Europarecht

Sittenwidrigkeit, Schadensersatzanspruch, Fahrzeug, Software, Feststellung, Nachweis, Rechtsfehler, Kilometerstand, Bewertung, Verordnung, Nutzung, sittenwidrig, Verwendung, Form, Einholung eines Gutachtens, Zeitpunkt der Entscheidung, billigend in Kauf

Aktenzeichen  36 U 141/22

Datum:
14.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 18809
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

72 O 856/21 Die 2021-12-03 Urt LGINGOLSTADT LG Ingolstadt

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 03.12.2021, Az. 72 O 856/21 Die, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Gründe

Dem Hinweis des Senats liegt folgender Sach- und Streitstand zugrunde:
Streitgegenständlich sind Ansprüche gegen die Beklagte als Herstellerin aus dem Kauf eines PKWs. Am 07.09.2016 erwarb der Kläger einen Audi A3 1.6 TDI 81 kw, FIN … , Erstzulassung 24.07.2015 von der Beklagten beim Kilometerstand 7.897 zum Preis von 19.111,33 EUR. Das Fahrzeug hat einen Motor der Baureihe EA 288 (Abgasnorm EU 6), welcher mit einem NOx-Speicher-Katalysator (NSK) ausgestattet ist. Die Entleerung des Speichers erfolgt im Prüfstand streckenbezogen. Aufgrund der Entleerung gegen Ende des Prüfzyklus ist sichergestellt, dass nach Durchführung der Präkonditionierung die Prüffahrt stets mit einem leeren Speicher beginnt.
Die EG-Typengenehmigung ist durch das zuständige Kraftfahrbundesamt (KBA) nicht widerrufen worden. Es gibt keinen Rückruf und kein verpflichtendes Software-Update. Nach Bekanntwerden des Diesel-Abgasskandals erfolgten Ermittlungen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) zum Motortyp EA189 und zum streitgegenständlichen Motortyp EA 288. Die Untersuchungen im Auftrag des KBA sind im Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des BM für Verkehr und digitale Infrastruktur (Anlage B 1) dargelegt. Hierauf wird Bezug genommen.
Die Klagepartei macht geltend, die Prüfstanderkennung bewirke, dass das Entleerungsintervall im NEFZ anders als im Straßenbetrieb gesteuert werde. Daraus folge eine schlechtere Emissionskontrolle auf der Straße bzw. eine Optimierung auf dem Prüfstand, nur hier werden die gesetzlichen Vorgaben erreicht. Hierfür bietet die Klagepartei Sachverständigenbeweis an.
Die Klagepartei trägt vor, die Beklagte habe das KBA getäuscht. Sie beruft sich darauf, die Funktionsweise der Prüfstanderkennung und der Steuerung des Entleerungsintervalls sei gegenüber dem KBA nicht offengelegt, auch nicht bei der Aufbereitung des Diesel-Abgasskandals in den Jahren 2015/2016. Die Beklagte habe gegenüber dem KBA vielmehr behauptet, dass die Software keinen Einfluss auf das Emissionsverhalten habe. Dabei folge aber bereits aus den eigenen Ausführungen der Beklagten zur Funktionsweise des NSK auf dem Prüfstand, dass die Fahrkurvenerkennung und die daran anknüpfende Bedatung auf dem Prüfstand sehr wohl einen solchen Einfluss auf das Emissionsverhalten habe. Ein solcher sei aber unzulässig. Dies gelte für jedwede Auswirkung auf die Abgasreinigung, auf eine Grenzwertkausalität komme es nicht an.
Die Klagepartei behauptet, das KBA habe in seinen Untersuchungen auf die Angaben der Beklagten vertrauen müssen. Die Ergebnisse seien daher nicht belastbar. Die Klagepartei vergleicht die Ergebnisse einzelner Messungen für bestimmte Fahrzeugtypen im Untersuchungsbericht untereinander und leitet hieraus die mangelnde Plausibilität der Ergebnisse ab. Außerdem sei das On-Board-Diagnosesystem manipuliert.
