Europarecht

Pflichtwidriges Verhalten des örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers, Anspruch auf das sog. „Strafdrittel“, Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts

Aktenzeichen  12 ZB 20.900

Datum:
26.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 36698
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB I § 30
SGB VIII §§ 86, 89c

 

Leitsatz

Verfahrensgang

RN 4 K 19.574 2020-03-03 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 3. März 2020 (Az.: RN 4 K 19.574) wird wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen.

Gründe

1. Die Klägerin beansprucht von der Beklagten die Erstattung von Mehrkosten nach § 89c Abs. 2 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) – sog. Verwaltungsdrittel – für von ihr im Zeitraum zwischen dem 1. Dezember 2014 und dem 9. Februar 2015 für Patrick S. erbrachte Jugendhilfeleistungen nach § 34 SGB VIII in Höhe von 3.010,12 €.
1.1 Die Klägerin hatte den Jugendhilfefall vom Jugendamt des Landkreises Schmalkalden-Meiningen zum 1. Juli 2014 übernommen. Patrick S. wurde im Oktober 2010 zu einem Zeitpunkt geboren, als seine Mutter in der JVA Aichach inhaftiert war; der Vater ist unbekannt. Ende 2012 wurde Patrick S. vom Landkreis Schmalkalden-Meiningen zunächst in Obhut genommen und ihm auf Antrag der Kindsmutter, die zu diesem Zeitpunkt bei ihrer Großmutter in Meiningen ihren Aufenthalt genommen hatte, ab 1. März 2013 Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung gewährt. Vor einer erneuten Haftstrafe in der JVA Aichach hielt sich die Kindsmutter in Frankfurt am Main im Zuständigkeitsbereich der Klägerin auf. Nach der Haftentlassung Mitte August 2014 meldete sie sich zum 1. September 2014 in der P.-Straße in Eggenfelden im Zuständigkeitsbereich des Beklagten an.
Daraufhin teilte die Klägerin dem Jugendamt des Beklagten mit Schreiben vom 9. September 2014 mit, dass sie ab dem 1. September 2014 für die Gewährung der Hilfe für Patrick S. nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII nicht mehr örtlich zuständig sei, weil der allein vorhandene Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Landkreises Rottal-Inn habe. Es werde Kostenerstattung nach § 89c SGB VIII geltend gemacht. Nach Übermittlung zuvor angeforderter Unterlagen äußerte sich der Beklagte zur geforderten Fallübernahme gegenüber der Klägerin mit Schreiben vom 15. Dezember 2014 dahingehend, dass es nicht für sinnvoll erachtet werde, den Jugendhilfefall in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen, wenn sich die örtliche Zuständigkeit innerhalb kürzester Zeit wieder ändern werde. Derzeit bestünden große Zweifel, ob die Kindsmutter, Frau S., im Zuständigkeitsbereich des Beklagten den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen besitze und sich bis auf weiteres dort aufhalte. Zwar habe sie sich zum 1. September 2014 in Eggenfelden angemeldet, was ein Indiz für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts bilde. Allerdings besitze Frau S. im Landkreis Rottal-Inn keinerlei persönliche bzw. berufliche Anknüpfungspunkte. Gegenüber dem Allgemeinen Sozialdienst des Jugendamts habe sie geäußert, dass ihr Aufenthalt voraussichtlich nicht von Dauer sein werde. Über die Weihnachtsfeiertage wolle sie sich bei Verwandten aufhalten. Sollte Frau S. zum 1. Februar 2015 noch im eigenen Zuständigkeitsbereich wohnhaft sein, werde der Jugendhilfefall zu diesem Zeitpunkt in die eigene Zuständigkeit übernommen. Für die Zeit vom 1. September 2014 bis zum tatsächlichen Wegzug bzw. zur Fallübernahme werde Kostenerstattung zugesagt.
