. 9, 10, 20 Abs. 3 Dublin III-VO. Die Antragsgegnerin setzte mit Schreiben vom 26. August 2020 an die griechischen Behörden diesen Beschluss um. Mit weiterem Schreiben vom 1. März 2021 teilte die Antragsgegnerin den griechischen Behörden mit, dass eine Überstellung der Antragsteller nun nicht mehr möglich sei, da die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO mit Wirkung vom 26. Februar 2021 abgelaufen sei.
Daraufhin richteten die griechischen Behörden am 18. März 2021 ein auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gestütztes Aufnahmegesuch an die Antragsgegnerin die Antragsteller betreffend und wiesen in der Begleit-Email darauf hin, dass die Antragsgegnerin der Übernahme schon einmal zugestimmt habe. Aufgrund der COVID-19-Pandemie und den einhergehenden Restriktionen im Flugverkehr sei es aber nicht möglich gewesen, die Überstellung der Antragsteller nach Deutschland 2020 durchzuführen. Ab dem 1. Januar 2021 hätten die griechischen Behörden keinen gültigen Vertrag mit einem Reisebüro gehabt. Daraus folge, dass die Überstellung innerhalb des vorgesehenen Zeitfensters nach der Dublin III-VO nicht möglich gewesen sei. Bis Ende März sei dieses Problem aber gelöst.
Die Antragsgegnerin erwiderte mit Schreiben vom 4. Mai 2021, dass dem Ersuchen nicht stattgegeben werde. Der bereits organisierte Transfer könne nicht akzeptiert werden, da die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abgelaufen sei. Übernahmen nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO seien nur in besonders gelagerten Fällen möglich und nicht die Norm. Daher werde das Ersuchen zurückgewiesen. Die griechischen Behörden remonstrierten mit Schreiben vom 25. Mai 2021, woraufhin die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 26. Mai 2021 ihre ablehnende Entscheidung bestätigte.
Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 17. August 2021, bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach eingegangen am selben Tag, begehren die Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO. Zur Begründung führen die Antragsteller im Wesentlichen aus, dass wegen der Probleme der griechischen Behörden, Überstellungen zu organisieren, mehrere dutzend Dublin-Familienzusammenführungen verfristet seien. Diese Fälle würden nun nach Weisungslage des griechischen Migrationsministeriums einer priorisierten Bearbeitung im nationalen Verfahren zugeführt. Die Antragsteller hätten am 25. Mai 2021 eine Anhörung bei der griechischen Asylbehörde gehabt, so dass jederzeit mit einer Entscheidung im nationalen Verfahren zu rechnen sei. Der Anordnungsgrund sei gegeben. Auch der Anordnungsanspruch läge vor. Dieser ergebe sich aus den Vorschriften der Art. 9, 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Die Antragsteller könnten sich noch auf Art. 9 Dublin III-VO berufen, denn der Ablauf der Überstellungsfristen, der allein auf einem Versagen der griechischen Behörden beruhe, führe nicht zum Zuständigkeitsrückfall. Unabhängig davon lägen die Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vor. Der Tatbestand sei erfüllt. Die Antragsgegnerin habe ihr Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt, sondern lediglich formelhafte Überlegungen angestellt. Vorliegend sei eine Ermessensreduktion auf Null gegeben. Die Aspekte Familieneinheit und Kindeswohl würden keine andere Entscheidung als die Übernahme der Antragsteller zulassen. Die minderjährigen Antragsteller zu 3) bis 6) hätten Anspruch auf persönlichen Kontakt zu beiden Elternteilen. Auch seien die Aspekte der minderjährigen Söhne/Brüder der Antragsteller, … und …, zu berücksichtigen. Die Antragstellerin zu 1) sei kaum noch in der Lage, sich um die alltäglichen Aufgaben, geschweige denn um die noch kleinen Antragsteller zu 4) bis 6) zu kümmern. Diese Aufgabe müsse die Antragstellerin zu 2) erledigen, die selbst erheblich unter der Situation leide. Schließlich sei auch eine Familienzusammenführung in Griechenland im Hinblick auf die Lebens- und Versorgungsbedingungen dort nicht zuzumuten. Auch habe den Antragstellern bereits ein Recht aus Art. 9 Dublin III-VO zugestanden. Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO führe schließlich auch hinsichtlich der mittlerweile volljährigen Antragstellerin zu 2) zu einer Zuständigkeit der Antragsgegnerin. Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO enthalte keine Altersbeschränkung. Die besonderen Umstände würden auch hier zu einer Ermessensreduktion auf Null führen. So habe die Antragstellerin zu 2) noch keine eigene Familie gegründet und kümmere sich seit Jahren um die Geschwister. Auch wäre die Antragstellerin zu 2) als junge, ledige Frau in Griechenland in einer schwierigen Lage. Sie wäre dort ohne familiären Schutz der Gewalt in den Camps schutzlos ausgesetzt. Ein Zurückbleiben der Antragstellerin zu 2) würde zudem zu kulturellen Schwierigkeiten führen und die schwierige Situation in den Camps noch verschärfen. Eine Trennung der Antragstellenden würde zudem dem Erwägungsgrund 15 der Dublin III-VO widersprechen.
