Europarecht

Individualschutz der Überstellungsfristen in der Dublin III-Verordnung

Aktenzeichen  M 1 K 16.50018

Datum:
21.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich aus den Regelungen zu den Überstellungsfristen in der Dublin III-Verordnung Individualschutz ergibt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht kann durch den Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden, nachdem diesem das Verfahren durch Beschluss der Kammer vom 15. September 2016 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs. 1 AsylG). Die Entscheidung kann nach § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid ergehen, da die Parteien vorher hierzu angehört wurden.
Die Klage hat Erfolg.
1. Sie ist zulässig, insbesondere ist der Kläger klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO. Aus seinem Vorbringen lässt sich herleiten, dass er ‒ sollte sich der Bescheid als objektiv rechtswidrig erweisen ‒ möglicherweise in eigenen Rechten verletzt ist. Denn die angefochtenen Regelungen belasten ihn in seinem subjektiv-öffentlichen Recht aus §§ 4, 24, 31 AsylG auf Prüfung seines Schutzgesuchs durch die Beklagte.
Die Klage wurde auch fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen Bescheids erhoben (§ 74 Abs. 1 AsylG).
2. Die Klage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung war die Überstellungsfrist bereits abgelaufen.
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013 in Kraft getretene VO (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, mithin auch auf das am 1. September 2015 gestellte Schutzgesuch des Klägers.
Unabhängig von der Frage, ob der Asylantrag wirklich unzulässig war und die Abschiebung nach Italien angeordnet werden durfte, ist die Beklagte jedenfalls nunmehr durch Zeitablauf für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist stellt keinen fingierten Selbsteintritt, sondern eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die letztlich lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist (BayVGH, B.v. 11.5.2015 – 13a ZB 15.50006 – juris Rn. 5).
Nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat (Alt. 1) oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat (Alt. 2). Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO nicht mehr zur (Wieder-)Aufnahme der betreffenden Person verpflichtet, und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.
Unabhängig von der Frage, ob die Sechsmonatsfrist schon mit Ablauf einer zweiwöchigen Frist nach Übermittlung des (unbeantwortet gebliebenen) Wiederaufnahmegesuchs vom 30. Oktober 2015 (Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO) und damit Mitte November 2015 begonnen hat, ist seit der Bekanntgabe des den vorläufigen Rechtsschutzantrag des Klägers ablehnenden Beschlusses des Gerichts vom 1. März 2016 am 10. März 2016 erneut die Sechsmonatsfrist angelaufen, nachdem die ursprünglich angelaufene Frist durch den vor ihrem Ablauf gestellten Eilantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung unterbrochen wurde (OVG NW, U.v. 7.7.2016 – 13 A 2238/15.A – juris Rn. 24 ff., unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – NVwZ 2016, 1495 – juris Rn. 18; ferner BVerwG, U.v. 9.8.2016 – 1 C 6.16 – DÖV 2016, 963 (Ls.) – juris Rn. 23). Diese neu in Lauf gesetzte Frist ist mittlerweile abgelaufen, ohne dass der Kläger nach Italien überstellt wurde.
Dieses Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers ist damit auf die Beklagte übergegangen.
Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass eine Umdeutung des „Dublin-Bescheids“ in eine ablehnende Entscheidung nach § 71a AsylG aus prozessualen und materiellen Gründen nicht in Betracht kommt (BayVGH, B.v.18.05.2015 ‒ 11 ZB 14.50053 ‒ juris Rn. 15 ff.).
3. Der Kläger ist auch in seinen Rechten verletzt. Anders als noch bei den Regelungen in der Dublin II-Verordnung ist es insbesondere hinsichtlich der Regelungen zu den Überstellungsfristen in der Dublin III-Verordnung unter Beachtung der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung (EuGH, U.v. 7.6.2016 – C-63/15 u.a. – NVwZ 2016, 1157 „Ghezelbash“; BVerwG, U.v. 9.8.2016 – 1 C 6.16 – NVwZ 2016, 1492 – juris Rn. 22) nicht ausgeschlossen, dass sich aus ihnen Individualschutz für den Kläger ergibt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

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