Europarecht

Keine Privilegierung für in die Bundesrepublik Deutschland weitergewanderte Drittstaatsangehörige bei Ausweisung in einen anderen Mitgliedsstaat

Aktenzeichen  10 ZB 19.275

Datum:
12.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
DÖV – 2019, 571
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 3
AufenthG § 9a, § 38a, § 53 Abs. 3
RL 2003/109/EG Art. 12, 17, 21 und 22

 

Leitsatz

Keine Privilegierung nach § 53 Abs. 3 AufenthG für in die Bundesrepublik Deutschland weitergewanderte Drittstaatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach Maßgabe der Richtlinie 2003/109/EG in einem anderen Mitgliedstaat erhalten haben, für den Fall ihrer Ausweisung aus dem Bundesgebiet und Abschiebungsandrohung in den anderen Mitgliedstaat. (Rn. 10 und 11)

Verfahrensgang

M 25 K 18.1917 2018-10-24 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der am 2. August 1983 geborene Kläger kosovarischer Staatsangehörigkeit, dem im Juni 2010 in Italien eine unbefristete Daueraufenthaltserlaubnis – EU erteilt wurde und der Anfang Mai 2013 erstmals in das Bundesgebiet einreiste, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 10. April 2018 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, sein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, die Abschiebung nach Italien angedroht und die Wiedereinreise für die Dauer von drei Jahren untersagt wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergibt sich nicht die allein geltend gemachte rechtsgrundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.
Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers als rechtmäßig erachtet, da er seit seiner Einreise in das Bundesgebiet im Mai 2013 innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl von Verkehrsdelikten begangen und damit nicht nur vereinzelt oder geringfügig gegen die Rechtsordnung verstoßen habe. Eine Wiederholungsgefahr sei gegeben, solange kein positives Eignungsgutachten vorliege. Der Kläger könne sich nicht auf den erhöhten Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG berufen, da jener Personen mit einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung nur in den Mitgliedstaaten zustehe, in denen sie die Daueraufenthaltsberechtung nach Maßgabe der der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (im Folgenden: RL 2003/109/EG) erworben hätten, nicht aber im zweiten Mitgliedstaat, in den sie weiter gewandert seien. Dies ergebe sich aus dem Fehlen einer Art. 12 RL 2003/109/EG vergleichbaren Regelung im Abschnitt über die aus dem Daueraufenthaltsrecht des ersten Mitgliedstaates abgeleitete Aufenthaltsposition im zweiten Mitgliedstaat (Kapitel III, Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten, Art. 14 bis 23 RL 2003/109/EG).
Der Kläger erachtet die Frage, „ob der besondere Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG weitergewanderten langfristigen aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen und Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG aufgrund (…) Art. 22 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG ebenso zusteht wie einem Daueraufenthaltsberechtigten, der die deutsche Erlaubnis zum Daueraufenthalt EG nach § 9a AufenthG erworben hat“, als grundsätzlich klärungsbedürftig.
Er trägt hierzu vor, dass § 53 Abs. 3 AufenthG als Berechtigte Ausländer anführe, die eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzen würden, und nicht danach differenziere, ob diese Berechtigung im Bundesgebiet oder in einem anderen Mitgliedstaat erworben worden sei. Nach Art. 21 Abs. 1 RL 2003/109/EG würde langfristig Aufenthaltsberechtigten im zweiten Mitgliedstaat Gleichbehandlung in den Bereichen und unter den Bedingungen des Art. 11 RL 2003/109/EG gewährt, was gerade auch den besonderen Ausweisungsschutz mit einschließen müsse. Art. 22 RL 2003/109/EG regle lediglich den Entzug des Aufenthaltstitels und eine Verpflichtung des Erststaates zur Rücknahme, treffe aber bewusst keine Regelung, ob eine Ausweisung aus dem Zweitstaat möglich sei. Der ordre public Vorbehalt nach Art. 17 RL 2003/109/EG greife ebenso wenig, da dieser nur den Zuzug daueraufenthaltsberechtigter Personen vom Erstin den Zweitstaat regle. Ausgehend hiervon komme der Kläger in den Genuss eines erhöhten Ausweisungsschutzes, wobei zum einen fraglich sei, ob von ihm gegenwärtig noch eine Gefahr ausgehe und zum anderen die begangenen Verkehrsverstöße nicht die Annahme einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre und die Ausweisung unerlässlich mache, rechtfertigten.
Dieses Vorbringen rechtfertigt nicht die Zulassung wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2019 – 10 ZB 18.1768 – Rn. 11; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72).
Klärungsbedürftig sind solche Rechts- oder Tatsachenfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht oder nicht hinreichend ober- und höchstrichterlich geklärt sind (vgl. BVerfG, B.v. 28.4.2011 – 1 BvR 3007/07 – juris Rn. 21; Roth in Posser/Wolff BeckOK, VwGO, Stand 1.1.2019, § 124 Rn. 55 m.w.N; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124 Rn. 38). Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregelungen auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (stRspr, BVerwG, B.v. 9.4.2014 – 2 B 107.13 – juris Rn. 9 m.w.N.; BVerfG, B.v. 29.7.2010 – 1 BvR 1634/04 – juris Rn. 64).