Die Antragsteller beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs vom 18. März 2021 sowie der Wiedervorlage vom 15. Mai 2021 durch das Griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag nach § 123 VwGO abzulehnen und bezog sich zur Begründung auf den bisherigen Akteninhalt inkl. der Akten des vorausgegangenen gerichtlichen Verfahrens. Zudem führe auch der antragstellerseits vorgebrachte Umstand, dass eine Überstellung nach Deutschland innerhalb der Überstellungsfrist aufgrund organisatorischer Probleme der griechischen Behörden nicht erfolgt sei, nicht zu einer anderen Bewertung. Dies könne der Antragsgegnerin nicht angelastet werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die Gerichtsakte zum Verfahren AN 17 E 20.50232 sowie die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig (2), und begründet (3). Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber zuständig (1).
1. Die örtliche Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts Ansbach ergibt sich hier aus § 52 Nr. 2 Satz 3, Nr. 3 Satz 3 Halbsatz 2, Nr. 5 VwGO, da sich sämtliche Antragsteller in Griechenland aufhalten. Die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 -1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO und auch § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 2, Nr. 3 Satz 2 VwGO greift daher nicht, denn die Antragsteller haben weder i.S.d. § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbsatz 1 VwGO ihren Aufenthalt nach den Vorschriften des Asylgesetzes zu nehmen noch verfügen sie über einen Wohnsitz im Bundesgebiet (§ 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO), weshalb für die örtliche Zuständigkeit nur die Auffangregelung des § 52 Nr. 3 Satz 3, Nr. 5 VwGO in Betracht kommt. Danach ist dasjenige Verwaltungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Antragsgegnerin ihren Sitz hat. Wird der Antrag gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet, ist auf den Sitz der handelnden Behörde abzustellen. Im vorliegenden Fall ist dies das Bundesamt, das seinen Sitz in Nürnberg und mithin nach Art. 1 Abs. 2 Nr. 4 AGVwGO im Bezirk des Verwaltungsgerichts Ansbach hat (zum Ganzen BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6).
2. Der Antrag, zu dessen Entscheidung nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG die Einzelrichterin berufen ist, ist zulässig.
Insbesondere sind hinsichtlich des vorliegenden Begehrens sämtliche Antragsteller in entspre-chender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung subjektiver Rechte der Antragsteller. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen eine Antragsbefugnis von Familienangehörigen, die aus einem anderen Mitgliedstaat in den zuständigen Staat überstellt werden, jedenfalls nicht ausdrücklich aus; dies legen die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO, Art. 47 GR-Charta sowie Art. 6 GG nahe (vgl. BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 12). Es erscheint möglich, dass die dem Kindeswohl und dem Schutz der Familie dienenden Vorschriften der Art. 9, 10, 17 Abs. 2 Dublin III-VO den in Griechenland befindlichen Antragstellern ein subjektives Recht auf Überstellung nach Deutschland vermitteln (vgl. BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 12 sowie VG Ansbach, B.v. 2.10.2019 – AN 18 E 19.50790, B.v. 26.11.2019 – AN 18 E 19.50958 – juris Rn. 26, VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21).
3. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnten. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris Rn. 5,7).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Den Antragstellern ist es sowohl gelungen, einen ent-sprechenden Anordnungsanspruch als auch die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen. Insbesondere ist hier ausnahmsweise auch die Vorwegnahme der Hauptsache geboten.
a) Der Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht.
Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller folgt aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Ob auch eine Zuständigkeit Deutschlands aus Art. 9 bzw. 10 Dublin III-VO weiterhin – trotz Ablaufs der Überstellungsfrist – gegeben ist, kann daher offenbleiben.