In einem von der Klägerin an Frau S. gesandten Fragebogen teilte diese am 10. Januar 2015 mit, dass sie nach ihrer Haftentlassung nach Eggenfelden gezogen sei, um ein neues Leben zu beginnen. Dort habe sie zwei gute Freunde sowie weitere neue Bekannte, die sie sehr unterstützen würden. Aufgrund zweier Bescheide vom 26. August 2014 und 1. Dezember 2014 erhalte sie Arbeitslosengeld und einen Zuschuss vom Jobcenter. Sie suche einen Arbeitsplatz als Kellnerin in Eggenfelden. Ihren Hausarzt Dr. B. habe sie ebenfalls im Landkreis Rottal-Inn. Sie sehe ihren Lebensmittelpunkt in Eggenfelden, wie sie dort ein neues Leben ohne Kontakt zu Drogen begonnen habe. Nachdem die Klägerin angesichts dessen mit Schreiben vom 26. Januar 2015 vom Beklagten erneut die Fallübernahme bis spätestens 1. März 2015 angemahnt hatte, teilte dieser mit Email vom 11. Februar 2015 mit, dass er es nach wie vor nicht für sinnvoll erachte, den Jugendhilfefall in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen, da die Kindsmutter mitgeteilt habe, nicht im Landkreis Rottal-Inn wohnen bleiben zu wollen. Kostenerstattung werde hingegen zugesichert. Mit weiterer Email vom 16. Februar 2015 wurde schließlich ausgeführt, dass die Kindsmutter seit 9. Februar 2015 in den Landkreis Schmalkalden-Meiningen zu ihrer Großmutter verzogen sei und daher ab diesem Zeitpunkt keine eigene Zuständigkeit mehr bestehe; eine Fallübernahme scheide daher aus.
1.2 Daraufhin machte die Klägerin mit Kostenrechnung vom 23. Februar 2015 neben der Erstattung der Jugendhilfekosten auch die Erstattung von Mehrkosten nach § 89c Abs. 2 SGB VIII in Höhe von 3.010,12 € geltend. Deren Zahlung lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 15. April 2015 ab. Die Kindsmutter habe gegenüber dem Leiter des Sozialdiensts der Beklagten mehrmals geäußert, nicht auf Dauer in dessen Zuständigkeitsbereich wohnen bleiben zu wollen. Der Sachverhalt sei vom Beklagten gründlich geprüft worden. Von einem vorsätzlich pflichtwidrigen Verhalten könne daher nicht ausgegangen werden. Der Wegzug nach Schmalkalden am 9. Februar 2015 bestätige, dass Frau S. nicht die Absicht besessen hatte, auf Dauer ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Eggenfelden zu begründen. Daraufhin forderte die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 20. April 2015 erneut zur Erstattung der Mehrkosten nach § 89c Abs. 2 SGB VIII bis 5. Mai 2015 auf. Bereits mit Schreiben vom 9. September 2014 sei dem Beklagten der Wechsel der örtlichen Zuständigkeit angezeigt und Fallübernahme beantragt worden. Mit Schreiben vom 2. Oktober 2014 habe die Klägerin die angeforderten Unterlagen zur Verfügung gestellt. Spätestens Mitte Oktober 2015 hätten daher dem Beklagten alle für die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit erforderlichen Unterlagen und Informationen vorgelegen, sodass die Fallübernahme spätestens zum 1. Dezember 2014 hätte stattfinden können. Diese sei jedoch durch den Beklagten weiter hinausgezögert worden; hierin liege eine Pflichtwidrigkeit i.S.v. § 89c Abs. 2 SGB VIII. Ab dem Zeitpunkt der möglichen Fallübernahme am 1. Dezember 2014 und dem Wegzug von Frau S. aus dem Zuständigkeitsbereich des Beklagten am 9. Februar 2015 ergebe sich der mit der Kostenrechnung vom 23. Februar 2015 geforderte Mehrbetrag in Höhe von 3.010,12 €.
1.3 In der Folge hat das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 3. März 2020 die auf die Zahlung des Mehrkostenzuschlags nach § 89c Abs. 2 SGB VIII abgewiesen. § 89c Abs. 2 SGB VIII gewähre einen pauschalierten Verwaltungskostenzuschlag für den Verwaltungsmehraufwand, der dem ursprünglich zuständig gewesenen Jugendhilfeträger deshalb entstanden ist, weil er Jugendhilfekosten aufgrund eines pflichtwidrigen Handelns des nunmehr örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers aufgewendet hat. Ein an sich örtlich zuständiger Jugendhilfeträger handle pflichtwidrig i.S.v. § 89c Abs. 2 SGB VIII, wenn er seine Zuständigkeit erkennt und dennoch die notwendige und geeignete Hilfeleistung ablehnt, verzögert oder unzureichend gewährt. Insbesondere liege eine Pflichtwidrigkeit vor, wenn der in Anspruch genommene Jugendhilfeträger durch inkorrektes Verwaltungshandeln