Die Beklagte beruft sich unter Bezugnahme auf den Untersuchungsbericht Volkswagen (Anlage B 1) darauf, die Messungen des KBA unter variierten Prüfbedingungen zeigten, dass die gesetzlich vorgegebenen Grenzwerte eingehalten werden, d.h. dass keine grenzwertkausale Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems gegen sei.
Streitig ist u.a., ob im streitgegenständlichen Fahrzeug eine sog. Fahrkurvenerkennung oder eine vergleichbare Prüfstanderkennung mit Präkonditionierung von Fahrkurve und Temperatur und einer Wege-Zeit-Sensierung verbaut ist. Die Beklagte räumt ein, dass dies bei manchen Fahrzeugen mit EA 288 Aggregaten der Fall war. Die Fahrkurvenerkennung bewirkte in diesen Fällen nach Vortrag der Beklagten, dass eine Regeneration des NSK zu genau definierten Zeitpunkten nach jeweils 5 km erfolgte und vor allem so, dass die Messung auf dem Prüfstand nach dem Durchfahren der Vorkonditionierung stets mit leerem Speicher begann.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Im Wesentlichen hat es ausgeführt, der Vortrag der Klagepartei zu einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie zu einem unzulässigen Thermofenster erfolge „ins Blaue hinein“, auch weil der Vorsatz der Beklagten nicht dargelegt sei. Insbesondere ließen sich aus der als Anlage K 5 vorgelegten Applikationsrichtlinie keine Schlüsse auf das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung ziehen. Der Vortrag der Klagepartei hierzu sei substanzlos und übersehe den Einwand, dass es darauf ankomme, ob die Zykluserkennung die Emissionswerte im normalen Betrieb beeinflusse. Aus einer möglichen Überschreitung der Grenzwerte auf der Straße könne nichts geschlossen werden, da gerichtsbekannt sie, dass die Emissionswerte im normalen Fahrbetrieb höher seien als im NEFZ-Prüfzyklus.
Das Landgericht lässt dahinstehen, ob das von der Klagepartei angeführte sog. Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung ist. Jedenfalls fehle es an dem Nachweis des Bewusstseins der Sittenwidrigkeit und damit des Vorsatzes bei der Beklagten.
Im Übrigen wird auf Tatbestand und Gründe des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen. Mit der Berufung verfolgt der Kläger seine auf Rückzahlung des Kaufpreises gerichtete Klage weiter. Auf die Berufungsbegründung und die weiteren Schriftsätze mit Anlagen wird Bezug genommen, desgleichen auf die Berufungserwiderung.
Das Urteil des Landgerichts erweist sich jedenfalls im Ergebnis als richtig. Es beruht weder auf einem Rechtsfehler (§ 546 ZPO) noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zu berücksichtigen Tatsachen eine andere Entscheidung, § 513 Abs. 1 ZPO.
1. Der Senat hat auf der Grundlage des Parteivortrages nicht die Überzeugung einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§§ 826, 31 BGB) durch die Beklagte gewonnen.
a) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BeckRS 2020, 10555, Rn. 15 m.w.N.). Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, welche die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH a.a.O.).
In dem vorstehend zitierten, grundlegenden Urteil zum Diesel-Abgasskandal vom 25.05.2020 (Az.: VI ZR 252/19, BeckRS 2020, 10555, Rn. 25) hat der Bundesgerichtshof die Sittenwidrigkeit damit begründet, dass der Fahrzeughersteller bei der Motorenentwicklung die strategische Entscheidung getroffen habe, die Typgenehmigung durch arglistige Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge sodann in den Verkehr zu bringen und dabei die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt auszunutzen. Ein solches Verhalten stehe einer bewussten arglistigen Täuschung derjenigen, die ein solches Fahrzeug erwerben, gleich.
