Europarecht

Schadensersatz, Kaufpreis, Fahrzeug, Sittenwidrigkeit, Staatsanwaltschaft, Anklage, Schaden, Vergleich, PKW, Rechtsanwaltskosten, Umwelt, Kenntnis, Grenzwerte, Darlegungslast, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Zustellung der Klage

Aktenzeichen  7 U 5748/21

Datum:
23.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 4639
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

43 O 2472/20 Die 2021-07-19 Urt LGINGOLSTADT LG Ingolstadt

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 19.07.2021, Az. 43 O 2472/20 Die, abgeändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 6.692,37 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.08.2020 zu bezahlen.
3. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen und bleibt die Klage abgewiesen.
4. Von den Kosten des Verfahrens erster Instanz tragen der Kläger 22% und die Beklagte
78%. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger 42% und die Beklagte 58%.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
6. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Gründe

1. Die Parteien streiten um Schadensersatz nach Erwerb eines vom Diesel-Abgasskandal betroffenen PKW der beklagten Herstellerin durch den Kläger.
Die Klagepartei erwarb den streitgegenständlichen Audi … der Abgasnorm … am 02.01.2018 bei der … zu einem Kaufpreis von 41.132,77 € netto (48.948 € brutto). Der Kilometerstand betrug 29.152 km. Der Kauf wurde über die . finanziert, wobei dem Kläger Finanzierungskosten in Höhe von 3.626,65 € entstanden. Der Kläger hat das Fahrzeug – während der Rechtshängigkeit des Verfahrens – bei einem Kilometerstand von 114.746 km zu einem Kaufpreis von 25.068,18 € netto (29.831,13 € brutto) verkauft.
Das streitgegenständliche Fahrzeug verwendet (ua) sogenannte Aufheizstrategien (Strategie A und Strategie B). Diese sind nach den Feststellungen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) so bedatet, dass sie nahezu ausschließlich auf dem Prüfstand zur Messung der Einhaltung der NOx-Grenzwerte zur Anwendung kommen. Nur bei Verwendung dieser Aufheizstrategien hält das streitgegenständliche Fahrzeug die normierten Grenzwerte ein; sonst werden sie – auch unter Prüfstandsbedingungen – um ein Vielfaches überschritten. Das Kraftfahrtbundesamt stuft diese Strategien als unzulässige Abschalteinrichtungen ein und hat Abhilfemaßnahmen durch die Beklagte verfügt.
Die Klagepartei sieht in diesen Strategien vorsätzliche sittenwidrige Täuschungen. Sie behauptet, der Vorstand der Beklagten habe von den Strategien Kenntnis gehabt.
Erstinstanzlich hat die Klagepartei zuletzt beantragt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei EUR 11.446,02 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.08.2020 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 2.373,36 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.08.2020 zu zahlen.
Hinsichtlich des überschießenden Betrages im Vergleich zu der ursprünglich geltend gemachten Hauptsacheforderung von 42.561,94 € hat die Klagepartei den Rechtsstreit für erledigt erklärt.
Die Beklagte hat sich der Erledigterklärung angeschlossen und im Übrigen beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte bestreitet eine Kausalität zwischen der verwendeten Abschaltungseinrichtung und dem Kauf des Fahrzeugs durch die Klagepartei. Auch bestreitet sie einen Vorsatz. Dem Kläger sei auch kein Schaden entstanden.
Das Landgericht hat mit Urteil vom 19.07.2021, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird (§ 540 Abs. 1 ZPO), die Klage abgewiesen. Dem Kläger sei jedenfalls kein Schaden entstanden. Rechne man die Nutzungsentschädigung nach dem sogenannten Ingolstädter Modell und ziehe des weiteren vom gezahlten Kaufpreis den vom Kläger selbst erzielten Erlös ab, sei der Schaden aufgezehrt.