Gemessen hieran fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit der vom Kläger aufgeworfenen Frage. Der Kläger zeigt nicht auf, dass hierzu unterschiedliche Auffassungen in der Rechtsprechung vertreten werden würden, die einen entsprechenden Klärungsbedarf auslösen könnten. In der im Berufungszulassungsvorbringen in Bezug genommenen Literatur wird zwar diese Frage zunächst aufgeworfen, dann aber – im Sinne der auch vom Erstgericht herangezogenen (erstinstanzlichen) Rechtsprechung – dahingehend beantwortet, dass sich aus Art. 22 Abs. 1 Buchst a, Abs. 2 RL 2003/109/EG schließen lasse, „dass eine Ausweisung mit dem Ziel der Aufenthaltsbeendigung in den ersten Mitgliedstaat, in dem der Ausländer die langfristige Aufenthaltsberechtigung erworben hat, nur voraussetzt, dass der Ausländer eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung im Sinne des Art. 17 RL 2003/109/EG ist. Nach Art. 17 Abs. 1 RL 2003/109/EG hat der zweite Mitgliedstaat bei seiner Entscheidung lediglich die Schwere oder die Art des vom langfristig Aufenthaltsberechtigten begangenen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit bzw. die von der betroffenen Person ausgehende Gefahr zu berücksichtigen; die Entscheidung darf nach Art. 17 Abs. 2 RL 2003/109/EG nicht aus wirtschaftlichen Gründen getroffen werden. Die – gegenüber Art. 12 RL 2003/109/EG – abgesenkten Anforderung erklären sich daraus, dass das Aufenthaltsrecht des ersten Mitgliedstaats unberührt bleibt und dieser den Ausländer nach Art. 22 Abs. 2 RL 2003/109/EG rückübernehmen muss. Die Ausweisung richtet sich daher nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 in Verbindung mit § 54, § 55 AufenthG.“ (Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 53 Rn. 66).
Aus der vom Kläger weiter angeführten Literaturmeinung (s. HTK Kommentar, § 53 Rn. 32 u. 35), wonach sich „in ähnlicher Weise die Frage einer entsprechenden Anwendung des besonderen Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG n.F. im Licht der Richtlinie 2003/109/EG auch bei denjenigen Daueraufenthaltsberechtigten, die ein Daueraufenthaltsrecht zunächst nicht im Bundesgebiet, sondern in einem anderen Mitgliedstaat der EU erlangt haben und deshalb keine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU gemäß § 9a AufenthG besitzen, sondern lediglich eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 38a AufenthG“, stelle, geht ebenfalls nicht hervor, dass insofern eine abweichende Auffassung vertreten wird. Indes ist in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geklärt, dass die in Art. 17 RL 2003/109/EG errichtete Schwelle niedriger liegt, als die Gefahrenschwelle für die Ausweisung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten (vgl. BayVGH, B.v. 11.2.2013 – 19 AS 12.2476 – juris Rn. 20 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 8.12.2011 – Ziebell C-371/08 – juris Rn. 74). Demgemäß gilt, sofern (nur) die Ausweisung in den anderen Mitgliedstaat inmitten steht, der abgesenkte Maßstab des Art. 17 RL 2003/109/EG (vgl. Beichel-Benedetti in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, § 53 Rn. 26; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 38a Rn. 56 und Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 53 Rn. 67; Müller in Hofmann, NK-AuslR, 2. Auflage 2016, § 38a Rn. 39).
Dies ergibt sich aus Art. 22 RL 2003/109/EG (Entzug des Aufenthaltstitels und Verpflichtung zur Rückübernahme), der in Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 und Abs. 3 danach differenziert, ob (vor Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten) der Drittstaatsangehörige zur Ausreise vom zweiten in den ersten Mitgliedstaat gemäß den Verfahren des nationalen Rechts verpflichtet wird (Abs. 1 i.V.m. Abs. 2) oder aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit die Rückführung des Drittstaatsangehörigen aus dem Gebiet der Union unter Beachtung der Garantien des Art. 12 verfügt wird (Abs. 3). Für eine Maßnahme nach Absatz 1 genügt u.a. das Vorliegen von Gründen der öffentlichen Ordnung oder öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 17 RL 2003/109/EG (Art. 22 Abs. 1 Buchst. a RL 2003/109/EG); der erste Mitgliedstaat, dem vom zweiten Mitgliedstaat die Entscheidung mitgeteilt wird, hat gemäß Art. 22 Abs. 2 RL 2003/109/EG den langfristig Aufenthaltsberechtigten unverzüglich und ohne Formalitäten zurückzunehmen. Demzufolge trifft Art. 22 RL 2003/109/EG entgegen der Auffassung des Klägers durchaus Regelungen zur Ausweisung aus dem Zweitstaat. Hingegen vermittelt Art. 21 RL 2003/109/EG entgegen der klägerischen Ansicht weder nach dem Wortlaut noch nach dem systematischen Zusammenhang einen erhöhten Ausweisungsschutz.
Nachdem der Kläger – wie dargelegt – nicht der Privilegierung des § 53 Abs. 3 AufenthG unterfällt, geht sein weiteres Zulassungsvorbringen betreffend die seiner Ansicht nach nicht erfüllten Voraussetzungen der Vorschrift von vornherein ins Leere.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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