Europarecht

Gemeinde, Aufenthalt, Jugendamt, Umzug, Kind, Wohnung, Verfahren, Familie, Kinder, Verfestigung, Aktenlage, Verfahrensbeistand, Vater, Dauer, Aufenthalt des Kindes

Aktenzeichen  113 F 444/21

Datum:
17.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 45987
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Beschluss in hiesigem Verfahren vom 29.7.2021 abgeändert durch Beschluss vom 24.8.2021 wird gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 insofern abgeändert, als die Ziffer 2 nun lautet:
Soweit die Rechte der Mutter entzogen wurden, wird die Ergänzungspflegschaft angeordnet und die entzogenen Rechte übertragen auf das Jugendamt der Stadt M

Gründe

Zunächst ist weiterhin von einer internationalen Zuständigkeit des Amtsgerichts Nürnberg auszugehen. Zwar sind nach der im Verhältnis zur Türkei anzuwendenden Vorschrift des Art. 5 Abs. 1 KSÜ die Gerichte des Vertragsstaats zuständig, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sodass gemäß Abs. 2 bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in einen anderen Vertragsstaat (nur) die Gerichte des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts zuständig sind. Jedoch ist der Aufenthalt der Kindsmutter mit den betroffenen Kindern weiterhin unbekannt. Letzter gewöhnlicher Aufenthalt der Kinder war in Deutschland. Es bestehen zwar Anhaltspunkte, dass die Familie in die Türkei verzogen ist und dort auch bleiben will. Jedoch ist dies nicht genügend gesichert.
Die der Kindsmutter entzogenen Teilbereiche der elterlichen Sorge waren – wie vom bisherigen Ergänzungspfleger, Jugendamt der Stadt Nürnberg, beantragt – dem zuständigen Jugendamt der Stadt M zu übertragen.
Gemäß § 87c Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB VIII richtet sich die Zuständigkeit für die Ergänzungspflegschaft nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes bzw., wenn ein solcher nicht vorliegt, nach dem tatsächlichen Aufenthalt.
Der eindeutige Gesetzeswortlaut in § 87c Abs. 3 Satz 1 SGB VIII über die Erstbestellung eines Jugendamtes zum Amtsvormund oder -pfleger steht ist nach Auffassung des Gerichts bindend. Das ergibt sich bereits aus § 56 Abs. 1 SGB VIII. Denn danach sind die Regelungen des BGB über die Vormundschaft und Pflegschaft nur insoweit ergänzend heranzuziehen, als das SGB VIII nichts anderes bestimmt. Die Regelungen zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit in § 87c SGB VIII sind aber inhaltlich abschließend.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt für den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im SGB VIII grundsätzlich die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I. Danach hat eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt an dem Ort, an dem sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als „Ort“ in diesem Sinne ist nicht ein bestimmtes Haus oder gar eine bestimmte Wohnung, sondern die jeweilige politische Gemeinde zu verstehen. Das Bundesverwaltungsgericht äußert zum gewöhnlichen Aufenthalt in ständiger Rechtsprechung, es komme darauf an, dass sich die Person an einem Ort oder in einem bestimmten Gebiet bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhalte und dort den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen habe. Kennzeichnend für den gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 SGB VIII sei demnach eine gewisse Verfestigung der Lebensverhältnisse an einem bestimmten Ort. Ein dauernder oder längerer Aufenthalt sei zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 86 SGB VIII nicht notwendig. Dementsprechend stehe der Annahme einer derartigen Verfestigung grundsätzlich nicht entgegen, dass der Ort nicht zum dauernden Verbleib bestimmt sei und dem Aufenthalt die Merkmale einer selbstbestimmten, auf Dauer eingerichteten Häuslichkeit fehle.