Gegen das ihm am 26.07.2021 zugestellte Urteil hat der Kläger mit beim Berufungsgericht am 19.08.2021 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am 20.09.2021 eingegangenem Schriftsatz begründet. Er macht geltend, dass die Berechnung des Nutzungsvorteils nach dem Ingolstädter Modell fehlerhaft sei. Außerdem stünden dem Kläger in jedem Falle die Finanzierungskosten zu. Der Kläger legte der Berechnung des Nutzungsvorteils erstinstanzlich eine Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 400.000 km zu Grunde. In der Berufungsinstanz (dort im Schriftsatz vom 11.01.2022) geht er demgegenüber von einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km aus.
Er beantragt unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Ingolstadt vom 20.07.2021, Az.: 43 O 2472/20:
1. Die Beklagte wird verurteilt an die Klagepartei EUR 11.446,02 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.08.2020 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von EUR 2.373,36 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.08.2020 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil.
Der Senat hat über die Berufung am 23.02.2022 mündlich verhandelt und den Kläger informatorisch angehört. Auf das Sitzungsprotokoll sowie die gewechselten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen.
II.
Die Berufung hat zum Teil Erfolg. Die Beklagte haftet dem Grunde nach aus § 826 BGB dem Kläger auf Schadensersatz wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung. Der Höhe nach steht7 U 5748/21 – Seite 4 – dem Kläger jedoch der geltend gemachte Schadensersatzanspruch nur zum Teil zu. Auch besteht kein Anspruch auf Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.
1. Das streitgegenständliche Fahrzeug verfügte unstreitig über vom KBA als unzulässig eingestufte Aufheizstrategien (sog. Strategien A und B). Nach dessen unangegriffenen Feststellungen kommen diese Strategien aufgrund ihrer Bedatung (nahezu) ausschließlich auf dem Prüfstand zur Anwendung. Nur aufgrund der Aufheizstrategien werden die relevanten Abgaswerte für NOx-Emissionen auf dem Prüfstand eingehalten. Im realen Straßenverkehr kommt die Aufheizstrategie dagegen nicht zur Anwendung.
Der Senat folgt dem KBA in der Einschätzung, dass es sich um unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 VO (EU) 715/2007 handelt. Zwar trifft im Ausgangspunkt zu, dass Kraftfahrzeuge nach der damals geltenden Rechtslage die Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand einhalten mussten. Daraus folgt jedoch nicht, dass Herstellern erlaubt gewesen wäre, die Software so zu konfigurieren, dass sie den Prüfstand mit dem Ziel erkennt, dass die Grenzwerte allein aufgrund dieses Erkennens der Prüfstandssituation eingehalten werden, während das Fahrzeug ohne dieses Erkennen selbst unter Zugrundelegung der im Prüfstand simulierten Fahrkurve ein gänzlich anderes Abgasverhalten zeigen würde. Darin liegt eine Täuschung sowohl gegenüber der Zulassungsbehörde als auch gegenüber dem das Fahrzeug in Unkenntnis einer solchen Abschalteinrichtung erwerbenden Käufers.
Ein solches Verhalten erfüllt das Verdikt der Sittenwidrigkeit. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Das Ziel der Beklagten mag primär darin bestanden haben, Fahrzeuge kostengünstiger als ihr sonst möglich zu produzieren und ihren Gewinn zu erhöhen. Ein solches Ziel ist für sich genommen (selbstverständlich) erlaubt und auch nicht (per se) verwerflich. Das an sich erlaubte Ziel der Erhöhung des Gewinns wird – auch im Verhältnis zu dem Käufer eines der betroffenen Fahrzeuge – aber dann verwerflich, wenn es auf der Grundlage einer strategischen Unternehmensentscheidung durch arglistige Täuschung der zuständigen Typgenehmigungs- und Marktüberwachungsbehörde – des KBA (§ 2 Abs. 1 EG-FGV) – erreicht werden soll, und dies mit einer Gesinnung verbunden ist, die sich sowohl im Hinblick auf die für den einzelnen Käufer möglicherweise eintretenden Folgen und Schäden als auch im Hinblick auf die insoweit geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt, gleichgültig zeigt. Ein solches Vorgehen verstößt derart gegen die Mindestanforderungen im Rechts- und Geschäftsverkehr auf dem hier betroffenen Markt für Kraftfahrzeuge, dass ein Ausgleich der bei den einzelnen Käufernverursachten Vermögensschäden geboten erscheint. Gerade wenn die Käufer (und damit auch der Kläger) – wovon die Beklagte ausgeht und was auch aus Sicht des Senats naheliegt – sich keine konkreten Vorstellungen über die Rechtsbeständigkeit der Typgenehmigung und die Erfüllung der gesetzlichen Abgasgrenzwerte machten, war das Inverkehrbringen der Fahrzeuge unter diesen Umständen sittenwidrig und stand wertungsmäßig einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Käufer gleich.