Demgegenüber hält der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 19.01.2021 (Az. VI ZR 433/19, BeckRS 2021, 847, Rn. 17) fest, dass der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) nicht mit der Fallkonstellation zu vergleichen sei, die der grundlegenden Entscheidung vom 25.05.2020 zum VW-Motor EA189 zugrunde gelegen habe, bei der die Software bewusst und gewollt so programmiert gewesen sei, dass die gesetzlichen Abgaswerte nur auf dem Prüfstand, nicht aber im normalen Fahrbetrieb eingehalten würden (Umschaltlogik). Bei dem Einsatz eines Thermofensters fehle es an einem derartigen arglistigen Verhalten des beklagten Automobilherstellers, das die Qualifikation seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde. Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu dem – unterstellten – Verstoß gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setze jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (BGH, Urteil vom 13.01.2022 III ZR 205/20 BeckRS 2022, 3677, Rn. 22 f. m.w.N.).
b) Gemessen an diesen Grundsätzen ergibt sich im Streitfall Folgendes:
Soweit die Klagepartei das Vorhandensein mehrerer unzulässiger Abschalteinrichtungen an ihrem Fahrzeug behauptet und hierfür zum Beweis die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten hat, hat das Landgericht zu Recht von der Einholung eines Gutachtens abgesehen. Aus dem Vortrag der Klagepartei zu dem Vorliegen einer – bzw. mehrerer – unzulässigen Abschalteinrichtung lässt sich nicht der Schluss auf ein sittenwidriges Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen, insbesondere auf eine arglistige Täuschung oder einen bewussten Gesetzesverstoß ziehen. Die hier im Raume stehenden unzulässigen Abschalteinrichtungen sind nicht evident unzulässig und lassen nicht den Schluss auf ein Rechtswidrigkeitsbewusstsein der für die Beklagten handelnden Personen zu (BGH, Hinweisbeschluss vom 21.03.22 VIa ZR 334/21, BeckRS 2022, 10201 Rn. 22).
aa) Auf ein vorsätzlich sittenwidriges Verhalten kann nicht aus dem Vorbringen der Klagepartei zu einer angeblichen Manipulation des NOx-Speicherkatalysators – unter Verweis auf die sog. „Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA 288“ der Beklagten vom 18.11.2015 (vgl. Anlagen K 5 und Anlage B 07) – geschlossen werden (BGH, Hinweisbeschluss vom 21.03.2022, VIa ZR 334/21, BeckRS 2022, 10201 Rn. 20 ff.).
Die seitens der Beklagten angeführte technische Begründung für die Entscheidung, die Regenerationsphasen des NSK-Katalysators im NEFZ unter Nutzung der Fahrkurven ausschließlich streckengesteuert zu platzieren, um die Messung nicht davon abhängig zu machen, in welchem zufälligen Beladungszustand der Katalysator sich bei Beginn der Testfahrt befindet, erscheint jedenfalls nachvollziehbar. Die normative Ausgestaltung der standardisierten Fahrt im Prüfstand hatte jedenfalls auch zum Ziel, die Vergleichbarkeit der Messungen zwischen den verschiedenen Herstellern und Fahrzeugtypen zu garantieren (Erwägungsgrund 17 Verordnung (EG) 715/2007). Dem Ziel der Vergleichbarkeit und Vorhersehbarkeit der Messergebnisse diente nach dem Vortrag der Beklagten die Konfiguration der Entleerungsintervalle im Prüfstand. Es kann dahinstehen, ob dies nach der Verordnung (EG) 715/2007 zulässig ist. Da nach der Verordnung und den Durchführungsbestimmungen eine Vorkonditionierung der zu untersuchenden Fahrzeuge, die jedenfalls im Hinblick auf die Betriebstemperatur einen Ausgleich bewirken soll, vorgeschrieben ist (Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen Anlage B 1, S. 9, Durchführungsverordnung (EG) Nr. 792/2008, UN/ECE-Regelung Nr. 83), kann in der entsprechenden Vorkonditionierung auch im Hinblick auf andere Parameter (Beladungszustand des NOx-Katalysators) ein sittenwidriges Verhalten nicht erkannt werden.
