Europarecht

Speiseeis, Lebensmittelrechtliche Untersagung, 2-Chlorethanol, Ethylenoxid, Vorsorgeprinzip, Risikoanalyse und Risikomanagement

Aktenzeichen  20 CS 22.530

Datum:
25.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8512
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BasisVO Art. 7
EUV 2017/625 Art. 138 Abs. 1 Buchst b)
EUV 2017/625 Art. 138 Abs. 2 Buchst d)
EGV 178/2002 Art. 14 Abs. 2 Buchst a), Art. 14 Abs. 2 Buchst b)
VO (EG) Nr. 1333/2008 Art. 5 i.V.m. Art. 14 in Verbindung mit Anhang der VO (EU) Nr. 231/2012

 

Leitsatz

1. Eine lebensmittelrechtliche Verbotsverfügung als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist von der Lebensmittelbehörde während ihres gesamten Geltungszeitraums darauf zu überprüfen, ob und inwieweit ihre gesetzlichen Voraussetzungen noch vorliegen.
2. Besteht die Möglichkeit der Gesundheitsschädlichkeit eines Lebensmittels, entbindet dieser Umstand die zuständige Behörde nicht davon, ihren Handlungsspielraum im Rahmen ihrer Risikomanagemententscheidung wahrzunehmen.

Verfahrensgang

M 26a S 21.6633 2022-02-03 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 3. Februar 2022 wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Landratsamtes Bad Tölz-Wolfratshausen vom 16. Dezember 2021 wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 291.276,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Gegenstand des Verfahrens ist die Untersagung des Inverkehrbringens und die Sperrung von Speiseeisprodukten der Antragstellerin, in denen mit 2-Chlorethanol belastetes Johannisbrotkernmehl bestimmter Chargen verarbeitet wurde. 2-Chlorethanol ist das Hauptabbauprodukt von Ethylenoxid. Ethylenoxid ist ein erbgutverändernder und krebserzeugender Stoff.
Mit Bescheid vom 16. Dezember 2021 wurde der Antragstellerin das Inverkehrbringen der Speiseeisprodukte „A…eis nach italienischer Art mit hochwertiger Bourbon-Vanille aus Madagaskar, frischer Vollmilch und frischer Schlagsahne“, „B…eis nach italienischer Art mit Edelkakao und frischer Vollmilch“, „C… nach italienischer Art“ und „D…Eis nach italienischer Art mit frischem Joghurt und Blütenhonig“ (nicht ausgeliefert, gesperrt im Lager des Herstellers), für deren Herstellung Johannisbrotkernmehl der Firma A…, H1. straße …, A… mit den Chargen Charge/Lot A…, Charge/Lot B…, Charge/Lot C…, Charge/Lot D…, Charge/Lot E…und Charge/Lot F… verwendet wurde, untersagt und aufgegeben, die noch auf Lager befindliche Ware zu sperren (Nr. 1). Die sofortige Vollziehung der Ziffer 1 wurde angeordnet (Nr. 2). Für den Fall des Inverkehrbringens der betroffenen Produkte wurde jeweils ein Zwangsgeld in Höhe von 10.000,00 EUR angedroht (Nr. 3).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Anordnung in Nr. 1 (Untersagung des Inverkehrbringens und Sperrung der noch im Lager befindlichen Ware) werde auf Art. 138 Abs. 1 Buchst. b), Abs. 2 Buchst. d) KontrollVO i.V.m. § 39 Abs. 1 LFGB i.V.m. Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. a) BasisVO gestützt, hilfsweise nur für den Fall, dass die genannten Vorschriften als Rechtsgrundlage für den Bescheid ausscheiden sollten, auf Art. 138 Abs. 1 Buchst. b), Abs. 2 Buchst. d) KontrollVO i.V.m. § 39 Abs. 1 LFGB i.V.m. Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. b) BasisVO, weiter hilfsweise nur für den Fall, dass die erstgenannten Vorschriften als Rechtsgrundlage für den Bescheid ausscheiden sollten, auf Art. 5 i.V.m. Art. 14 der VO (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über Lebensmittelzusatzstoffe (Abl. L 354 vom 31.12.2008, S. 16) – ZusatzstoffVO – i.V.m. Anhang der VO (EU) Nr. 231/2012, erster Satz, der Kommission vom 9. März 2012 mit Spezifikationen für die in den Anhängen II und III der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates aufgeführten Lebensmittelzusatzstoffe (Abl. L 83 vom 22. März 2012, S. 1). Unabhängig von der Ursache und dem Grad der Belastung der betroffenen Produkte Speiseeis mit 2-Chlorethanol seien sie schon allein deswegen als gesundheitsschädlich zu beurteilen, weil sie überhaupt 2-Chlorethanol enthielten. Dies entspreche der aktualisierten Stellungnahme Nummer 024/2021 des Bundesamts für Risikobewertung (BfR) vom 1. September 2021. Hierin stelle das BfR fest, dass für 2-Chlorethanol auf Basis der ihm vorliegenden Daten eine sichere Aufnahmemenge ohne gesundheitliche Risiken für Verbraucher nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit abgeleitet werden könnte. Dies führe das BfR insbesondere auf die Genotoxizität und Kanzerogenität von 2-Chlorethanol zurück. Zweifel an dieser Einschätzung des BfR, die den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft darstellten, bestünden nicht. Die betroffenen Produkte seien aber auch dann gesundheitsschädlich, wenn man hierfür das Überschreiten eines bestimmten Schwellenwertes fordere. Dem zugrunde liege ebenfalls die aktualisierte Stellungnahme des BfR zur gesundheitlichen Bewertung von Ethylenoxid-Rückständen in Sesamsamen. In dieser leite das BfR eine Aufnahmemenge geringer Besorgnis von 0,037 Nanogramm je Kilogramm Körpergewicht und Tag ab. Dieser Schwellenwert entspreche dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand und werde bei den angewendeten durchschnittlichen Verzehrmengen von Erwachsenen und Kindern überschritten. Damit seien die beanstandeten Produkte nicht sicher. Die Maßnahme sei auch verhältnismäßig. Sie sei dafür geeignet, dass der Verbraucher nicht mehr mit den gesundheitsschädlichen Lebensmitteln in Kontakt komme. Die Maßnahme sei auch erforderlich. Als Handlungsalternativen bestünden nur zwei Möglichkeiten: Entweder das betroffene Produkt werde in den Verkehr gebracht oder nicht. Das Inverkehrbringen wäre zwar ein milderes, aber eben nicht gleich geeignetes Mittel. Es könne aber nicht hingenommen werden, den Verbraucher einem unzumutbaren Gesundheitsrisiko auszusetzen. Die Untersagung des Inverkehrbringens sei auch angemessen. Der Gesichtspunkt der Lebensmittelverschwendung müsse hinter dem Gesundheitsschutz der Bürger zurücktreten. Das betroffene Speiseeis sei auch für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet. Bei Kenntnis des Verbrauchers von der Gesundheitsschädlichkeit des Produktes sei davon auszugehen, dass er das Speiseeis nicht verzehren würde. Bereits deshalb sei der Verzehr des Speiseeises für den Menschen nicht geeignet.