Der Fall liegt insoweit nicht anders als beim … des Mutterkonzerns der hiesigen Beklagten, der als klassischer Fall einer sog. „Schummelsoftware“ angesehen wird. Auf die übertragbaren Ausführungen im Urteil des BGH vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, juris-Rn. 15 ff. wird ergänzend Bezug genommen.
2. Die Beklagte handelte vorsätzlich. Der Kläger hat an mehreren Stellen Kenntnis und Vorsatz u.a. des Vorstandes der Beklagten – etwa in der Klageschrift auf S. 35 und auf S. 46 – behauptet. Hierzu hätte sich die Beklagte im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast substantiiert äußern müssen. Der Kläger hat hinreichende Anhaltspunkte für eine Kenntnis des Vorstands von der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung vorgetragen. Hierfür spricht nicht nur der Umstand, dass es sich bei der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung – wie bereits dargelegt – um eine grundlegende Strategieentscheidung handelte, die mit erheblichen Risiken für die Beklagte und ihren Mutterkonzern und auch mit persönlichen Haftungsrisiken für die entscheidenden Personen verbunden war, sondern auch die Bedeutung gesetzlicher Grenzwerte und der technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ihrer Einhaltung für die Geschäftstätigkeit der Beklagten. Wegen der besonderen Schwierigkeiten des Klägers, konkrete Tatsachen darzulegen, aus denen sich die Kenntnis eines bestimmten Vorstandsmitglieds ergibt, kann sich die Beklagte nicht darauf zurückziehen, es sei an dem Kläger näher zum Vorsatz vorzutragen. Die Beklagte hätte zumindest mitteilen müssen, welche Ermittlungen mit welchem Ergebnis sie insoweit angestellt habe bzw. über welche Erkenntnisse sie insoweit verfüge, zumal die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat und über die Anklage verhandelt wird. Dies wäre ihr möglich und zumutbar gewesen (zu diesen Anforderungen vgl. BGH, aaO, juris-Rn. 39). Dies hat die Beklagte jedoch nicht getan.
3. Der Senat ist auch von einer Kausalität zwischen dem Fehlverhalten des Beklagten und dem Kauf des streitgegenständlichen Fahrzeugs überzeugt. Der Kläger hat im Rahmen der Anhörung ausgesagt, er habe ein „sauberes“ Fahrzeug erwerben wollen. Er sei im Garten- und Landschaftsbau tätig; da achte man auf die Umwelt. Er hat ferner bekundet, dass er das Fahrzeug nicht erworben hätte, wenn er gewusst hätte, dass dem Fahrzeug die Stilllegung drohe. Für Letzteres streitet die aus der Lebenserfahrung begründete Vermutung (vgl. BGH, aaO, juris-Rn. 49); schon dieser Aspekt begründet Kausalität, ohne dass es auf ein Umweltbewusstsein des Klägers ankäme. Der Senat hat auch im Übrigen keine Zweifel, dem Kläger zu glauben, dass es ihm auf ein „sauberes“ Fahrzeug angekommen sei. Dass es sich um einen 3,0l-Motor handelt, steht dem nicht entgegen. Ein „sauberes“ Fahrzeug in diesem Sinne ist auch ein Fahrzeug, das die Grenzwerte der – ohnehin strengen – EU6-Norm einhält, mag es objektiv auch nicht besonders umweltschonend sein.