Dafür spricht auch, dass es auf der Grundlage des Klägervortrages an belastbaren Anhaltspunkten dafür fehlt, dass das streitgegenständliche Fahrzeug ohne die von der Klagepartei beanstandete Funktion des Katalysators bei der NEFZ-Prüfung die gesetzlichen Grenzwerte nicht einhält. Soweit sich die Klagepartei auf Messungen im Straßenverkehr beruft, ist dies eben nicht der geeignete Vergleichsmaßstab. Die Emissionsgrenzwerte sind auf die Prüfung im NEFZ unter Einhaltung der konkreten Testvorgaben bezogen. Unter anderer Messumgebung muss es zwangsläufig zu anderen Messergebnissen kommen. Dies war dem europäischen Gesetzgeber ausweislich der Rechtsetzungsverfahren zur Änderung der für die Typengenehmigung erforderlichen Prüfverfahren auch bekannt (umfassend erläuternd insoweit: EuGH, Urteil vom 13.12.2019, Az. T-339/116, BeckRS 2018, 32925, Rn. 1 bis 18).
Des Weiteren lässt es der Umstand, dass das KBA trotz Offenlegung der ausschließlich streckengesteuerten Platzierung der Regenerationsphasen des NSK-Katalysators im NEFZ keinen verbindlichen Rückruf angeordnet, sondern nach umfassenden Überprüfungen das Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen bei dem Motor der Baureihe EA 288 verneint hat, als nicht ausschließbar erscheinen, dass auch die Verantwortlichen der Beklagten – soweit sie über diese Details überhaupt informiert waren, wozu jeglicher Vortrag fehlt – im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einbau in der Motorreihe von der Zulässigkeit einer solchen Funktion ausgingen.
So waren die Applikationsrichtlinien dem Kraftfahrtbundesamt (KBA) nach dem unbestritten gebliebenen Vortrag der Beklagten seit Ende 2015 bekannt und mit diesem abgestimmt, ohne dass deswegen ein Rückruf des Fahrzeugs durch das KBA angeordnet worden wäre. Vielmehr geht aus dem von der Beklagten vorgelegten Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ vom April 2016 hervor, dass sich Hinweise, nach denen die aktuell laufende Produktion der Fahrzeuge mit Motoren der Baureihe EA 288 (Euro 6) ebenfalls von Abgasmanipulationen betroffen sei, auf Grundlage der Überprüfungen des KBA nicht bestätigt haben (vgl. Anlage B 1, S. 12). Zudem hat das BMVI auf Pressemeldungen am 12.09.2019 nochmals per Twitter reagiert (vgl. Anlage B 2). Es hat hierzu mitgeteilt, dass die Vorwürfe nicht neu seien und das KBA bereits 2016 eigene Messungen, Untersuchungen & Analysen durchgeführt habe. Unzulässige Abschalteinrichtungen seien dabei NICHT festgestellt worden und zwar auch nicht in Gestalt einer unzulässigen Zykluserkennung. Dies wird auch durch die vom KBA in zahlreichen Parallelverfahren in den Jahren 2020 und 2021 erteilten Auskünfte zu Fahrzeugen mit Motoren der Reihe des EA 288 bekräftigt (vgl. Anlagen B 15, 18, 28, 37, 38, 40.). Darin verweist das KBA auf die von ihm durchgeführten, sehr umfassenden Untersuchungen an Fahrzeugen mit Motoren der Reihe EA 288, so z.B. im Rahmen der „Untersuchungskommission Volkswagen“, der freizugebenden Software-Updates für das Nationale Forum Diesel sowie im Rahmen spezifischer Feldüberwachungstätigkeiten. Bei keinem der untersuchten Fahrzeuge habe eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt werden können.
bb) Für die behauptete sittenwidrige Manipulation der Abgasrückführung in Form einer unzulässigen Fahrkurven- bzw. Zykluserkennung fehlen ebenfalls greifbare Anhaltspunkte.
Insbesondere stellen die von der Klagepartei als Indiz für eine Prüfstanderkennung und damit verbundene illegale Eingriffe in die Motorsteuerungssoftware vorgetragenen Messergebnisse keine hinreichenden Anhaltspunkte dar. Der Hinweis auf Diskrepanzen zwischen Stickoxidemissionen unter Prüfstandbedingungen, die im Jahr 2015 zur Erlangung der Typgenehmigung für das der Euro-6-Norm unterfallende streitgegenständliche Fahrzeug noch allein maßgeblich waren, und unter normalen Betriebsbedingungen auf der Straße genügt nicht (vgl. zu einem der Euro-5-Norm unterfallenden Fahrzeug BGH, Urteil vom 13.07.2021 -VI ZR 128/20, BeckRS 21371, Rn. 23). Dies gilt vor allem auch für die von der Klagepartei angeführten Messungen der Deutschen Umwelthilfe, die jeweils unter nicht nachprüfbaren Bedingungen auf der Straße stattgefunden haben.