Hilfsweise werde der Bescheid auch auf Art. 5. i.V.m. Art. 14 der VO (EG) Nr. 1333/2008 in Verbindung mit Anhang der VO (EU) Nr. 231/2012 gestützt. Danach dürfe niemand einen Lebensmittelzusatzstoff oder ein Lebensmittel, in dem ein Lebensmittelzusatzstoff vorhanden sei, in Verkehr bringen, wenn die Verwendung des Lebensmittelzusatzstoffs nicht mit der VO (EG) Nr. 1333/2008 in Einklang stehe. Es bestehe der Verdacht, dass Ethylenoxid bei der Sterilisierung eingesetzt worden sei. Soweit der Bescheid auf Rechtsgrundlagen gestützt werde, welche nicht von Gesetzes wegen sofort vollziehbar seien, werde die Untersagung für sofort vollziehbar erklärt. Dies sei schon deswegen erforderlich, weil die Produkte gesundheitsschädlich seien.
Den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat das Verwaltungsgericht abgelehnt. Rechtsgrundlage für die Anordnungen in Nr. 1 des Bescheides sei Art. 138 Abs. 1 Buchst. b) und Abs. 2 Buchst. d) KontrollVO. Der Vertrieb des streitgegenständlichen Speiseeises verstoße gegen den lebensmittelrechtlichen Verbotstatbestand des Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a) BasisVO, wonach Lebensmittel, die nicht sicher sind, nicht in den Verkehr gebracht werden dürften und Lebensmittel als nicht sicher gelten, wenn davon auszugehen sei, dass sie gesundheitsschädlich seien. Der Begriff „gesundheitsschädlich“ sei in der BasisVO nicht definiert. Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) BasisVO regele, wann Lebensmittel als nicht sicher „gelten“ und nenne als weitere Voraussetzungen lediglich, dass „davon auszugehen“ sein müsse, dass einer der nachfolgenden Tatbestände der nicht sicheren Lebensmittel zur Anwendung komme. Mit der Wortwahl berücksichtige der Gesetzgeber, dass bei gesundheitsschädlichen Lebensmitteln i.S.v. Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) BasisVO kein eindeutiger Nachweis dafür vorliegen müsse, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen vorlägen. Denn bei der wissenschaftlichen Bewertung auf der Grundlage einer Risikoanalyse gemäß Art. 6 Abs. 2 BasisVO und der sich daran anschließenden Risikomanagemententscheidung gemäß Art. 6 Abs. 3 BasisVO könne nicht immer vollständige Gewissheit darüber gewonnen werden, ob der Verzehr eines Lebensmittels tatsächlich gesundheitsschädlich sei.
Der aktualisierten Stellungnahme des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) vom 1. September 2021 zufolge sei Ethylenoxid erbgutverändernd und krebserzeugend. Einen Richtwert ohne Gesundheitsrisiko gebe es somit nicht, und Rückstände des Stoffes in Lebensmitteln seien grundsätzlich unerwünscht. Auf Grundlage der Methode „large assessment factor approach“ der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) habe das BfR für Ethylenoxid eine sogenannte „Aufnahmemenge geringer Besorgnis“ in Höhe von 0,037 Mikrogramm je Kilogramm Körpergewicht und Tag (µg/kg KG/Tag) berechnet. Diese diene dem Risikomanagement grundsätzlich als eine Hilfestellung bei der Priorisierung der Risikominderungsmaßnahmen von Substanzen in Hinblick auf Umfang und Dringlichkeit. Sowohl die EFSA (2005) als auch das BfR (2005, 2020) hätten übereinstimmend herausgestellt, dass für genotoxische Kanzerogene ohne Schwellenwert die Ableitung eines gesundheitsbasierten Referenzwertes ohne Gesundheitsrisiko nicht möglich sei. Daher empfehle die Risikobewertung dem Risikomanagement eine umfassende Minderung solcher Stoffe in Lebensmitteln und Verbraucherprodukten gemäß dem ALARA-Prinzip („as low as reasonably achievable“). Lebensmittel mit entsprechenden Rückständen oberhalb der Bestimmungsgrenze bzw. des verbindlich festgelegten Rückstandshöchstgehaltes sollten auch bei Feststellung eines „low level of concern“ grundsätzlich nicht verkehrsfähig sein. Bei lebenslanger Aufnahme einer solchen Menge sei es unwahrscheinlich, dass das zusätzliche Risiko, an Krebs zu erkranken, ca. 1:100.000 übersteige. Dieser Ansatz solle jedoch keinesfalls als Grundlage zur Feststellung der Verkehrsfähigkeit von Lebensmitteln mit Ethylenoxid-Rückständen durch die Länderbehörden herangezogen werden oder zu einer generellen Abkehr vom Minimierungsgebot für genotoxische Kanzerogene ohne Schwellenwert führen. Bezüglich 2-Chlorethanol sei der Bewertung des BfR zufolge die Datenlage widersprüchlich und teilweise unvollständig. Zu den kanzerogenen Eigenschaften von 2-Chlorethanol könne auf Basis der derzeit vorliegenden Informationen keine sichere Aussage getroffen werden. Für eine genotoxische Aktivität gebe es – aus in vitro-Genotoxizitätsstudien – zahlreiche Hinweise, die Existenz eines möglichen Schwellenwertes und die in-vivo-Relevanz seien noch nicht abschließend geklärt. Die in-vivo-Daten zur Genotoxizität von 2-Chlorethanol seien nicht geeignet, die genotoxischen Befunde in vitro vollständig zu wiederlegen. Gemäß den für Pflanzenschutzmittel einschließlich Vorratsschutzmittel anzuwendenden Maßstäben der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 sowie nachgeordneter Regelungen könne für 2-Chlorethanol auf Basis der vorliegenden Daten daher eine sichere Aufnahmemenge ohne gesundheitliche Risiken für Verbraucherinnen und Verbraucher nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit abgeleitet werden. Es gebe jedoch derzeit keine Hinweise, dass 2-Chlorethanol eine höhere Toxizität als Ethylenoxid aufweise. Aus toxikologischer Sicht sollte die Risikobewertung von 2-Chlorethanol auf Basis der derzeit vorliegenden Daten daher wie die von Ethylenoxid erfolgen, um einen höchstmöglichen gesundheitlichen Schutz zu gewährleisten und Unterschätzungen vorzubeugen.
Angesichts des dargelegten Maßstabs und unter Zugrundelegung der Bewertung des BfR gehe das Gericht mit dem Antragsgegner davon aus, dass von einer Gesundheitsschädlichkeit des betroffenen Speiseeises auszugehen sei. Mit Ausnahme des Verzehrs des D…Eises durch erwachsene Normalverzehrer sei die vom BfR zugrunde gelegte Aufnahmemenge von geringer Besorgnis mit 0,037 µg/kg Körpergewicht überschritten. Dies gelte unabhängig davon, ob man, wie der Antragsgegner, der insoweit der Auffassung des BfR folge, auf den Summenparameter von Ethylenoxid und 2-Chlorethanol abstelle oder, wie von der Antragstellerin vertreten, allein auf den Gehalt von 2-Chlorethanol, da die im Eis analysierten Befunde von 2-Chlorethanol im Vergleich zum Summenparameter, wie im von der Antragstellerin vorgelegten Gutachten vom 23. Juli 2021 dort unter Ziffer III.3. aufgeführt, sogar noch höher seien (A…Eis: 0,11 mg/kg CE gegenüber 0,060 mg/kg ETOSumme, B…Eis: 0,091 mg/kg CE gegenüber 0,050 mg/kg ETOSumme, C…Eis: 0,10 mg/kg CE gegenüber 0,055 mg/kg ETOSumme und D…Eis: 0,058 mg/kg CE gegenüber 0,032 mg/kg ETOSumme).
Im Hinblick auf die normalen Bedingungen der Verwendung des Speiseeises im Sinne von Art. 14 Abs. 3 Buchst. a) BasisVO gehe das Gericht – wie dies auch von der Antragstellerin und dem Antragsgegner übereinstimmend zugrunde gelegt worden sei – von einer (täglichen) normalen Verzehrmenge von 74 g Eis für Erwachsene bzw. 42 g Eis für Kinder und der Verzehrmenge für Vielverzehrer von 252 g Eis für Erwachsene bzw. 152 g für Kinder aus.