Die Antragsteller haben nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO einen Anspruch darauf, dass sich die Antragsgegnerin gegenüber dem griechischen Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat – unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen zum Übernahmegesuch und der Wiedervorlage durch das griechische Migrationsministerium – Nationales Dublin-Referat – für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller für zuständig erklärt. Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vermittelt den Antragstellern diesbezüglich auch ein subjektives Recht, so dass eine hiermit nicht in Einklang stehende Entscheidung der Antragsgegnerin auch gerichtlich überprüft werden kann (vgl. VG Ansbach, B.v. 26.11.2019 – AN 18 K 19.50958 – juris Rn. 29). Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Ein entsprechendes Ersuchen der griechischen Behörden an die Bundesrepublik Deutschland, die Antragsteller aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, zur Familienzusammenzuführung (Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung) aufzunehmen, ist am 18. März 2021 gestellt worden und wurde zudem explizit auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gestützt. Dieses Ersuchen kann jederzeit gestellt werden (vgl. VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103). Es ist daher unerheblich, dass das Übernahmeersuchen vom 18. April 2021 nicht innerhalb der Frist des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO an Deutschland übermittelt wurde. Ebenso unschädlich ist es, dass nach der mit Schreiben vom 26. August 2020 erklärten Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller die Überstellung der Antragsteller nach Deutschland nicht innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO erfolgte, was gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO wieder zur Zuständigkeit Griechenlands führte. Ein auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gestütztes Übernahmeersuchen kann nämlich jederzeit erfolgen, also unabhängig davon, ob Fristen, auch die des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO, zu einem Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Mitgliedstaat geführt haben, solange keine Erstentscheidung in der Sache in dem Asylverfahren der Antragsteller ergangen ist, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Dies ergibt sich auch aus dem Umstand, dass in Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 2, 3 Dublin III-VO eigene Verfahrensregelungen und Fristen aufgestellt werden. Die einzige, in der Norm selbst angelegte zeitliche Beschränkung ist daher die Erstentscheidung in der Sache. In den Asylverfahren der Antragsteller in Griechenland ist eine Erstentscheidung in der Sache noch nicht ergangen.
Ebenso liegen die nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO erforderlichen schriftlichen Zustimmungserklärungen vor. Auf die diesbezüglichen Ausführungen im Beschluss vom 24. August 2020 im Verfahren AN 17 E 20.50232 wird verwiesen.
Die in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO geforderten humanitären Gründe, die sich insbesondere aus dem familiären Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, sind vorliegend gegeben. Zunächst ist festzustellen, dass die geforderten verwandtschaftlichen Beziehungen vorliegen. Bei den Antragstellern handelt es sich um die Mutter/Geschwister der in Deutschland lebenden minderjährigen Kinder … und … bzw. um die Ehefrau/Kinder des in Deutschland lebenden … Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO erfasst Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung, so dass insbesondere auch die inzwischen volljährig gewordene Antragstellerin zu 2) unproblematisch erfasst wird.
Weiter sind auch die genannten humanitären Gründe, die sich insbesondere aus dem familiären Kontext ergeben, gegeben. Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist. Hierbei ist im Kontext der Dublin III-VO eine Auslegung geboten, die bei der Anwendung der Vorschriften zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zu Ergebnissen gelangt, die den Grundgedanken der Einheit der Familie und dem Kindeswohl verpflichtet ist, was sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen lässt (vgl. VG Ansbach, B.v. 26.11.2019 – AN 18 K 19.50958 – juris Rn. 38). Es handelt sich vorliegend bei der Antragstellerin zu 1) und Herrn … um ein Ehepaar und bei den Antragstellern zu 2) bis 6) sowie … und … um deren Kinder bzw. um Geschwister. Mit Blick auf dieses enge Verwandtschaftsverhältnis ist aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falles vom Vorliegen humanitärer Gründe aus dem familiären Kontext auszugehen. Dieser familiäre Kontext führt jedenfalls angesichts der engen familiären Verbundenheit, dem Alter insbesondere der Antragsteller zu 4) und 6) sowie der in Söhne/Brüder der Antragsteller, … und …, der Kinder sowie der bereits mehrjährigen Trennung der Familie zur Bejahung der humanitären Gründe. Dies gilt auch für die seit rund sechs Monaten volljährige Antragstellerin zu 2) und dies insbesondere aufgrund der erst kürzlich eingetretenen Volljährigkeit, der Fluchtgeschichte und der (nachfolgend ausgeführten) engen Beziehung der Antragstellerin zu 2) zu ihrer Familie.