Das – bestrittene – Vorhandensein einer Fahrkurvenerkennung genügt als greifbarer Anhaltspunkt nicht, solange die Funktion nicht als Abschalteinrichtung gemäß Art. 3 Abs. 10 der Verordnung (EG) 715/2007 genutzt wird. Die Fahrkurvenerkennung, die dem KBA seit Ende 2015 bekannt war, hatte – anders als beim Vorgängermotor EA 189 – keinen Rückruf durch das KBA zur Folge. Das KBA verweist insoweit im Rahmen mehrerer der in Parallelverfahren erteilten Auskünfte (vgl. z.B. Anlagen B 15, B 18) darauf, dass der bloße Verbau einer Prüfstand- bzw. Fahrkurvenerkennung nicht als unzulässig beurteilt werde. Prüfungen im KBA hätten gezeigt, dass auch bei Deaktivierung der Funktion die Grenzwerte in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen nicht überschritten würden. Den für die Beklagte handelnden Personen kann – auch angesichts der eindeutigen Positionierung des KBA gerade zur Frage der Grenzwertrelevanz – nicht unterstellt werden, dass sie in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden oder dass sie Emissionen gezielt auf dem Prüfstand hätten manipulieren wollen.
cc) Soweit die Klagepartei geltend macht, dass die unstreitig vorhandene temperaturgesteuerte Abgasrückführung (Thermofenster) – die ihrem Vortrag zufolge eine Reduzierung bzw. Abschaltung der Abgasrückführung in Abhängigkeit von der Außentemperatur (ca. unter 20 °C und über 30 °C) bewirkt), nach Vortrag der Beklagten hingegen nur in einem Temperaturbereich von unter -24 °C und über +70 °C aktiv sei – eine unzulässige Abschalteinrichtung darstelle, rechtfertigt dies den Vorwurf der Sittenwidrigkeit ebenfalls nicht.
Wie oben (vgl. Ziff.1a) dargelegt, reicht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Einsatz eines Thermofensters – dessen Unzulässigkeit unterstellt – für sich genommen nicht aus, um einen Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB zu begründen. Anhaltspunkte dafür, dass die für die Beklagte handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung des Thermofensters in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen, zeigt die Klagepartei auch in der Berufungsbegründung nicht auf.
Gegen ein besonders verwerfliches Verhalten der Beklagten spricht, dass die Rechtslage bei der Beurteilung der Zulässigkeit des von allen Herstellern eingesetzten Thermofensters angesichts der kontrovers geführten Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz2aVO (EG) Nr. 715/2007 als unsicher anzusehen ist und dass auch das KBA nach umfassenden Überprüfungen den Motor nicht beanstandet hat.
Ob die rechtliche Einschätzung des KBA hinsichtlich der Zulässigkeit bestimmter Funktionen im Ergebnis tatsächlich zutrifft, ist dabei nicht relevant, weil es vorliegend lediglich auf die Frage ankommt, ob die nicht ausschließbare Möglichkeit bestand, dass die Verantwortlichen der Beklagten – so sie von der jeweiligen Funktion wussten – von der Zulässigkeit der Funktion ausgegangen sein könnten. Dies kann bei einer entsprechenden Positionierung des KBA jedenfalls nicht ausgeschlossen werden.
Auch in dem Bericht der vom Bundesverkehrsministerium eingesetzten Untersuchungskommission Volkswagen ist von der Unschärfe dieser Ausnahmevorschrift die Rede, die auch weite Interpretationen zulasse (Anlage B 1, S. 123). Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage genügt aber für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten – ebenso wie für den erforderlichen Schädigungsvorsatz – nicht (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, BeckRS 2020, 10555, Rn. 62). Die vom EuGH nunmehr mit Urteil vom 17.12.2020 (Rechtssache C-693/18, NJW 2021, 1216) vorgenommene Auslegung der vorgenannten Vorschrift vermag an einer zum damaligen Zeitpunkt jedenfalls vertretbaren Einschätzung der Beklagten nichts zu ändern.
dd) Der Senat hat auch die weiteren Argumente der Klagepartei erwogen.