Wie vom Antragsgegner in seinem Bescheid vom 16. Dezember 2021 zutreffend dargelegt, werde nur bei einem erwachsenen Normalverzehrer durch den Verzehr des D.…Eises der vom BfR angenommene Schwellenwert geringer Besorgnis von 0,037 µg/kg KG, wenn auch nur in sehr geringfügigen Umfang um 0,003 µg, nicht überschritten. Soweit man nicht vom Ethylenoxidwert als Summenparameter, sondern allein vom 2-Chlorethanolwert ausgehen sollte, wären die jeweiligen Werte in µg pro Kilogramm Körpergewicht und Tag sogar noch höher, da jener den Ethylenoxidsummenwert übersteige. Soweit von der Antragstellerin, wie im Gutachten der Sachverständigen vom 23. Juli 2021 ausgeführt, als Schwellenwert für die orale Aufnahme von 2-Chlorethanol, basierend auf einer Tierstudie mit Ratten der US EPA aus dem Jahr 2020, der Wert von 0,824 mg/kg Körpergewicht pro Tag „auch als provisorischer Wert für eine akute Exposition“ angenommen werde, folge das Gericht dieser Annahme nicht, da bei der Beurteilung der Gesundheitsschädlichkeit i.S.v. Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) i.V.m. Abs. 4 Buchst. a) BasisVO nicht nur die wahrscheinlichen sofortigen und/oder kurzfristigen, sondern auch die langfristigen Auswirkungen des Lebensmittels auf die Gesundheit der Verbraucher und der nachfolgenden Generationen zu berücksichtigen seien. Vor dem Hintergrund, dass in der Stellungnahme des BfR vom 1. September 2021 eine mutagene Aktivität des 2-Chlorethanol insgesamt als plausibel betrachtet werde, und angesichts dessen, dass der Begriff gesundheitsschädlich in Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) BasisVO zugunsten des Verbraucherschutzes weit auszulegen sei, folge das Gericht dem vom BfR angenommenen Schwellenwert von 0,037 µg/kg KG. Dabei messe das Gericht dem BfR, das bei seinen wissenschaftlichen Bewertungen und Forschungen nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR) im Wesentlichen weisungsunabhängig sei und das insoweit die Risikobewertung in einer unabhängigen, objektiven und transparenten Art und Weise im Sinne von Art. 6 Abs. 2 BasisVO vornehme, eine besondere Autorität bei, deren vorliegend herangezogene Bewertung von dem von der Antragstellerin in Auftrag gegebenen Gutachten vom 23. Juli 2021 zumindest nicht entkräftet worden sei.
Ob aufgrund der Stellungnahme des BfR vom 1. September 2021 davon auszugehen sei, dass allein das Vorhandensein von 2-Chlorethanol in dem streitgegenständlichen Speiseeis, ohne dass es auf eine bestimmte Menge an 2-Chlorethanol ankomme, dazu führe, dieses als gesundheitsschädlich und damit nicht verkehrsfähig zu betrachten, bedürfe vorliegend angesichts der Überschreitung des Schwellenwertes geringerer Besorgnis keiner Entscheidung.
Selbst wenn die Erfolgsaussichten der Klage als offen anzusehen wären, würde im Rahmen der Folgenabwägung das Vollzugsinteresse des Antragsgegners das Suspensivinteresse der Antragstellerin überwiegen. Aufgrund der Gesundheitsschädlichkeit der Speiseeissorten würden die Folgen, die im Falle der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage für die Verbraucher durch den Verzehr des Speiseeises entstehen, die Beeinträchtigungen der Antragstellerin in finanzieller Hinsicht überwiegen. Dafür spreche auch die gesetzgeberische Wertung, dass Anordnungen, die der Durchführung von Verboten nach Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. a) BasisVO ergingen, nach § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB kraft Gesetzes sofort vollziehbar seien.
Erweise sich die Untersagung damit voraussichtlich als rechtmäßig, komme es auf die im Übrigen geltend gemachten Gründe nicht mehr an.
Mit ihrer Beschwerde beantragt die Antragstellerin,
unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 3. Februar 2022, Az. M 26a S 21.6633, wird die aufschiebende Wirkung der Klage vom 23. Dezember 2021 gegen den Bescheid vom 16. Dezember, Az. 72-514-1/FF2-Fu2, soweit sich dieser auf die Rechtsgrundlage des Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a) der VO (EG) 1 78/2002 stützt, angeordnet, im Übrigen wiederhergestellt; hilfsweise wird die sofortige Vollziehung aufgehoben.
Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, die von der Untersagung betroffenen Produkte umfassten die gesamte, bis Jahresende 2021 geplante Auslieferungsmenge. Das streitgegenständliche Verbot des Inverkehrbringens habe dazu geführt, dass die Antragstellerin erhebliche wirtschaftliche Einbußen habe hinnehmen müssen (wird ausgeführt). Der Antragsgegner habe die Gesundheitsschädlichkeit der streitgegenständlichen Produkte nicht nachvollziehbar anhand der speziellen Sicherheitskriterien gem. Art. 14 Abs. 4 BasisVO dargelegt. Im Vergleich zu Ethylenoxid könne zwar auch 2-Chlorethanol oral akut toxisch sein. Die potentielle Kanzerogenität von 2-Chlorethanol werde in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Laut dem BfR gebe es für 2-Chlorethanol Hinweise für eine erbgutverändernde Wirkung, zudem sei eine krebserzeugende Wirkung aufgrund unzureichender Datenlage nicht ausschließbar. Aus Vorsorgegründen empfehle das BfR die Anwendung der,,Aufnahmemenge geringer Besorgnis“ für Ethylenoxid auch für die Summe beider Stoffe. Das BfR bestätige seine eben dargestellte Herangehensweise in zwei aktualisierten Stellungnahmen (20. Juli 2021 und 1. September 2021) und führe darin aus, dass bis zu einer abschließenden Klärung 2-Chlorethanol toxikologisch mit Ethylenoxid gleichgestellt und daher ebenfalls eine,,Aufnahmemenge geringer Besorgnis“ von 0,037 µg je kg Körpergewicht und Tag angewendet werden sollte. Diese Empfehlung erfolge jedoch aus Vorsorgegründen und nicht – wie der Antragsgegner – behaupte, aufgrund des gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes. Wie sich aus den nachvollziehbaren Ausführungen von der Sachverständigen Dr. O. ergebe, bewegten sich die realistischen Aufnahmemengen von 2-Chlorethanol weit unterhalb des Referenzwertes von 0,824 mg/kg KG, wobei eine durchschnittliche Verzehrmenge (74 g Eis für Erwachsene und 42 g Eis für Kinder) berücksichtigt werde.
