Europarecht

Hinweisbeschluss, Aufenthaltsrecht eines Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers

Aktenzeichen  10 B 22.244

Datum:
25.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 10612
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ARB 1/80 Art. 7 S. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

Au 6 K 19.1615 2020-01-15 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Das Berufungsverfahren wird fortgesetzt.
II. Der Senat weist die Beteiligten auf nachfolgende Erwägungen hin:
Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung vom 25. April 2022 kommt auch ein Aufenthaltsrecht des Klägers nach Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 in Betracht.
Nach dieser Vorschrift können sich die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, auf jedes Stellenangebot im Aufnahmemitgliedstaat bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Nach einhelliger Auffassung folgt aus diesem Recht auch ein Aufenthaltsrecht (vgl. nur EuGH, U.v. 20.9.1990 – C-192/89 – Sevince – juris Rn. 29).
Die Voraussetzungen des nach Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 dürften im Falle des Klägers erfüllt sein.
Der Kläger dürfte Familienangehöriger eines türkischen Arbeitsnehmers sein. Anders als vom Verwaltungsgericht angenommen, gibt es insofern keine starre Altersgrenze. Hinsichtlich des Begriffs der Familienangehörigen ist auf Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 im Hinblick auf eine möglichst homogene Anwendung in den Mitgliedstaaten die Auslegung des gleichen Begriffs im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger entsprechend anwendbar (EuGH, U.v. 30.9.2004 – C-275/02 – Ayaz – juris Rn 45). Hatte der Europäische Gerichtshof (a.a.O.) den Begriff des Familienangehörigen (ursprünglich) mit dem Familienbegriff des mittlerweile aufgehobenen Art.10 VO 1612/68/EWG gleichgestellt, kann heute zur Begriffsbestimmung Art. 2 Abs. 2 der RL 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) herangezogen werden (EuGH, U.v. 19.7.2012 – C-451/11 – Dülger – juris Rn. 49 ff.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, ARB 1/80 Art. 7 Rn. 20). Familienangehörige sind demnach auch die Verwandten in gerader absteigender Linie, die zwar das 21. Lebensjahr vollendet haben, denen aber noch Unterhalt gewährt wird (vgl. Art. 2 Abs. 2 Buchst. c) RL 2004/38/EG; vgl. auch § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kommt es hinsichtlich der Unterhaltsgewährung lediglich auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Es muss ein dauerhafter, substantieller Beitrag zum Lebensunterhalt geleistet werden, die Gründe hierfür – insbesondere das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs oder die grundsätzliche Möglichkeit des Angehörigen, sich selbst zu unterhalten – sind dabei nicht von Belang (EuGH, U.v. 18.6.1987 – 316/85 – Lebon – juris Rn. 19 ff.). Gemessen daran dürfte allein in der dauerhaften unentgeltlichen Aufnahme des Klägers in der Wohnung seines Vaters eine Unterhaltsgewährung im Sinne der genannten Bestimmungen zu sehen sein.
Der Kläger hat sich auch im Zeitraum vom 18. Juli 2015 bis zum 17. Juli 2018 für drei Jahre rechtmäßig und damit ordnungsgemäß im Sinne des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 bei seinem Vater, der in dieser Zeit unstreitig Angehöriger des regulären Arbeitsmarktes in Deutschland war, aufgehalten. Für diesen Zeitraum war ihm vom Beklagten eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. erteilt worden. Selbst wenn die Voraussetzungen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen hätten, ergäbe sich die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts schon aufgrund der Feststellungswirkung dieses Verwaltungsaktes (vgl. BVerwG, B.v. 2.12.2021 – 1 B 38/21 – juris Rn. 13; OVG Hamburg, B.v. 13.6.2019 – 4 Bs 110/19 – juris Rn. 16; SächsOVG, B.v. 13.10.2020 – 3 B 181/20 – juris Rn. 9; Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 4 Rn. 61 f.).
Schließlich dürfte in dieser Aufenthaltserlaubnis auch die von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 verlangte Nachzugsgenehmigung liegen. Zwar verlangte insbesondere die frühere Rechtsprechung hierfür eine Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung (vgl. etwa BayVGH, B.v. 4.2.1998 – 10 B 97.213 – juris Rn. 21 m.w.N.). Demnach sollte es am Erfordernis der Nachzugsgenehmigung fehlen, wenn der Familienangehörige nur über ein fiktives, verfahrensmäßig begründetes Aufenthaltsrecht nach § 81 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 AufenthG verfügt, wenn er sich nur mit einem Visum bzw. visumfrei im Bundesgebiet aufhält oder er nur im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach §§ 23a und 25 Abs. 4 AufenthG ist (Übersicht bei Kurzidem, BeckOK AuslR, Stand 1.7.2021, EWG-Türkei Art. 7 Rn. 11 – m.w.N.). Ob hieran angesichts der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach „die Ausübung der Rechte, die den türkischen Staatsangehörigen nach dem Beschluss Nr. 1/80 zustehen, nicht davon ab(hängt), aus welchem Grund ihnen die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung im Aufnahmemitgliedstaat ursprünglich erteilt wurde (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2016 – C-508/15 u. C-509/15 – Ucar u. Kilic – juris Rn 73 unter Verweis auf EuGH, U.v. 18.12.2008 – C-337/07 – Altun – juris Rn. 42 dort wiederum unter Verweis auf EuGH, U.v. 5.10.1994 – C-355/93 – Eroglu – juris Rn. 22), des Zwecks der Regelung, nur diejenigen Familienangehörigen auszuschließen, die unter Verstoß gegen die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaates in dessen Hoheitsgebiet eingereist sind und dort wohnen (EuGH, U.v. 21.12.2016 – C-508/15 u. C-509/15 – Ucar u. Kilic – juris Rn 58 f.; U.v. 11.11.2004 – C-467/02 – Cetinkaya – juris Rn 23.; vgl. zum Ganzen Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, ARB 1/80 Art. 7 Rn. 28 ff. m.w.N.) und offenerer Formulierungen in anderen Sprachfassungen (in der englischen Fassung: „who have been authorized to join him“) festzuhalten ist, kann dabei dahinstehen. Jedenfalls in der vorliegenden Konstellation, in der die Ausländerbehörde in Kenntnis des Umstandes, dass der Kläger aufgrund einer Duldung bei seinem ihm Unterhalt gewährenden assoziationsberechtigten Vater lebt, zuerst (mit Bescheid vom 17.1.2012) die Wirkungen einer Ausweisung unter Verzicht auf die vorherige Ausreise befristet und dann, ohne dass ein anderer Aufenthaltszweck ersichtlich wäre, den Aufenthalt bei seinem Vater durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. legalisiert, spricht vieles dafür, hierin auch eine Nachzugsgenehmigung im Sinne von Art. 7 Satz 1 AufenthG zu sehen. Die Gefahr der Umgehung der Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise und den ersten Aufenthalt des Familienangehörigen besteht in dieser Konstellation nämlich nicht (ebenso VGH BW, U.v. 30.4.2008 – 11 S 1705/06 – juris Rn. 27).
Damit hätten mit Ablauf des 17. Juli 2018 alle tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 beim Kläger vorgelegen.
III. Die Beteiligten erhalten Gelegenheit, sich hierzu bis zum 15. Mai 2022 zu äußern. Der Senat regt an, dass die Beteiligten auf weitere mündliche Verhandlung verzichten (§ 101 Abs. 2 VwGO).


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