Einer förmlichen Parteieinvernahme des Klägers bedurfte es infolge Verzichts der Beklagten nicht.
4. Dem Kläger ist durch den Erwerb eines bemakelten Fahrzeugs ein Schaden entstanden.
Auf die Ausführungen des BGH, aaO, juris-Rn. 44ff. wird Bezug genommen.
5. Dem Kläger steht in der Folge Schadensersatz zu. Dieser berechnet sich aus der Differenz zwischen gezahltem Kaufpreis einerseits und der Summe aus Verkaufserlös und Nutzungsvorteilen für gefahrene Kilometer andererseits. Hinzuzurechnen sind die Finanzierungskosten. Im Einzelnen gilt:
5.1. Anzusetzen ist der Nettokaufpreis, da der Kläger als Unternehmer vorsteuerabzugsberechtigt ist, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG.
Der Kläger hat nach eigenem Bekunden das Fahrzeug als Firmenfahrzeug und damit im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit, mithin als Unternehmer, § 2 Abs. 1 UStG, erworben. Er hat in seiner Anhörung vor dem Landgericht ausgesagt, jedenfalls für frühere Fahrzeuge habe er Vorsteuer geltend gemacht. Der Senat vermag nicht zu erkennen, warum der Kläger vorliegend als Unternehmer nicht vorsteuerabzugsberechtigt sein sollte, zumal er bei der Weiterveräußerung seinerseits Umsatzsteuer ausgewiesen hat.
Ist ein Käufer vorsteuerabzugsberechtigt, erleidet er einen Schaden nur in Höhe des Nettobetrages, da ihm die gezahlte Umsatzsteuer vom Fiskus erstattet wird (Oetker in MüKo BGB, 8. Aufl., § 249 Rn. 249, 474).
Der Nettokaufpreis betrug ausweislich der Anlage K1 41.132,77 €.
5.2. Auch für den Weiterverkauf ist der Nettobetrag von 25.068,18 € (Anlage K1c) anzusetzen.
5.3. Die Nutzungsentschädigung beläuft sich auf 12.998,87 €. Dies ergibt sich aus einer Multiplikation des Kaufpreises mit dem Quotienten aus gefahrenen Kilometern und Restlaufleistung des Fahrzeugs bei Kauf.
5.3.1. Aus obigen Ausführungen folgt zugleich, dass auch die Nutzungsentschädigung aus Nettobeträgen zu errechnen ist.
Zwar trifft zu, dass der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 26.06.1991 – VIII ZR 198/90, juris-Rn. 13f. (bestätigt durch Urteil vom 09.04.2014 – VIII ZR 215/13, juris-Rn. 12), im Falle einer kaufrechtlichen Wandelung (nach dem Recht vor 2002) auch bei vorsteuerabzugsberechtigten Personen den Bruttobetrag angesetzt hat. Tragender Grund war jedoch, dass im Falle der Wandelung bzw. eines Rückgewährschuldverhältnisses im Ausgangspunkt auch zwischen Unternehmern gemäß § 346 Abs. 1 BGB der Bruttokaufpreis zurückzugewähren ist. Im Falle des deliktischen Schadensersatzrechts ist jedoch nur der Nettowert anzusetzen. Anderenfalls käme es auch zu ungerechtfertigten Friktionen, weil bei vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmern der Schaden schneller aufgezehrt würde als Verbrauchern. Dies gilt es aber, wie der BGH aaO selbst ausführt, zu vermeiden.