Liegen damit die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vor, besteht allerdings grundsätzlich nur ein Anspruch auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens der Antragsgegnerin. Das Gericht kann hier aber dennoch über den Antrag abschließend entscheiden, denn vorliegend ist das Ermessen auf Null reduziert. Zu fordern ist namentlich eine besondere Verdichtung von humanitären Umständen, die unter Berücksichtigung der Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls einen Härtefall begründen können, der jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen lässt. Es liegen hier ausnahmsweise, über das bloße Interesse an einer Familienzusammenführung hinausgehende Umstände vor, welche ausnahmsweise zu einer Verdichtung des der Antragsgegnerin zustehenden Ermessens zu einer Pflicht, sich für die Übernahme der Asylverfahren der Antragsteller für zuständig zu erklären, führt (vgl. hierzu: VG Ansbach, B.v. 26.11.2019 – AN 18 K 19.50958 – juris Rn. 39, B.v. 10. März 2021 – AN 17 E 21.50060 – juris; B.v. ähnlich zu Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22).
Hier sind zunächst in erheblicher Weise die Aspekte des Kindeswohls der minderjährigen Söhne/Brüder der Antragsteller als auch der minderjährigen Antragsteller zu 3) bis 6) betroffen. Diese sind anhand einer Gesamtschau der jeweiligen Umstände des konkreten Einzelfalls zu ermitteln. Als Prüfungsmaßstab zieht etwa die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Alter des Kindes, den Umfang der Bindung des Kindes zu seinen Familienmitgliedern im Herkunftsstaat sowie den Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, heran (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). In ähnlicher Weise stellt auch der Europäische Gerichtshof hinsichtlich der Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes auf dessen Lebensalter sowie die Frage ab, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat (vgl. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – BeckRS 2006, 80974 Rn. 73-75).
Die beiden Söhne/Brüder der Antragsteller, 12 und 14 Jahre alt, reisten 2015 bzw. 2016 nach Deutschland ein, während der Ehemann/Vater 2018 nachzog. Die beiden Söhne/Brüder der Antragsteller sind bereits seit rund fünf bzw. sechs Jahren ohne Mutter und Geschwister, während die Antragsteller zu 3) bis 6) (18, 16, 8, 6, 3 Jahre alt) bereits seit rund fünf bzw. sechs Jahren ohne ihre in Deutschland lebenden Brüder und seit rund drei Jahren ohne ihren Vater sind.
Den Kindern, insbesondere den kleineren, erst acht, sechs und drei Jahre alten Kindern, kann nicht zugemutet werden, für noch längere Zeit ohne den anderen Elternteil und die anderen Geschwister zu leben. Diese haben die Trennung von dem jeweils anderen Elternteil/den Geschwistern nicht verursacht und mussten mit den rechtlichen Schwierigkeiten und einer etwaigen längeren Trennung von dem anderen Elternteil/den Geschwistern auch nicht rechnen. Dem Belang des Kindeswohls kommt daher ein hohes Gewicht zu. Auch ist die enge Bindung der Familienmitglieder aufgrund des täglichen Kontaktes noch vorhanden. Zwar ist zu bedenken, dass weder die Söhne/Brüder der Antragsteller noch die Antragsteller zu 3) bis 6) allein in Deutschland bzw. Griechenland sind, sondern zusammen mit jeweils einem Elternteil/Geschwister(n). Es ist daher zumindest jeweils ein Elternteil vorhanden, der sich um die Kinder kümmern kann, was im Einzelfall gegen eine Ermessensreduktion auf Null sprechen kann und dies insbesondere in den Fällen, in denen die Trennung der Familie von Vater/Mutter bewusst und freiwillig vollzogen wurde (vgl. hierzu etwa: VG Ansbach, B.v. 26.5.2021 – AN 17 E 21.50085 – juris).