die Wahrnehmung seiner Zuständigkeit ablehnt oder verzögert und dadurch die Verpflichtung des erstattungsberechtigten Jugendhilfeträgers auslöst. Im Falle einer verzögerten Entscheidung lasse sich für die Annahme einer Pflichtwidrigkeit keine feste Zeitspanne zwischen der Kenntnis der zuständigkeitsbegründenden Tatsachen und der Entscheidung über die Fallübernahme festlegen. Abzustellen sei vielmehr auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere darauf, ob die Bestimmung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit rechtlich schwierig gelagert ist.
Angesichts dessen sei vorliegend nicht von einem pflichtwidrigen Verhalten des Beklagten auszugehen. Ihm sei im vorliegenden Fall zuzugestehen, dass er zunächst seine örtliche Zuständigkeit eingehend geprüft habe. Im Hinblick darauf, dass die Kindsmutter gegenüber dem Beklagten nach dessen Angaben wiederholt Umzugsabsichten geäußert habe, sei die Frage danach, ob sie im Zuständigkeitsbereich des Beklagten ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe, berechtigt gewesen. Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sei auch im Jugendhilferecht auf die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) zurückzugreifen. Danach besitze jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweile. Abzustellen sei darauf, dass sich die Person an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Gebiet bis auf weiteres i.S.e. zukunftsoffenen Verbleibens aufhalte und dort den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen habe. Es komme insoweit nicht auf eine bereits eingetretene oder vorhergesehene Dauerhaftigkeit des Aufenthalts an einem bestimmten Ort an, sondern auf dessen Zukunftsoffenheit, mithin darauf, ob der Aufenthalt nicht von vornherein auf eine zeitlich absehbare Beendigung angelegt sei. Allein die Tatsache, dass Frau S. sich im Zuständigkeitsbereich des Beklagten i.S.d. Meldegesetzes angemeldet und einen Antrag auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch gestellt habe, erwiesen sich aus Sicht des Gerichts als nicht ausreichend für die Prognose, sie habe dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Dem Beklagten sei zuzugestehen gewesen, die seitens der Kindsmutter ihm gegenüber geäußerten Umzugspläne über einen gewissen Zeitraum zu beobachten und erst dann den Fall in die eigene Zuständigkeit zu übernehmen. Dies habe der Beklagte gegenüber der Klägerin im Schreiben vom 15. Dezember 2014 auch erläutert und eine Fallübernahme zum 1. Februar 2015 in Aussicht gestellt. Dass das Ansinnen des Beklagten nicht pflichtwidrig gewesen sei, zeige sich auch darin, dass die Klägerin ihrerseits eigene Ermittlungen zum gewöhnlichen Aufenthalt der Kindsmutter angestellt und deren Ergebnis dem Beklagten mit Schreiben vom 26. Januar 2015 mit der Bitte um Fallübernahme zum 1. März 2015 auch mitgeteilt habe. Weiter stelle es auch kein widersprüchliches Verhalten des Beklagten dar, dass er bereits im Schreiben vom 15. Dezember 2014 eine Kostenübernahme zugesichert habe, die eine Annahme der eigenen Zuständigkeit impliziere, aber für die Fallübernahme eine Frist bis zum 1. Februar 2015 erbeten habe. Hätte sich die Zusage der Kostenübernahme im Nachhinein als rechtswidrig herausgestellt, hätte sie mit geringem Verwaltungsaufwand rückabgewickelt werden können, zumal zu diesem Zeitpunkt noch keine Abrechnungen erfolgt waren. Eine Rückabwicklung des Falles in die Zuständigkeit der Klägerin im Falle einer zu Unrecht erfolgten Fallübernahme wäre hingegen sowohl für die Klägerin wie auch den Beklagten mit erheblichem Aufwand verbunden gewesen. Letztlich habe die Klägerin selbst im Schreiben vom 26. Januar 2015 die Fallübernahme zum 1. März 2015 erbeten. Darin zeige sich, dass auch die Beklagte nicht von einem pflichtwidrigen Verhalten des Beklagten ausgegangen sei.