5.3.2. Die Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs schätzt der Senat auf 300.000 km.
Der Senat berücksichtigt bei seiner Annahme einer Gesamtlaufleistung von 300.000 Kilometern, dass die Beklagtenpartei selbst eine hervorgehobene Qualität ihrer Fahrzeuge für sich in Anspruch nimmt, was sich auch in gegenüber vergleichbaren Fahrzeugen anderer Hersteller höheren Kaufpreisen widerspiegelt. Fahrzeuge hervorgehobener Qualität halten aber auch länger. Weiterhin ist bei der Schätzung einzubeziehen, dass es sich um ein Fahrzeug mit einer Erstzulassung im Jahr 2016 handelt, bei dem aufgrund fortschreitender technischer Entwicklung von einer höheren Haltbarkeit ausgegangen werden muss, als das bei älteren Fahrzeugen der Fall ist. Dabei kann auch nicht außer Acht gelassen werden, dass im heutigen Straßenbild eine Vielzahl von Fahrzeugen der Beklagtenpartei zu sehen sind, die ohne weiteres älter als zehn Jahre sind.
Mit dieser Schätzung bewegt sich der Senat in der üblichen Bandbreite der seitens der Gerichte zugrunde gelegten Laufleistungen (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, juris-Rn. 83, in der gegen eine Schätzung mit 300.000 km keine Bedenken erhoben wurden; auch die Entscheidung des BGH vom 29.09.2021 – VIII ZR 111/20 billigt dem Tatgericht ausdrücklich Schätzungsermessen zu und zitiert [juris-Rn. 71], von ihm unbeanstandet, Entscheidungen der Instanzgerichte mit einer geschätzten Gesamtlaufleistung von 300.000 km).
Substantiierte Einwände gegen diese Schätzung werden seitens der Parteien nicht erhoben. Im Schriftsatz vom 11.01.2022, S. 12, Bl. 220 d.A. geht die Klagepartei – nunmehr – selbst von einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km aus. Die Beklagtenpartei, die für die dem Vorteilsausgleich zu Grunde zu legenden Tatsachen grundsätzlich die Darlegungslast trägt, hat unter Verweis auf Rechtsprechung nur pauschal behauptet, die zu erwartende Gesamtlaufleistung betrage nicht mehr als 250.000 Kilometer (Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 06.12.2021, S. 33, Bl. 204 d.A.). An der Beklagtenpartei als Darlegungsbelastete wäre es aber gewesen, Tatsachen vorzutragen, die die von ihr behauptete Gesamtlaufleistung begründen. Dies ist jedoch nicht erfolgt.
Daraus folgt, dass vorliegend von einer Restlaufleistung bei Kauf von 270.848 km (300.000 km minus Kilometerstand bei Kauf) auszugehen war.
5.3.3. Der Kläger ist unstreitig 85.594 km mit dem Fahrzeug gefahren.
5.3.4. Der Nutzungsvorteil ist entgegen der Ansicht der Beklagten linear und nicht degressiv zu berechnen (nicht beanstandet etwa in BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 juris-Rn. 80 und BGH, Urteil vom 29.09.2021 – VIII ZR 111/20, juris-Rn. 55). Es geht nicht darum, den – von der Beklagten zu tragenden – Wertverlust des Fahrzeugs zu bewerten, der degressiv verläuft, bei dem also der anfängliche Wertverlust besonders hoch ist. Es geht vielmehr darum, den Nutzungsvorteil des Klägers zu bewerten. Dieser ist jedoch bei Kilometer 1 bis 50.000 nicht anders zu bemessen als ab Kilometer 50.001.
Ob Anpassungen dann vorzunehmen sind, wenn ein atypisches Nutzungsverhalten vorliegt und deshalb das Erreichen der Gesamtlaufleistung unmöglich erscheint, bedarf vorliegend keiner Entscheidung, denn um einen solchen Fall handelt es sich nicht.