Eine solche Konstellation liegt hier jedoch nicht vor. Es ist aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles vorliegend eine Ermessensreduktion auf Null gegeben, denn die Antragstellerin zu 1) ist nicht in der Lage, sich angemessen um die minderjährigen Antragsteller zu kümmern. Die Antragstellerin zu 1) ist nach dem Vortrag der Antragstellerseite und dem vorgelegten Sozialbericht des …, …, …, vom 2. August 2021 insbesondere als Folge der erst genehmigten und dann fehlgeschlagenen Familienzusammenführung psychisch sehr angeschlagen. Sie ist nicht mehr in der Lage, sich um die minderjährigen Antragsteller zu 3) bis 6) zu kümmern, weshalb dies nun die Antragstellerin zu 2) übernimmt und sich auch verstärkt um die Wäsche und das Essen kümmert. Hinzu kommt die Sorge, dass die volljährige Antragstellerin zu 2) allein in Griechenland verbleiben muss und den Antragstellern die Abschiebung in die Türkei droht. Die Antragsteller zu 2) bis 6) leiden, neben der Trennung vom Rest der Familie, unter der Antriebslosigkeit und Mutlosigkeit der Antragstellerin zu 1). Dem Sozialbericht ist zu entnehmen, dass die Familienzusammenführung dringend geboten ist, um der erschöpften alleinerziehenden Mutter und den emotional angeschlagenen Kindern eine sichere und stabile Umgebung zu geben. Damit benötigt die Antragstellerin zu 1) die Unterstützung und Nähe des in Deutschland lebenden Ehemannes und auch der Nähe mit den in Deutschland lebenden Kindern. Selbiges gilt für die Antragstellerin zu 2), die aufgrund der Hilflosigkeit der Antragstellerin zu 1) quasi die Mutterrolle übernommen hat, damit langfristig überfordert sein wird und den minderjährigen Geschwistern auch nicht die Mutter ersetzen kann. Aufgrund dieser Umstände bedürfen auch die übrigen Antragsteller die Zusammenführung mit den in Deutschland lebenden Familienangehörigen, da nur so die für die psychische Gesundheit aller Beteiligten nötige Stabilität wiederhergestellt werden kann. Hinzu tritt der Umstand, dass eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin aus Art. 9, 10, 20 Abs. 3 Dublin III-VO bereits gerichtlich festgestellt wurde, sich die Antragsgegnerin in Folge am 26. August 2020 bereits für die Asylverfahren der Antragsteller für zuständig erklärt hat und die fristgerechte Überstellung im Rahmen der Überstellungsfrist an Umständen scheiterte, die in der Sphäre Griechenlands lagen. Dass auch die Antragsgegnerin hieran kein Verschulden trug, muss hinter die ausgeführten gewichtigeren Interessen der Antragsteller zurückstehen.
Die besonderen Umstände in diesem Einzelfall führen insbesondere auch zu einer Ermessensreduktion auf Null bezüglich der Antragstellerin zu 2). Diese hat noch keine eigene Familie gegründet. Sie unterstützt die Antragstellerin zu 1) bereits seit Jahren im Haushalt und der Kindererziehung. Seitdem die Antragstellerin zu 1), wie oben beschrieben, psychisch sehr angeschlagen ist, hat die Antragstellerin zu 2) zudem quasi die Mutterrolle übernommen. Die Antragstellerin zu 2) hat damit eine sehr enge Beziehung v.a. zu den Antragstellern zu 3) bis 6). Zudem ist sie aufgrund der Gesamtumstände, wie beschrieben, emotional angeschlagen. Auch wäre die Antragstellerin zu 2), würde sie allein in Griechenland zurückbleiben, dort als junge, ledige Frau in einer schwierigen Lage. Die Gefahr von (sexuellen) Übergriffen in den Camps würde sich erhöhen, auch aufgrund von kulturellen Vorbehalten in Bezug auf alleinstehende junge Frauen. Und schließlich stand auch der Antragstellerin zu 2) bereits ein Übernahmeanspruch gegen die Antragsgegnerin zu.
b) Den Antragstellern ist es auch gelungen, einen Anordnungsgrund glaubhaft zu machen. Es besteht ein unmittelbar drohender Rechtsverlust. Durch den Fortgang der Asylverfahren in Griechenland ist für die Antragsteller ein zeitnaher und dauerhafter Verlust des geltend gemachten Anspruchs nach der Dublin III-VO zu befürchten. Nach den gescheiterten Versuchen des griechischen Dublin-Referats, eine Übernahme der Antragsteller durch die Antragsgegnerin zu erreichen und der bereits erfolgten Anhörung, ist nunmehr eine Sachentscheidung der griechischen Asylbehörden über die Asylbegehren der Antragsteller zu besorgen ist, womit diese nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin III-VO unterfielen (vgl. VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 36; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 69).
c) Ebenso ist vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise eine Vorwegnahme der Hauptsache zulässig, da ansonsten ein nicht mehr umkehrbarer Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland zu befürchten ist und die Familieneinheit – jedenfalls basierend auf der Dublin III-VO – nicht mehr herbeigeführt werden könnte. Dies wäre den Antragstellern unzumutbar und nicht mehr rückgängig zu machen. Die diesbezüglichen Ausführungen unter a) gelten entsprechend. Zudem besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache. Die Vorwegnahme der Hauptsache ist hier ausnahmsweise geboten.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.


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