1.4 Gegen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung richtet sich der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung, mit dem sie ernstliche Zweifel an deren Richtigkeit i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend macht. Der Beklagte habe entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts durch die Verzögerung der Fallübernahme i.S.v. § 89c Abs. 2 VwGO pflichtwidrig gehandelt. Demgegenüber verteidigt der Beklagte das angefochtene Urteil
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
2. Der Berufungszulassungsantrag der Klägerin hat Erfolg, da an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erhebliche Zweifel bestehen.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts liegen die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch der Klägerin nach § 89c Abs. 2 SGB VIII vor. Danach besitzt der erstattungsberechtigte örtliche Jugendhilfeträger, der Kosten deshalb aufgewandt hat, weil der zuständige örtliche Jugendhilfeträger pflichtwidrig gehandelt hat, einen zusätzlichen Erstattungsanspruch in Höhe eines Drittels der aufgewandten Kosten, mindestens jedoch in Höhe von 50 €.
2.1 Ein pflichtwidriges Handeln des (an sich) zuständigen örtlichen Jugendhilfeträgers i.S.v. § 89c Abs. 2 SGB VIII liegt dann vor, wenn er seine Zuständigkeit erkennt und dennoch die notwendige und geeignete Hilfeleistung ablehnt, verzögert oder unzureichend gewährt. Das wiederum setzt voraus, dass der in Anspruch genommene Jugendhilfeträger durch inkorrektes Verwaltungshandeln die Wahrnehmung seiner Zuständigkeit ablehnt oder verzögert und dadurch die Verpflichtung des erstattungsberechtigten Jugendhilfeträgers auslöst (BayVGH, B.v. 14.11.2011 – 12 ZB 09.2095 – BeckRS 2011, 34214 Rn. 10 f.). Eine pflichtwidrige Handlung kann auch dann vorliegen, wenn der angegangene Jugendhilfeträger nichts zur Feststellung der Zuständigkeitsvoraussetzungen unternimmt, insbesondere das Bestehen des gewöhnlichen Aufenthalts der maßgebenden Person nicht überprüft (so Kunkel/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 89c Rn. 14). Demgegenüber liegt ein pflichtwidriges Verhalten i.S.v. § 89c Abs. 2 SGB VIII dann nicht vor, wenn die Bestimmung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit rechtlich nicht einfach gelagert ist und diese aufgrund einer unübersichtlichen tatsächlichen Situation unzutreffend verneint wurde (so VGH Mannheim, U.v. 28.4.2015 – 12 S 1274/14 – BeckRS 2015, 46908).
2.2 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts erweist sich im vorliegenden Fall die sachliche und örtliche Zuständigkeit des Beklagten als geradezu offenkundig; jedenfalls hätte der Beklagte sie nach Zugang der Unterlagen der Klägerin unproblematisch ermitteln können, sodass sich die verzögerte Fallübernahme als pflichtwidrig i.S.v. § 89c Abs. 2 SGB VIII darstellt.
2.2.1 Vorliegend bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit für die gewährte Jugendhilfemaßnahme unbestritten aus § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Kindsmutter von Patrick S.. Zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist, wovon das Verwaltungsgericht zunächst zutreffend ausgeht, auf die Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I zurückzugreifen. Danach hat eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts ist ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet „bis auf Weiteres“ i.S.e. zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat. Die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts bestimmt sich nicht allein nach dem inneren Willen des Betroffenen, sondern setzt eine aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse zu treffende Prognose voraus (vgl. BayVGH, B.v. 10.8.2011 – 12 ZB 11.1001 – BeckRS 2011, 33443). Demgegenüber gibt eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt erst dann auf, wenn sie ihren Aufenthaltsort tatsächlich wechselt und die konkreten Umstände erkennen lassen, dass sie am bisherigen Aufenthaltsort nicht mehr bis auf Weiteres verbleiben und nicht mehr den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen haben wird (BayVGH, B.v. 30.1.2017 – 12 ZB 14.1839 – BeckRS 2017, 101788).