Diverse weitere wissenschaftliche Institutionen, wie beispielsweise die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe (MAK-Kommission), das niederländische RVIM oder die Umweltschutzbehörde der USA (US EPA), beurteilten 2-Chlorethanol ausdrücklich als nicht genotoxisch oder kanzerogen. Die US EPA habe bei ihrer Bewertung im Jahre 2020 den aus einer Tierstudie an Ratten etablierten NOAEL von 82,4 mg/kg KG als Referenzwert herangezogen. Daraus leitete die EPA unter Berücksichtigung eines Sicherheitsfaktors von 100 eine chronic population adjusted dose (cPAD) von 0,824 mg/kg KG ab. Dieser Wert sei auch für eine akute Exposition ausgewählt worden. Der Wert von 0,824 mg/kg KG pro Tag könne daher auch als provisorischer Referenzwert für eine kurzfristige Aufnahme dienen. Das heißt, dass erst ab einer Dosis oberhalb dieses Wertes mit toxischen Effekten zu rechnen sei. Diese von der EPA abgeleitete cPAD stelle auch die wissenschaftliche Basis für den Höchstgehalt von 2-Chlorethanol in den USA und Kanada dar, der für die meisten Lebensmittel bei 940 mg/kg liege. Für Ethylenoxid und 2-Chlorethanol gelten in den USA und Kanada somit getrennte Höchstgehalte. Hiermit setze sich weder der Antragsgegner noch das Erstgericht auseinander. Die Bedenken des BfR seien rein hypothetischer und abstrakter Natur; ein plausibles Gesundheitsrisiko bestehe nicht. Zudem werde dem BfR mit dieser Herangehensweise eine Position zugeschrieben, die ihm nach der Systematik der BasisVO nicht zukomme. Die Risikobewertung folge den Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 BasisVO, die betreffende Vorschrift sei für den deutschen Gesetzgeber und somit auch das BfR verbindlich (EuGH, C- 282/15, Queisser Pharma Rn. 47 ff.) Das Vorsorgeprinzip sei hingegen vom Risikomanager gemäß Art. 6 Abs. 3 BasisVO in seine Entscheidung einzustellen. Die im streitgegenständlichen Bescheid angeordnete Maßnahme sei auch unverhältnismäßig.
Die EFSA (European Food Safety Authority) habe in ihrer Stellungnahme vom 28. Januar 2022 die Einschätzung des BfR nicht bestätigt, sondern es für notwendig erachtet, eine umfassende Bewertung der Sachlage (inklusive vollständiger Bewertung der Literatur und Bewertung neuer Daten, die bisher noch nicht berücksichtigt werden konnten, sowie Genotoxizitätstests (insbesondere Ames-Test und in vitro Mikrokerntest)) nach den neusten Standards der OECD (Organisation For Economic Cooperation and Development“, https://www.oecd.org) Test Guidelines durchzuführen. Der Antragsgegner habe somit streitgegenständlich eklatant gegen das Vorsorgeprinzip des Art. 7 BasisVO verstoßen. Gem. Art. 4 Abs. 2 BasisVO seien die allgemeinen Grundsätze des Art. 6 und 7 BasisVO bei allen zu treffenden Maßnahmen strikt zu beachten (vgl. EuGH, C-282/15 Queisser Pharma). Der Antragsgegner habe diesen anzuwendenden Maßstab seiner streitgegenständlichen Entscheidung jedoch gerade nicht zugrunde gelegt. Wie sich aus der EFSA-Stellungnahme ergebe, müsste zunächst das genotoxische Potenzial von 2-Chlorethanol geklärt werden. Zu diesem Zweck empfehle die EFSA, einen neuen In-vitro-Genmutationstest („Ames-Test“ oder auch „Bacterial Reverse Mutation Test“) und einen In-vitro-Mikrokern-Test durchzuführen. Darüber hinaus empfehle die EFSA, eine umfassende Bewertung zur Vervollständigung der aktuellen Stellungnahme des BfR durchzuführen, einschließlich einer Literaturübersicht und der Bewertung neuer Daten. Die von der EFSA empfohlenen Tests seien Standardverfahren zur Einschätzung des genotoxischen Potentials einer Substanz, die problemlos innerhalb von 3 Monaten durchgeführt werden könnten. Eine rein hypothetische Betrachtung des Risikos – wie hier durch den Antragsgegner vorgenommen -, die auf wissenschaftlich noch nicht verifizierte bloße Vermutungen gestützt sei, genüge gerade nicht.
Auch die hilfsweise herangezogene Rechtsgrundlage Art. 138 Abs. 1 Buchst. b), Abs. 2 Buchst. d) der VO (EU) 2017/625 i.V.m. § 39 Abs. 1 LFGB i.V.m. Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. b) BasisVO könne nicht zur Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Anordnung verhelfen. Die Begründung des Antragsgegners genüge ohnehin den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO nicht.
Das Inverkehrbringensverbot könne auch nicht auf Art. 5 i.V.m. Art. 4 der VO (EG) Nr. 1333/2008 i.V.m Anhang der VO (EU) Nr. 231/2021 (erster Satz) gestützt werden. Gem. Art. 5 ZusatzstoffVO dürfe niemand einen Lebensmittelzusatzstoff oder ein Lebensmittel, in dem ein Lebensmittelzusatzstoff vorhanden sei, in Verkehr bringen, wenn die Verwendung des Lebensmittelzusatzstoffs nicht mit dieser Verordnung in Einklang stehe. Gem. Anhang der VO (EU) Nr. 231/2012 dürfe Ethylenoxid zur Sterilisierung von Lebensmittelzusatzstoffen nicht verwendet werden. Der Wortlaut setze somit ausdrücklich voraus, dass Ethylenoxid zur Sterilisierung von Lebensmittelzusatzstoffen verwendet wurde. Der Zusatzstoff sei streitgegenständlich das Johannisbrotkernmehl. Es lägen jedoch keinerlei Anhaltspunkte vor, dass für dessen Sterilisierung Ethylenoxid verwendet worden sei. Es gebe vielmehr etliche verschiedene Möglichkeiten auf verschiedenen Stufen, bei denen es zu einer Kontamination mit Ethylenoxid gekommen sein könnte.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Zugrunde gelegt worden sei die vom BfR (2021) bestimmte Aufnahmemenge geringer Besorgnis von 0,037 μg/kg KG/Tag. Die Aufnahmemenge geringer Besorgnis beschreibe die Aufnahmemenge, bei deren lebenslanger Aufnahme es unwahrscheinlich sei, dass das zusätzliche Risiko an Krebs zu erkranken ca. 1:100.000 übersteige. Die Ableitung eines gesundheitsbasierten Referenzwertes ohne Risiko sei für ein genotoxisches Kanzerogen ohne Schwellenwert nicht möglich; jegliche Rückstände des Stoffes in Lebensmitteln gelten daher als unerwünscht. Im Gegensatz hierzu verwende die Sachverständige Dr. O… der Beschwerdeführerin den toxikologischen Referenzwert von 0,824 mg/kg KG/Tag (= 824 μg/kg KG/Tag). Dieser Wert sei von der amerikanischen Umweltbehörde (EPA) 2020 als chronische Referenzdosis festgelegt worden. Diesem liege die Annahme zugrunde, dass 2-Chlorethanol kein krebserregendes Potential besitze. Hinsichtlich der jüngsten Stellungnahme der EFSA vom 28. Januar 2022 („Statement on the BfR opinion regarding the toxicity of 2-chloroethanol“) sei auszuführen, dass die EFSA daran festhalte, dass das genotoxische Potenzial von 2-Chlorethanol nicht abschließend geklärt sei. Sie empfehle, diese Unsicherheiten durch bestimmte weitere Studien zu beseitigen. Die Vollzugsbehörden könnten jedoch nur auf Grundlage der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse handeln. Die Ausgangsbehörde habe sich in rechtlich nicht zu beanstandender Weise auf den geltenden Stand der Erkenntnisse gestützt. Sie habe im Sinne des Verbraucherschutzes agieren müssen. Es entspreche dem Kern des Vorsorgeprinzips nach Art. 7 BasisVO, bei verbleibenden Unsicherheiten Maßnahmen ergreifen zu können, um dem in der Union gewählten hohen Gesundheitsschutzniveau gerecht zu werden. Diese Unsicherheiten hätten auch von der EFSA in ihrer jüngsten Stellungnahme nicht ausgeräumt werden können, die selbst weitere neu vorgelegte Studien der Interessenvertreter berücksichtigt habe, die vom BfR noch nicht berücksichtigt worden seien. Die Genotoxizität von 2-Chlorethanol werde von der EFSA als uneindeutig („inconclusive“) beurteilt. Die Beschwerdeführerin hingegen übersetze „inconclusive“ mit „nicht schlüssig“ und entfremde damit den Sinngehalt der Stellungnahme der EFSA. Die EFSA-Stellungnahme vom 28. Januar 2022 sowie die Bewertung des BfR vom 1.September 2021 stellten die aktuellen Erkenntnisse dar, die es zum gegenwärtigen Zeitpunkt erlaubten, aus Vorsorgegründen Anordnungen zum Schutz der Verbraucher zu erlassen, obwohl wissenschaftliche Unsicherheiten über das Gefahrenpotential von 2-Chlorethanol bestünden. In der aktuellen Übergangszeit bis zum Vorliegen endgültiger wissenschaftlicher Erkenntnisse müssten Maßnahmen auf das Vorsorgeprinzip gestützt werden können.
