Europarecht

Kostenerstattung, Örtliche Zuständigkeit, Ruhen der Personensorge

Aktenzeichen  M 18 K 18.2485

Datum:
8.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 15183
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 89c Abs. 1
SGB VIII § 86c Abs. 1
SGB VIII § 86 Abs. 5 S. 2

 

Leitsatz

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.  

Gründe

Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet.
Nach sachdienlicher Auslegung des klägerischen Begehrens gemäß § 88 VwGO ist davon auszugehen, dass sich die Erstattungsforderung des Klägers auf alle Kosten bezieht, die im Zeitraum vom … … 2017 bis … … 2018 für den streitgegenständlichen Hilfefall angefallen sind. Zwar wurde in der Klageschrift lediglich Erstattung für „nach § 35a SGB entstandene Jugendhilfekosten“ beantragt, jedoch ergibt sich aus der weiteren Klagebegründung, insbesondere der mit Schriftsatz vom 20. Januar 2022 vorgelegten Kostenaufstellung, dass auch eine Erstattung der daneben geleisteten intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung gemäß §§ 27, 35 SGB VIII begehrt wird.
Der so verstandene geltend gemachte Anspruch der Klägerin nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gegen den Beklagten auf Kostenerstattung in Bezug auf die im Zeitraum vom … … 2017 bis … … 2018 gewährten Jugendhilfeleistungen nach §§ 27, 35 sowie § 35a SGB VIII für den Hilfeempfänger A. besteht nicht, da der Beklagte für den streitgegenständlichen Jugendhilfefall nicht zuständig geworden ist.
Nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist.
Ein Zuständigkeitswechsel hin zum Beklagten ist vorliegend jedoch nicht eingetreten, sodass dessen Kostenerstattungspflicht gegenüber der Klägerin abzulehnen ist.
Mit dem Beschluss des Amtsgerichts … – Familiengericht – vom … … 2017, mit welchem im Wege der einstweiligen Anordnung das Ruhen der elterlichen Sorge des Kindsvaters angeordnet wurde, richtete sich die örtliche Zuständigkeit für die Hilfegewährung im streitgegenständlichen Zeitraum nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII.
Das Gericht folgt der Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, wonach bei der 2. Fallgruppe in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII – fehlendes Sorgerecht bei beiden Elternteilen – lediglich auf das „Bestehen“ verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile Bezug genommen wird, nicht hingegen auf das „Begründen“ verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn (BayVGH, U.v 10.2.2022 – 12 BV 20.217 – juris Rn. 17 ff. unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 14.11.2013 – 5 C 34.12 – juris Rn. 22 ff). Dementsprechend bleibt die bisherige örtliche Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers dann als „statische“ Zuständigkeit bestehen, wenn die Personensorge für den Hilfebedürftigen keinem Elternteil zusteht und die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen.
Diese Voraussetzungen sind im streitgegenständlichen Zeitraum gegeben. Die Mutter des Hilfeempfängers hatte ab Dezember 2015 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in … im Kreisgebiet des Beklagten, der Vater des Hilfeempfängers war seit 26. Oktober 2016 in der JVA … im … inhaftiert; es bestanden mithin verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Elternteile. Ab dem … … 2017 ruhte die Personensorge für den Hilfeempfänger bei beiden Elternteilen, was nach höchstrichterlicher Rechtsprechung im Rahmen der jugendhilferechtlichen Zuständigkeitsbestimmung einem Entzug der Personensorge gleichkommt (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2017 – 5 C 12/16 – juris Rn. 14; B. v. 13.9.2004 – 5 B 65/04 – juris Rn. 3; BeckOGK/Richter, 1.3.2022, SGB VIII § 86 Rn. 35).
Nach § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII blieb demnach ab dem … … 2017 die örtliche Zuständigkeit des bis dahin örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers bestehen. Ob diese bei dem Landkreis … lag, welcher den Hilfeempfänger ab dem … … 2017 in Obhut genommen hatte (§ 87 SGB VIII), oder beim …, wo der bis zum … … 2017 allein sorgeberechtigte Kindsvater seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) kann an dieser Stelle dahinstehen, da in keinem Fall eine Zuständigkeit des Beklagten begründet worden wäre. Den in den Hilfefall auf keine Weise eingebundenen Beklagten mit den Kosten der Hilfemaßnahme zu belasten, allein, weil die nicht sorgeberechtigte Mutter des Hilfeempfängers in seinem Zuständigkeitsbereich ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, erscheint im Übrigen auch nicht sachgerecht.
Die Klage war demnach vollumfänglich abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis bestimmen sich nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Berufung wird gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (vgl. BayVGH, U.v 10.2.2022 – 12 BV 20.217 – juris Rn. 40).


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