5.4. Nettokaufpreis abzüglich Veräußerungserlös und abzüglich Nutzungsvorteil ergibt einen Betrag von 3.065,72 €.
5.5. Hinzuzurechnen sind die – der Höhe nach unstreitigen – Finanzierungskosten von 3.626,65 €. Die Finanzierungskosten stehen dem Kläger als Schadensersatz zu, weil sie ohne den – infolge des Einbaus einer unzulässigen Abschaltvorrichtung ungewollten – Abschluss des Kaufvertrages nicht entstanden wären. Sie unterliegen, wie der BGH im Urteil vom 13.04.2021 – VI ZR 274/20 entschieden hat, auch nicht der „Abschmelzung“ durch den Nutzungsvorteil. Der Senat nimmt auf die vom BGH gegebene Begründung Bezug (BGH aaO juris-Rn. 18 ff.) und macht sie sich zueigen.
5.6. In der Summe ergibt sich der tenorierte Betrag von 6.692,37 €.
6. Die Zinsentscheidung beruht auf § 280 Abs. 1 und 2, § 286 Abs. 1 Satz 1, § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB. Der Zinslauf beginnt am Tag nach Ablauf der außergerichtlich gesetzten, bis zum 26.08.2020 laufenden Frist.
7. Ein Anspruch auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten besteht nicht. Die Beklagte hat in der Berufungserwiderung, S. 34, Bl. 205 d.A., eingewandt, der Kläger habe nicht dargetan, dass er seinem Prozessvertreter ein auf die außergerichtliche Tätigkeit zunächst beschränktes Mandat erteilt habe. Es sei vielmehr zu vermuten, dass der Kläger seinen Vertreter unmittelbar zur Prozessführung bevollmächtigt habe. Dem ist die Klageseite auch in ihren weiteren Schriftsätzen nicht entgegengetreten. Dieser zweitinstanzliche Vortrag ist, weil unstreitig, zu berücksichtigen.
Erteilt der Mandant den unbedingten Auftrag, im gerichtlichen Verfahren tätig zu werden (vgl. Vorbemerkung 3 Abs. 1 Satz 1 VV RVG), lösen bereits Vorbereitungshandlungen gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVG die Gebühren für das gerichtliche Verfahren aus, und zwar auch dann, wenn der Anwalt zunächst nur außergerichtlich tätig wird. Für das Entstehen der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG ist dann kein Raum mehr (BGH, Urteile vom 15. August 2019 – III ZR 205/17, juris-Rn. 43 und vom 22.06.2021 – VI ZR 353/20, juris-Rn. 7), zumal es sich vorliegend gerichtsbekannt um Massenverfahren handelt, bei denen der Kontakt zwischen Anwalt und Mandant auf ein Minimum reduziert ist und seitens der Rechtsvertreter schematisch vorgegangen wird.
III.
Die Kostenentscheidung für die Berufungsinstanz beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO und bemisst sich nach dem Obsiegen und Unterliegen in dieser Instanz im Verhältnis zum Streitwert für die zweite Instanz von 11.446,02 €.
Die Kostenentscheidung erster Instanz, die ihrerseits auf § 92 Abs. 1 ZPO und – hinsichtlich des übereinstimmend für erledigt erklärten Betrages – auf § 91a ZPO beruht, war mit Blick auf die (teils hypothetische) höhere Obsiegensquote infolge der geänderten Bemessung der Nutzungsvorteile und mit Blick auf die zuerkannten Finanzierungskosten zu korrigieren. Danach hätte der Kläger bei Zustellung der Klage – vor Verkauf des Fahrzeugs und auf Basis des damaligen Kilometerstandes von 105.012 km und sich hieraus ergebender, anzurechnender Nutzungsvorteile von 11.520,60 € – mit 33.238,82 € (Nettokaufpreis von 41.132,77 € abzüglich Nutzungsvorteile in der genannten Höhe zuzüglich Finanzierungskosten von 3.626,65 €) aus einem vom Landgericht festgesetzten Streitwert von 42.561,94 € obsiegt.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711, § 713 ZPO.


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