II.
Die nach § 146 Abs. 1 VwGO zulässig erhobene und nach § 146 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwGO fristgerecht begründete Beschwerde ist begründet. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alternative i.V.m. § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats begründet.
1. Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Der Verwaltungsgerichtshof hat – unter Zugrundelegung des Beschwerdevorbringens, auf das sich die Prüfung des Senats grundsätzlich beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) – bei seiner Entscheidung eine originäre Interessenabwägung auf der Grundlage der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage darüber zu treffen, ob die Interessen, die für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung streiten, oder diejenigen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, überwiegen. Dabei sind die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren wesentlich zu berücksichtigen, soweit sie bereits überschaubar sind. Nach allgemeiner Meinung besteht an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer voraussichtlich aussichtslosen Klage kein überwiegendes Interesse. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, ist regelmäßig die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen (BayVGH, B.v. 27.3.2019 – 8 CS 18.2398 – ZfB 2019, 202 = juris Rn. 25 m.w.N.).
Die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage wird aller Voraussicht nach Erfolg haben. Unter Zugrundelegung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats hat der Antragsgegner von seinem Handlungsspielraum unter Berücksichtigung der Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nicht bzw. nicht in ausreichender Weise Gebrauch gemacht.
Nachdem die Antragstellerin die Außervollzugsetzung der streitgegenständlichen Untersagungsverfügung, welche einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung darstellt, begehrt, sind grundsätzlich auch rechtliche und tatsächliche Umstände zu berücksichtigen, die nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingetreten oder bekannt geworden sind. Bei der Stellungnahme der EFSA vom 28. Januar 2022 („Statement on the BfR opinion regarding the toxicity of 2-chloroethanol“) handelt es sich um einen solchen Umstand, der maßgeblich für den Ausgang des streitgegenständlichen Verfahrens zu berücksichtigen ist.
2. Zwar kann die streitgegenständliche Anordnung in Ziffer 1 des Bescheides dem Grunde nach auf die Generalklausel des Art. 138 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 2017/625 (Kontroll-VO) i.V.m. Art. 14 Abs. 1, 2 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (Basis-VO) gestützt werden. Es bestehen jedoch Zweifel, ob der Antragsgegner Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) Basis-VO entsprechend den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts angewendet hat.
a. Zur Beurteilung der Gesundheitsschädlichkeit des Lebensmittels ist im Einzelfall eine Risikoanalyse (Art. 6 Basis-VO) vorzunehmen, die unter Zugrundelegung des Kriterienkatalogs des Art. 14 Abs. 4 Basis-VO erfolgen muss. Bei der Beurteilung der Gesundheitsschädlichkeit eines Lebensmittels i.S. des Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) Basis-VO sind gemäß Art. 14 Abs. 4 Basis-VO die wahrscheinlichen sofortigen und/oder kurzfristigen und/oder langfristigen Auswirkungen nicht nur auf die Gesundheit des Verbrauchers, sondern auch auf nachfolgende Generationen (Buchst. a), die wahrscheinlichen kumulativen toxischen Auswirkungen (Buchst. b) und die besondere Empfindlichkeit einer bestimmten Verbrauchergruppe, falls das Lebensmittel für diese Gruppe von Verbrauchern bestimmt ist (Buchst. c) zu berücksichtigen. Abzustellen ist bei der Risikobewertung auf die Wahrscheinlichkeit der Realisierung der Gefahr und der Schwere dieser Wirkung als Folge der Realisierung der festgestellten Gefahr (Meisterernst in Streinz/Meisterernst, Basis-VO, Stand 2021, Art. 14 Basis-VO Rn. 54 und Art. 3 Basis-VO Rn. 47). Von der Gesundheitsschädlichkeit eines Lebensmittels ist dann auszugehen, wenn sich diese aus der Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer gesundheitsschädigenden Wirkung oder wegen der Schwere der zu befürchtenden Gesundheitsschäden oder einer Kombination hieraus ergibt (vgl. zur Abgrenzung in den präventiven Gesundheitsschutz BVerwG, U.v. 14.10.2020 – 3 C 10/19 – ZLR 2021, 276-283, juris Rn. 25; und zu sonst unsicheren Lebensmitteln BVerwG, U.v. 30.1.2020 – 10 C 11/19 – BVerwGE 167, 311-319, juris Rn. 17; zur Risikobewertung im Rahmen des § 39 LFGB vgl. OVG Lüneburg, B.v. 12.1.2019 – 13 ME 320/19 – juris Rn. 48). Bei Vorliegen einer potentiell schweren Wirkung ist auch bei geringer Wahrscheinlichkeit Handeln geboten, während bei geringfügigen Wirkungen unter Umständen eine höhere Wahrscheinlichkeit hingenommen werden muss (Meisterernst, a.a.O., Art. 3 Basis-VO Rn. 50, vgl. auch VGH Baden-Württemberg, B.v. 17.9.2020 – 9 S 2343/20 – juris Rn. 14 m.w.N.).
b. Der streitgegenständliche Untersagungsbescheid stützt sich im Rahmen der Risikoeinschätzung ausschließlich auf die aktualisierte Stellungnahme Nr. 024/2021 des BfR vom 1. September 2021 (https://www.bfr.bund.de/cm/343/gesundheitliche-bewertung-von-ethylenoxid-rueckstaenden-in-sesamsamen_final.pdf). Darin kommt das BfR im Wesentlichen zum Schluss, dass für 2-Chlorethanol auf Basis der vorliegenden Daten eine sichere Aufnahmemenge ohne gesundheitliche Risiken für Verbraucherinnen und Verbraucher derzeit nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit abgeleitet werden könne. Bewertungen der US EPA, des SCF und der MAK-Kommission unterschieden sich gemäß den jeweils abzudeckenden Fragestellungen und Rechtsbereichen in ihren Datenanforderungen und seien daher nur eingeschränkt übertragbar. Nach den im Verzehrskontext relevanten besonders strengen Kriterien zur Bewertung von Pflanzenschutzmitteln in der EU komme das BfR zu dem Schluss, dass die verfügbaren in vivo-Daten nicht geeignet seien, die in vitro beobachtete Genotoxizität mit ausreichender Sicherheit auszuschließen. Die Existenz eines möglichen mit Sättigung der zellulären Entgiftungskapazität verbundenen Schwellenwertes sei ebenfalls nicht durch hinreichend abgesicherte Daten untersetzt. Aufgrund der vorliegenden Daten sei das BfR zu dem Schluss gekommen, dass die genotoxische und kanzerogene Potenz von 2-Chlorethanol nicht höher sein werde als die von Ethylenoxid nach oraler Aufnahme. Daher habe sich das BfR in seiner Bewertung an dem für Ethylenoxid rechnerisch auf Basis von stoffspezifischen Toxizitätsdaten bestimmten Wert von 0,037 µg/kg KG/Tag orientiert, um einen höchstmöglichen gesundheitlichen Schutz zu gewährleisten und Unterschätzungen vorzubeugen.