Nach diesen Kriterien hatten Kindsmutter und Kinder ihren zuletzt in Deutschland feststellbaren gewöhnlichen Aufenthalt in M .
Seit Anfang Juli 2021 sind die Kindsmutter und die betroffenen Kinder unbekannten Aufenthalts und halten sich aller Wahrscheinlichkeit nach zusammen mit dem Kindsvater in der Türkei auf.
Somit kommt es mangels anderweitiger Regelung auf den letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland an. Dieser war in M .
Die vom Kindsvater getrennt lebende und allein sorgeberechtigte Kindsmutter hatte zwar mit den Kindern bis Anfang des Jahres Ihren Lebensmittelpunkt in N.. Allerdings war sie nach einer Auseinandersetzung mit dem Kindsvater Anfang Februar zunächst zu ihrer Schwester nach M gezogen, wo auch der Hausbesuchstermin des Gutachters am 25.2.2021 stattfand. Seit Mitte März war sie in einer Pension in der Straße in M wohnhaft und bemühte sich in der Folge um einen Platz in einer Mutter-Kind-Einrichtung im Raum M /A . Eine Rückkehr nach N. wurde von ihr nach Aktenlage nicht in Erwägung gezogen. Dies äußerte die Kindsmutter auch gegenüber dem Gutachter. Mitte April fand auch ein Gespräch in einer Mutter-Kind-Einrichtung in A statt, für die der Kindsmutter auch ein Platz in Aussicht gestellt wurde. Der Umzug scheiterte an der Problematik der Zuständigkeit für die Kosten. Bis Anfang Juli wurde die Kindsmutter noch in der Pension in M gesehen. Seit Mitte Juli konnte sie nicht mehr erreicht werden und war nach den Angaben des Bruders, die dieser gegenüber dem Jugendamt machte, mit dem Kindsvater und den Kindern auf Dauer in die Türkei ausgereist, wo sich die Familie offenbar zunächst beim Vater der Kindsmutter aufhielt. Der Aufenthalt in der Türkei wurde gegenüber dem Jugendamt vom Vater des Kindsvaters bestätigt, der jedoch den genauen Aufenthaltsort nicht mitteilen wollte.
Sowohl das Jugendamt N. als auch das Jugendamt M. haben angeregt, den Beschluss betreffend die Sorgerechtsenziehung und Anordnung der Ergänzungspflegschaft aufzuheben, da dieser – aufgrund der Schwierigkeiten bei der Umsetzung – nicht geeignet sie, eine Kindeswohlgefährdung abzuwenden.
Bezüglich der Notwendigkeit der Sorgerechtsentziehung wird auf den Beschluss vom 29.7.2021 Bezug genommen. Nach Auffassung des Gerichts ist auch aufgrund der eindeutigen Stellungnahme des Gutachters von einer Gefährdungslage der Kinder auszugehen. Ein Anhaltspunkt hierfür ist auch, dass der Bruder der Kindsmutter gegenüber dem Jugendamt angab, dass sich die Familie in der Türkei zunächst beim Vater der Kindsmutter aufgehalten habe, dieser die Familie jedoch aufgrund einer „massiven Eskalation“ des Hauses verwiesen habe.
Die mit der Übertragung der Teilbereiche der elterlichen Sorge auf das Jugendamt einhergehenden voraussehbaren Schwierigkeiten für das zuständige Jugendamt, im internationalen Kontext zeitnah und zielführend tätig zu werden, werden vom Gericht nicht verkannt. Jedoch stellen die Handlungsoptionen des Ergänzungspflegers trotzdem eine Möglichkeit dar, der Kindeswohlgefährdung noch in irgendeiner Weise entgegenzuwirken.
Der Ergänzungspfleger Stadt N, das Jugendamt N und die Verfahrensbeiständin wurden im Termin gehört. Das ebenfalls geladene Jugendamt der Stadt M, Sozialreferat, hat sich schriftlich geäußert. Auf das Protokoll und den Akteninhalt wird Bezug genommen.
Die Ladung an den Kindsvater sowie an die Kindsmutter, der zudem aufgegeben wurde, die Kinder (zwecks Anhörung) mitzubringen wurde öffentlich zugestellt. Beide erschienen nicht. Somit konnten die Kindseltern und die Kinder nicht angehört werden.


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