2.2.2 Ausgehend von dem aufgezeigten Maßstab war es für den Beklagten bereits mit der ersten Bitte der Klägerin um Fallübernahme am 9. September 2014 wenn nicht offenkundig so doch jedenfalls leicht und unproblematisch ermittelbar, dass die Kindsmutter von Patrick S. in Eggenfelden einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. So hat sie sich nach der Entlassung aus der JVA Aichach in der P.-Straße zum 1. September 2014 ordnungsgemäß angemeldet und bei der zuständigen Agentur für Arbeit bzw. dem zuständigen Jobcenter Sozialleistungen beantragt. Anhaltspunkte dafür, dass zu diesem Zeitpunkt an einem anderen Ort oder einem anderen Gebiet der Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen bestanden hat, lagen ersichtlich nicht vor. Demzufolge bestand rechtlich und tatsächlich unproblematisch mit dem Umzug von Frau S. nach Eggenfelden die örtliche Zuständigkeit des Beklagten nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII.
2.2.3 Diese wird – nicht einmal im Ansatz – dadurch in Frage gestellt, dass Frau S. gegenüber dem Allgemeinen Sozialdienst „wiederholt“ vorgetragen haben soll, nicht auf Dauer in Eggenfelden bleiben zu wollen. Zunächst ist hierzu anzumerken, dass sich dieser vom Beklagten vorgetragene Umstand aus den vorliegenden Akten nicht ergibt und damit, jedenfalls bislang, nicht nachgewiesen ist. Darüber hinaus vermag jedoch die bloße Äußerung, an einem bestimmten Ort möglicherweise nicht länger verweilen zu wollen, weder die anhand objektiver Fakten (melderechtliche Anmeldung; Beantragung von Sozialleistungen) anzunehmende Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts i.S.v. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I in Frage zu stellen, noch dessen Beendigung zu belegen, da hierzu – wie bereits dargestellt – über den inneren Willen hinaus ebenfalls objektive Tatsachen vorliegen müssen. Demzufolge hätte der Beklagten im vorliegenden Fall nach allenfalls kurzer Prüfung den – weder rechtlich noch tatsächlich problematischen – gewöhnlichen Aufenthalt von Frau S. in Eggenfelden und damit seine örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII bejahen müssen. Weshalb ihm nach Auffassung des Verwaltungsgerichts ein mehrmonatiger Überlegungszeitraum zugebilligt werden muss, erschließt sich dem Senat daher nicht.
2.2.4 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts verhält sich der Beklagte vorliegend auch widersprüchlich, wenn er einerseits der Klägerin Kostenerstattung zusichert, was die Annahme voraussetzt, dass vorliegend die örtliche Zuständigkeit gegeben ist, andererseits aber die Fallübernahme zeitlich hinausschiebt. Aus Sicht des Senats zielt diese Verhaltensweise vielmehr darauf ab, angesichts eines möglichen „Wegzugs“ von Frau S. und einer in diesem Fall notwendigen Weiterleistungspflicht, dem Bewirken einer Fallübernahme und der Geltendmachung von Erstattungsforderungen nach § 89c Abs. 1 SGB VIII gegen den dann örtlich zuständigen Jugendhilfeträger, den notwendigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden und auf die Klägerin abzuwälzen. Dies stellt sich jedoch angesichts der offensichtlichen Zuständigkeit des Beklagten in jedem Fall als pflichtwidrig dar, sodass der Anspruch der Klägerin aus § 89c Abs. 2 SGB VIII zu Recht besteht. Der Senat regt insoweit an, diesen Anspruch zur Vermeidung weiterer Kosten seitens des Beklagten anzuerkennen. Die Berufung war daher aufgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
Das Verfahren wird als Berufungsverfahren unter dem Aktenzeichen 12 B 21…. fortgesetzt. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.


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