Die Stellungnahme des BfR enthält keine eindeutige Risikoeinschätzung hinsichtlich der Gesundheitsgefahr von 2-Chlorethanol. Auch der Stellungnahme des BfR lässt sich nämlich die Feststellung entnehmen, dass bei der Bestimmung der von mit 2-Chlorethanol kontaminierten Lebensmitteln ausgehenden Gesundheitsgefahr durchaus wissenschaftliche Unsicherheiten bestehen. Unter der Prämisse eines höchstmöglichen gesundheitlichen Schutzes und um Unterschätzungen vorzubeugen, stuft das BfR 2-Chlorethanol jedoch grundsätzlich in Anlehnung an Ethylenoxid als genotoxisch ein. Nach Einschätzung des Senats verbleiben jedoch auch nach der Risikobewertung durch das BfR Unsicherheiten, die durch die zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts noch nicht vorliegende Stellungnahme der EFSA vom 28. Januar 2022 (https://efsa.onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.2903/j.efsa.2022.7147) bestätigt und bekräftigt wurden. Auf der Grundlage der der EFSA vorliegenden Informationen, d.h. der im Rahmen des BfR-Gutachtens bewerteten Studien und zusätzlicher Daten, die von Interessengruppen vorgelegt wurden und vom BfR nicht bewertet wurden, hält die EFSA die Genotoxizität von 2-Chlorethanol für nicht schlüssig (vom Antragsgegner als „uneindeutig“ übersetzt). Auf dieser Grundlage würde die EFSA nicht empfehlen, Referenzwerte für die Risikobewertung oder gesundheitsbezogene Richtwerte festzulegen, bis das genotoxische Potenzial von 2-Chlorethanol geklärt ist. Die EFSA empfiehlt daher, In-vitro-Genmutationstests und In-vitro-Mikronukleustests mit 2-Chlorethanol gemäß den Empfehlungen der jüngsten technischen OECD-Leitlinien durchzuführen, um sein genotoxisches Potenzial zu klären. Falle das Ergebnis eines der Tests positiv aus, sollten die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Ausschusses der EFSA (2011) befolgt werden. Wenn die Genotoxizität von 2-Chlorethanol endgültig geklärt und insgesamt negativ sei, würde die EFSA empfehlen, den Referenzpunkt für die Ableitung gesundheitsbezogener Richtwerte auf der Grundlage vorhandener Toxizitätsstudien zu 2-Chlorethanol festzulegen. Der Stellungnahme der EFSA kommt aufgrund des ihr zugewiesenen Aufgabenbereiches (vgl. Art. 22 f. BasisVO) besonderes Gewicht zu.
Auf der Grundlage der Stellungnahmen des BfR vom 1. September 2021 und der EFSA vom 28. Januar 2022 geht der Senat davon aus, dass die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen durch 2-Chlorethanolhaltige Lebensmittel festgestellt ist, wissenschaftlich aber noch Unsicherheit besteht. In Anbetracht dieser Feststellung entspricht es dem Entscheidungsprogramm des Art. 7 Abs. 1 BasisVO, dass vorläufige Risikomanagementmaßnahmen zur Sicherstellung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus getroffen werden, bis weitere wissenschaftliche Informationen für eine umfassendere Risikobewertung vorliegen. Die streitgegenständliche endgültige und unbefristete Untersagungsverfügung überschreitet diesen Rahmen und ist damit rechtswidrig, weil auch nicht ersichtlich ist, dass Anstrengungen unternommen wurden, die erforderlichen wissenschaftlichen Daten zu beschaffen.
Nach Art. 4 Abs. 2 BasisVO bilden die in den Artikeln 5 bis 10 festgelegten allgemeinen Grundsätze einen horizontalen Gesamtrahmen, der einzuhalten ist, wenn Maßnahmen getroffen werden. Art. 7 der BasisVO formuliert dabei die Grundsätze des Vorsorgeprinzips. Eine korrekte Anwendung des Vorsorgeprinzips erfordert erstens die Bestimmung der möglicherweise negativen Auswirkungen der betreffenden Stoffe oder Lebensmittel auf die Gesundheit und zweitens eine umfassende Bewertung des Gesundheitsrisikos auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteile v. 9.9.2003, Monsanto Agricoltura Italia u. a., C-236/01, ECLI:EU:C:2003:431, Rn. 113, sowie vom 28.1.2010, Kommission/Frankreich, C-333/08, ECLI:EU:C:2010:44, Rn. 92). Wenn es sich, wie zum jetzigen Zeitpunkt im hier zu entscheidenden Fall, als unmöglich erweist, das Bestehen oder den Umfang des behaupteten Risikos mit Sicherheit festzustellen, weil die Ergebnisse der durchgeführten Studien unzureichend, nicht schlüssig oder ungenau sind, die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die Gesundheit der Bevölkerung jedoch fortbesteht, falls das Risiko eintritt, rechtfertigt das Vorsorgeprinzip den Erlass beschränkender Maßnahmen, sofern sie objektiv und nicht diskriminierend sind (EuGH, U. v. 28.1.2010, Kommission/Frankreich, C-333/08, ECLI:EU:C:2010:44, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ferner müssen gemäß Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 nach dessen Abs. 1 getroffene Maßnahmen verhältnismäßig sein und dürfen den Handel nicht stärker beeinträchtigen, als dies zur Erreichung des in der Union gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus unter Berücksichtigung der technischen und wirtschaftlichen Durchführbarkeit und anderer angesichts des betreffenden Sachverhalts für berücksichtigenswert gehaltener Faktoren notwendig ist. Zudem müssen diese Maßnahmen innerhalb einer angemessenen Frist überprüft werden, die von der Art des festgestellten Risikos für Leben oder Gesundheit und der Art der wissenschaftlichen Informationen abhängig ist, die zur Klärung der wissenschaftlichen Unsicherheit und für eine umfassendere Risikobewertung notwendig sind (EuGH, U. v. 19.1.2017 – C-282/15 – juris).
Es trifft zu, dass die Heranziehung des Vorsorgeprinzips nicht allein auf eine wissenschaftliche Untersuchung gestützt werden kann. Die politische Dimension der Festlegung eines annehmbaren Risikos würde verleugnet, wenn die richterliche Prüfung sich ausschließlich auf die wissenschaftliche Bewertung des früheren Risikos stützte. Die Verordnung Nr. 178/2002 unterscheidet zwischen der Bewertung und der Verwaltung von Risiken, wobei die erste der Wissenschaft gebührt, die zweite in den Bereich der Politik gehört. In gleicher Weise verfügen die nationalen Behörden bei der Entscheidung, die auf einer wissenschaftlichen Beurteilung der Risiken aufbaut, über einen Handlungsspielraum. In der Rechtsprechung ist im Übrigen anerkannt, dass eine Entscheidung der Risikoverwaltung auf Gemeinschaftsebene sich von den Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Beurteilung entfernen darf. Um eine angemessene Kontrolle der auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips getroffenen Entscheidungen zu ermöglichen, müssen für diese Entscheidungen zwei Voraussetzungen gelten. Erstens muss nach der Rechtsprechung der Entscheidungsprozess die Durchführung einer wissenschaftlichen Bewertung vor Erlass einer nationalen Maßnahme zum Schutz der Gesundheit erfordern, wobei besondere Aufmerksamkeit der Qualität der durchgeführten wissenschaftlichen Forschung gelten muss. Zweitens muss die Begründung der Entscheidungen die getroffenen politischen Weichenstellungen klar erkennen lassen und sie von den wissenschaftlichen Ergebnissen unterscheiden, auf die sie gestützt sind, damit jeder Bürger sie erkennen kann. Bei der Kontrolle nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss geprüft werden, ob diese beiden Voraussetzungen eingehalten wurden (EuGH, U. v. 2.12.2004 – C-41/02 – juris).