Beim OBD-System handelt es sich um ein Fahrzeugdiagnosesystem und damit bereits begrifflich nicht um eine Abschalteinrichtung.
Die Sittenwidrigkeit folgt auch nicht aus der Summe der beanstandeten Maßnahmen. Wenn die Beklagte jede einzelne Maßnahme nicht ausschließbar für zulässig gehalten haben kann, besteht keine Veranlassung anzunehmen, dass sie mehrere aus ihrer Sicht zulässige Maßnahmen insgesamt für unzulässig gehalten haben muss.
c) Auch bei einer abschließenden Würdigung des klägerischen Vortrags zu den technischen Einrichtungen des streitgegenständlichen Motors, den Zielen und dem Verhalten der Beklagten kann nicht zur Überzeugung des Senats der Schluss gezogen werden, dass die Verantwortlichen der Beklagten bei dem Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Motors eine rücksichtslose, die Folgen für die Umwelt und die Kunden ignorierende Gesinnung gezeigt haben.
2. Ein Anspruch der Klagepartei aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB scheitert bereits daran, dass es an der in diesem Zusammenhang erforderlichen Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden fehlt (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020 -VI ZR 5/20, BeckRS 2020, 19146, Rn. 18 ff.).
3. Ein Anspruch aus§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV steht der Klagepartei nicht zu, da der von ihr geltend gemachte Schaden nicht in den Schutzbereich der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV fällt (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 -VI ZR 252/19, BeckRS 2020, 10555, Rn. 72 ff.; Urteil vom 30.07.2020 -VI ZR 5/20, BeckRS 2020, 19146, Rn. 10 ff.).
Das Verfahren war nicht im Hinblick auf das Vorabentscheidungsverfahren des LG Ravensburg in der Rechtssache C-100/21 analog § 148 ZPO auszusetzen. Der BGH weist in ständiger Rechtsprechung darauf hin, dass nur die nationalen Gerichte berufen und in der Lage sind, die betreffenden EU-Vorschriften unter das Konzept einer drittschützenden Norm zu subsumieren (BGH, Beschluss vom 04.05.2022, VII ZR 565/21 BeckRS 2022, 11994, Rn. 3; BGH, Beschluss vom 22.04.2022, VII ZR 720/21, BeckRS 2022, 12628, Rn. 13). Die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 (abrufbar unter https://curia.europa.eu) geben keinen Anlass zu einer abweichenden Bewertung. Der Generalanwalt bestätigt dort zunächst, dass Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht unmittelbar die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Aschalteinrichtung ausgestattet ist, schützen soll. Allerdings sei dies im Kontext mit der RL 2007/46 zu sehen die einen Rahmen für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen schaffe und einen Basisrechtsakt darstelle. Dies Richtlinie schütze auch die Interessen eines Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Hierfür bedarf es nach den Darlegungen des Generalanwalts jedoch weiterer Voraussetzungen, insbesondere fehlender Offenlegung oder Täuschung der Genehmigungsbehörde.
Zwar behauptet die Klagepartei eine solche Täuschung. Wie dargelegt lässt sich aus dem Vortrag und den in Bezug genommenen Dokumenten aber gerade nicht darauf schließen, dass das KBA die maßgeblichen Umstände nicht kannte bzw. dass in Kenntnis weiterer Details keine Typengenehmigung erteilt worden wäre. Der Umstand, dass keine Rückrufe angeordnet wurden, spricht vielmehr dagegen.
Da bereits die Tatbestandsvoraussetzungen, wie sie der Generalanwalt benennt, nicht gegeben sind, kann hier dahinstehen, ob die Annahme, des Generalanwalts, die Verordnung schütze auch ein individuelles „Interesse“ einen dem Konzept des § 823 Abs. 2 BGB entsprechenden Drittschutz begründen könnte.
4. Ein Anspruch aus § 831 BGB scheidet ebenfalls aus, da eine unerlaubte Handlung eines Verrichtungsgehilfen nicht nachgewiesen ist.


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