Diese Vorgaben hat der Antragsgegner bei dem Erlass der streitgegenständlichen Untersagungsverfügung nicht eingehalten. Es ist bereits nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner bei Erlass des Untersagungsbescheides erkannt hat, dass es sich um eine Entscheidung auf der Basis des Vorsorgeprinzips handelt, denn er ist offensichtlich davon ausgegangen, dass das streitgegenständliche Speiseeis auf der Grundlage der Bewertung des BfR ein unzweifelhaft gesundheitsschädliches und damit unsicheres Lebensmittel ist. Selbst wenn der Antragsgegner bei Erlass des Bescheides auf der Grundlage der Bewertung von 2-Chlorethylen durch das BfR von einer bestehenden Gesundheitsgefahr ausgehen durfte – woran Zweifel bestehen, denn bereits in der Sitzung der europäischen Koordinatoren vom 4. Oktober 2021 wurde beschlossen, die EFSA um eine Stellungnahme zum BfR-Gutachten zu bitten -, hätte er nach dem Bekanntwerden der Bewertung durch die EFSA seinen Bescheid unter Berücksichtigung des Art. 7 BasisVO überprüfen und die Sache gegebenenfalls neu bewerten müssen. Dies ist jedoch ersichtlich nicht erfolgt. Die Begründung des Bescheids lässt zudem die getroffene Weichenstellung nicht erkennen. Bereits aus diesem Grund kann die Untersagungsverfügung nicht auf Art. 138 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 2017/625 (Kontroll-VO) i.V.m. Art. 14 Abs. 1, 2 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (Basis-VO) gestützt werden.
Darüber hinaus hat der Antragsgegner seinen sich aus Art. 7 BasisVO ergebenden Handlungsspielraum nicht entsprechend den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und Grundsätzen ausgeübt.
Zu Recht verweist die Antragstellerin darauf, dass nach Art. 7 Abs. 2 Satz 2 BasisVO die Untersagung hätte überprüft werden müssen innerhalb einer angemessenen Frist, deren Dauer von der Art des festgestellten Risikos für Leben oder Gesundheit und der Art der wissenschaftlichen Informationen abhängig ist, die zur Klärung der wissenschaftlichen Unsicherheit und für eine umfassendere Risikobewertung notwendig sind. Anlass und Grund für solch eine Neubewertung des Falles wäre die Stellungnahme der EFSA vom 28. Januar 2022 gewesen, worin die Durchführung neuer In-vitro-Genmutationstests und In-vitro-Mikronukleustests mit 2-Chlorethanol gemäß den Empfehlungen der jüngsten technischen OECD-Leitlinien empfohlen wurde, um sein genotoxisches Potenzial zu klären. Ob solche Tests derzeit durchgeführt werden und, wenn ja, wann diese abgeschlossen sein werden, ist offenbar den Beteiligten des Rechtsstreits nicht bekannt.
Weiter hätte der Antragsgegner seine Entscheidung unter Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes spätestens mit der Bekanntgabe der Stellungnahme der EFSA vom 28. Januar 2022 überprüfen müssen. Die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausübung ihres Ermessens im Bereich des Schutzes der öffentlichen Gesundheit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Die von ihnen gewählten Maßnahmen sind daher auf das Maß dessen zu beschränken, was zum Schutz der öffentlichen Gesundheit tatsächlich erforderlich ist, und sie müssen in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen, das nicht durch Maßnahmen zu erreichen sein darf, die den Handelsverkehr innerhalb der Union weniger beschränken (Urt. v. 28.1.2010, Kommission/Frankreich, C-333/08, ECLI:EU:C:2010:44, Rn. 90). Zwar wirkt sich eine wissenschaftliche Unsicherheit wie hier, die vom Begriff der Vorsorge nicht zu trennen ist, auf den Umfang des Ermessens des Mitgliedstaats und damit auch auf die Art und Weise der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Unter solchen Umständen ist einem Mitgliedstaat und seinen nationalen Behörden zuzugestehen, dass nach dem Vorsorgeprinzip Schutzmaßnahmen getroffen werden, ohne abwarten zu müssen, dass das Vorliegen und die Größe dieser Gefahren klar dargetan sind. Allerdings darf die Risikobewertung nicht auf rein hypothetische Erwägungen gestützt werden (Urt. v. 28.1.2010, Kommission/Frankreich, C-333/08, ECLI:EU:C:2010:44, Rn. 91). Sie entbindet ihn auch nicht davon, dieses Ermessen überhaupt auszuüben.
Darin fehlt es im vorliegenden Fall. Das Landratsamt ist ausweislich der Begründung des Untersagungsbescheides wohl von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen. Nur so ergibt die Begründung, als Handlungsalternativen bestünden nur die zwei Möglichkeiten, das betroffene Produkt in den Verkehr zu bringen oder nicht, einen Sinn. Ein völliges Verbot ist aber nicht in allen Fällen eine verhältnismäßige Reaktion auf ein potentielles Risiko. Auch wenn es in manchen Fällen die einzig mögliche Reaktion auf ein bestimmtes Risiko sein kann (Mitteilung der Kommission zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips S. 5), verkennt der Antragsgegner jedoch, dass hier im Rahmen des Vorsorgeprinzips als Handlungsoptionen auch eine befristete Untersagung zur weiteren Sachaufklärung oder Information der Öffentlichkeit über die potentiell schädigenden Auswirkungen der Produkte in Frage gekommen wären.
Nach dem zusammenfassenden Protokoll der Sitzungen der Koordinatoren für die Lebensmittel- und Futtermittelkrise vom 29. Juni 2021, 30. Juni 2021 und 13. Juli 2021 über das Vorhandensein von Ethylenoxid oberhalb der Bestimmungsgrenze in Johannisbrotkernmehl (Lebensmittelzusatzstoff E410) sind Vertreter der Mitgliedstaaten, Norwegens und der Schweiz zwar übereingekommen, dass für die Produkte, die den Zusatzstoff E410 enthielten, der bekanntermaßen mit Ethylenoxid kontaminiert ist, kein sicheres Expositionsniveau für die Verbraucher festgelegt werden könne, so dass jeder Wert, dem die Verbraucher ausgesetzt sein können, ein potenzielles Risiko für die Verbraucher darstelle. Um ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu gewährleisten, sei es daher erforderlich, dass die Lebensmittel- oder Futtermittelunternehmer, die solche Erzeugnisse auf den EU-Markt gebracht haben, unter der Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden diese Produkte vom EU-Markt nehmen und sie von den Verbrauchern zurückrufen (https://ec.europa.eu/food/system/files/2021-07/rasff_ethylene-oxide-incident_e410_crisis-coord_sum.pdf). Insoweit ist nachvollziehbar, dass sich das Landratsamt als Vollzugsbehörde an diesen harmonisierten EU-Ansatz gebunden sah. Allerdings entband diese Vereinbarung auf supranationaler Ebene die Vollzugsbehörde des Antragsgegners nicht, ihre Entscheidung bei zukünftigen Veränderungen der Umstände zu überdenken.
Auf der technischen Sitzung über Ethylenoxid (ETO) vom 20. Januar 2022 wurde berichtet, dass in Bezug auf zusammengesetzte/verarbeitete Lebensmittel viele der berichterstattenden Länder die Anwendung des EU-Ansatzes bestätigten, d. h. die Rücknahme solcher Produkte vom Markt bzw. den Rückruf von Verbrauchern, falls sie eine kontaminierte Zutat enthalten, unabhängig von ihrem ETO-Gehalt. Andere Länder berichteten, dass sie einen Risikobewertungsansatz auf der Grundlage der Stellungnahme des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) und/oder einen berechneten/zusammengesetzten ETO-Rückstandshöchstgehalt auf der Grundlage des Anteils der Zutaten in dem zusammengesetzten Erzeugnis anwenden und diesen mit dem darin enthaltenen ETO-Rückstand vergleichen, um die Einhaltung zu bewerten. Mehrere EU-Mitgliedstaaten wiesen dagegen auf die hohe Belastung durch das vereinbarte Managementkonzept hin, da immer mehr Erzeugnisse unterschiedlicher Herkunft als kontaminiert eingestuft werden, so dass dies nicht mehr zu bewältigen sei und die Effizienz des RASFF-Systems untergrabe. Aus diesem Grund hätten einige Mitgliedstaaten einen „verhältnismäßigeren Ansatz“ für zusammengesetzte Lebensmittel gewählt, die mehrere Verarbeitungsschritte durchlaufen haben.
Auf derselben Sitzung stellte die EFSA ihre vorläufigen Ergebnisse sinngemäß wie folgt vor: Die EFSA habe eine Bewertung vorhandener In-vitro- und In-vivo-Genotoxizitätsdaten sowie neu verfügbarer In-vitro-Daten vorgenommen und sei zu der vorläufigen Schlussfolgerung gelangt, dass die Genotoxizität und Karzinogenität von 2- Chlorethylen nicht ausgeschlossen werden könne, und dass daher kein sicherer Wert abgeleitet werden könne, solange die formelle Antwort auf das Mandat der Kommission noch ausstehe. Darüber hinaus stimme die EFSA mit der Annahme des BfR überein, dass es unwahrscheinlich sei, dass die genotoxische und karzinogene Potenz von 2-Chlorethylen als Metabolit von ETO diejenige von ETO nach oraler Aufnahme übersteige. Die EFSA empfehle ferner, dass eine Reihe neuer In-vitro-Genotoxizitätstests für 2-Chlorethylen unter Verwendung von Standardmethoden durchgeführt werden sollte. Die EFSA-Stellungnahme werde voraussichtlich im Februar 2022 veröffentlicht werden.
Die Vertreter der Kommission stellten in Anbetracht der vorläufigen Ergebnisse der EFSA fest, dass die auf der Sitzung vom 4. Oktober 2021 geführte Diskussion über die Vorgehensweise angesichts der Ungewissheiten hinsichtlich der toxikologischen Eigenschaften von 2-Chlorethylen bestätigt würde.
Nach der endgültigen Stellungnahme der EFSA vom 28. Januar 2022 wäre der Antragsgegner jedoch verpflichtet gewesen, weitere Ermittlungen anzustellen und die getroffene Maßnahme bis zum Abschluss der von der EFSA empfohlenen Testreihen zu befristen. Jedenfalls hätte es einer Neubewertung seines Risikomanagementansatzes bedurft. Dem Senat ist die Vornahme einer entsprechenden Bewertung dagegen verwehrt. Daraus folgt, dass der streitgegenständliche Untersagungsbescheid zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht (mehr) auf Art. 138 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 2017/625 (Kontroll-VO) i.V.m. Art. 14 Abs. 1, 2 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (Basis-VO) gestützt werden konnte. Nichts Anderes gilt für die zugleich verfügte Lagersperre.
3. Soweit der Untersagungsbescheid „hilfsweise“ auf Art. 138 Abs. 1 Buchst. b), Abs. 2 Buchst. d) KontrollVO i.V.m. § 39 Abs. 1 LFGB i.V.m. Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. b) BasisVO gestützt wurde, dürfte die vom Antragsgegner hierfür gegebene Begründung nicht durchgreifen. Der Antragsgegner führt hierfür an, dass das betroffene Speiseeis auch für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet sei. Bei Kenntnis des Verbrauchers von der Gesundheitsschädlichkeit des Produktes sei davon auszugehen, dass er das Speiseeis nicht verzehren werde. Lebensmittel gelten auch als nicht sicher, wenn davon auszugehen ist, dass sie für den Verzehr durch Menschen ungeeignet sind (Abs. 2 Buchst. b). Gemäß Art. 14 Abs. 3 BasisVO sind bei der Entscheidung der Frage, ob ein Lebensmittel sicher ist oder nicht, die normalen Bedingungen seiner Verwendung durch den Verbraucher und auf allen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen zu berücksichtigen (Abs. 2 Buchst. a). Nach Art. 14 Abs. 5 BasisVO ist bei der Entscheidung der Frage, ob ein Lebensmittel für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet ist, zu berücksichtigen, ob das Lebensmittel infolge einer durch Fremdstoffe oder auf andere Weise bewirkten Kontamination, durch Fäulnis, Verderb oder Zersetzung ausgehend von dem beabsichtigten Verwendungszweck für den Verzehr durch den Menschen inakzeptabel geworden ist. Fremdstoffe sind dabei Stoffe, die ein Lebensmittel üblicherweise und bei sorgfältiger Herstellung nicht enthält. Der gedankliche Schluss des Antragsgegners, dass der Nachweis von 2-Chlorethylen, unabhängig von seiner Konzentration und ohne das Hinzutreten weiterer Umstände wegen der Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen ohne weiteres zur Ungeeignetheit für den Verzehr durch den Menschen führe, dürfte nicht tragfähig sein. Denn eine solche Annahme würde die Regelung des Art. 7 BasisVO unterlaufen und obsolet machen. Darüber hinaus ist hier ebenso wenig ersichtlich, dass der Antragsgegner diesbezüglich sein Auswahlermessen ausgeübt hat.
4. Soweit der Untersagungsbescheid schließlich „hilfsweise“ auch auf Art. 5. i.V.m. Art. 14 der VO (EG) Nr. 1333/2008 in Verbindung mit Anhang der VO (EU) Nr. 231/2012 gestützt wurde, dürfte auch diese Rechtgrundlage nach summarischer Prüfung nicht tragfähig sein. Danach darf niemand einen Lebensmittelzusatzstoff oder ein Lebensmittel, in dem ein Lebensmittelzusatzstoff vorhanden ist, in Verkehr bringen, wenn die Verwendung des Lebensmittelzusatzstoffs nicht mit der VO (EG) Nr. 1333/2008 in Einklang steht. Nach dem Anhang der VO (EU) Nr. 231/2012 darf Ethylenoxid zur Sterilisierung von Lebensmittelzusatzstoffen nicht verwendet werden. Dabei dürfte der Antragsgegner jedoch den Nachweis für eine entsprechende Verwendung von Ethylenoxid zur Sterilisation des Johannesbrotkernmehles erbringen müssen. Dieser Nachweis ist mit dem Verweis alleine auf den Rückstandsgehalt von Ethylenoxid im Lebensmittelzusatzstoff nicht geführt.
Nachdem der Senat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Landratsamtes vom 16. Dezember 2021 angeordnet hat, bedarf es darüber hinaus keiner zusätzlichen Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte war der Streitwert der Hauptsache nach § 52 Abs. 2 GKG für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu halbieren.
Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG unanfechtbar.


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