Europarecht

Systemische Mängel des Asylsystems in Ungarn für Familien mit minderjährigen Kindern

Aktenzeichen  M 12 K 14.50283

Datum:
29.2.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a
VO (EU) Nr. 604/ 2103  Art. 3 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 1

 

Leitsatz

In Ungarn bestehen für Familien mit minderjährigen Kindern systemische Mängel des Asylsystems. Es wird ohne Einzelfallprüfung von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Familien mit minderjährigen Kindern in Hafteinrichtungen für Asylbewerber zu inhaftieren, welche für den Aufenthalt von Familien nicht geeignet sind. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Soweit die Klagen zurückgenommen wurden, wird das Verfahren eingestellt.
II.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Mai 2014 wird aufgehoben.
III.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
IV.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klagen konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten – die Kläger durch Erklärung ihres Bevollmächtigten vom … Juni 2015 und die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung – hierzu ihr Einverständnis erteilt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO -). Der Vertreter des öffentlichen Interesses hat seine Beteiligung in den Schreiben vom 11. und 18. Mai 2015 ausdrücklich auf die Übersendung der jeweiligen End- bzw. Letztentscheidung beschränkt.
1. Soweit die Klagen mit der am … Juni 2015 bei Gericht eingegangenen Rücknahmeerklärung hinsichtlich der Verpflichtungsanträge (Klageanträge II. und III.) zurückgenommen wurden, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
2. Im Übrigen sind die Klagen zulässig und begründet. Der streitgegenständliche Bescheid vom 16. Mai 2014 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 des Asylgesetzes (AsylG; vormals: AsylVfG) als rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
2.1. Die Beklagte hat die Asylanträge der Kläger vom 14. April 2014 zu Unrecht in Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 16. Mai 2014 als unzulässig abgelehnt. Zwar ergibt sich aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union grundsätzlich eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der Asylanträge der Kläger; im vorliegenden Fall liegen jedoch besondere Umstände vor, die die Zuständigkeit Ungarns entfallen lassen und die Zuständigkeit der Beklagten für die Durchführung der Asylverfahren begründen.
2.1.1. Gemäß § 27a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das Bundesamt kann in einem solchen Fall die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013 in Kraft getretene Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, also auch auf die am 14. April 2014 gestellten Schutzgesuche der Kläger zu 1) bis 4).
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist vorliegend grundsätzlich von einer Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der Asylanträge der Kläger gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO auszugehen. Nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Vorliegend ist davon auszugehen, dass die Kläger über Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind und dort bereits um Asyl nachgesucht haben, was durch die bei einer EURODAC-Abfrage für den Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2) erzielten Treffer mit der Kennzeichnung „HU1“ (vgl. Art. 24 Abs. 4 i. V. m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 vom 26. Juni 2013 (EURODAC-VO)) belegt wird. Die Zuständigkeit Ungarn ist auch nicht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO erloschen, da zum Zeitpunkt der erstmaligen Asylantragstellung im März 2014 der illegale Grenzübertritt noch nicht länger als zwölf Monate zurücklag (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO). Die zuständigen ungarischen Behörden haben mit Schreiben vom 7. Mai 2014 zudem ihr Einverständnis mit der Wiederaufnahme der Kläger zu 1) bis 4) erklärt.
2.1.2. Im vorliegenden Fall ist allerdings ausnahmsweise die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung der Asylanträge gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO gegeben. Denn es liegen wesentliche Gründe für die Annahme vor, dass das ungarische Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Bezug auf die minderjährigen Kläger zu 3) und zu 4) systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne der Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen. Ihre Überstellung in den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat Ungarn erweist sich damit als unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. In einem solchen Fall wird – wenn sich wie vorliegend auch kein anderer zuständiger Mitgliedstaat feststellen lässt – der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat für die Prüfung der Asylanträge zuständig.
Das gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK – finden (EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris). Daraus ist die Vermutung abzuleiten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (EuGH, U. v. 21.12.2011, a. a. O., juris Rn. 80).
Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011, a. a. O.) bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ (vgl. BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) zugrundeliegende Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der Grundrechtscharta ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011, a. a. O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVwerG, B. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 5 f. m. w.N.). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten – nicht rein quantitativen – Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegensprechenden Tatsachen zukommen, d. h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U. v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris).
Aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Unterbringungsbedingungen für Familien mit minderjährigen Kindern in Ungarn derartige systemische Mängel aufweisen (vgl. VG München, U. v. 15.7.2015 – M 12 K 15.50489; VG München, Gerichtsbescheid vom 12.11.2015 – M 9 K 14.50739).
Bei der Bewertung der in Ungarn anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei vorliegend diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation der Kläger zutreffen (OVG NRW, U. v. 7.3.2014 – 1 A 21/12 – juris Rn. 130). Abzustellen ist damit in erster Linie auf die Situation einer Familie mit zwei minderjährigen Kindern, die vor ihrer Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt hat und nunmehr im Rahmen des sog. Dublin-Systems überstellt werden soll.
Nach der in Ungarn seit 1. Juli 2013 geltenden Rechtslage können Familien mit minderjährigen Kindern bis zu 30 Tage in Asylhaft genommen werden. Es handelt sich hierbei um eine von dem strafgerichtlichen Vollzug gesonderte, spezifisch für Asylbewerber bestimmte Unterbringungsform. Eine solche Haft kann unter anderem dann angeordnet werden, wenn der betreffende Asylbewerber sich vor den Behörden verborgen oder in anderer Weise den Fortgang des Asylverfahrens behindert hat. Alternativ zu einer Haft können auch andere Maßnahmen wie die Festsetzung einer Kaution, eine Beschränkung des Aufenthaltsortes oder Meldeauflagen verfügt werden. Die Haft soll nach dem Gesetz nur auf der Grundlage einer Würdigung des Einzelfalls und dann verhängt werden, wenn die damit verfolgten Zwecke nicht mit milderen Mitteln erreicht werden können.
Nach Feststellungen des ungarischen Helsinki-Komitees im Sommer 2013 wurden die Kapazitäten der entsprechenden Hafteinrichtungen für Asylbewerber seit Einführung dieser Unterbringungsform im Juli 2013 in der Regel ausgeschöpft. Weiter wurde beobachtet, dass eine eingehende Prüfung des Einzelfalls und milderer Mittel nicht erfolgte (vgl. aida-Länderbericht zu Ungarn vom 13.12.2013, abzurufen über: http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary, dort S. 43 ff.). In einem Bericht der Arbeitsgruppe des OHCHR zu willkürlichen Inhaftierungen über einen Besuch in Ungarn vom 23. September bis 2. Oktober 2013 wird festgestellt, dass der deutliche Schwerpunkt der gegenüber Asylbewerbern getroffenen Maßnahmen bei deren Inhaftierung liege, was Anlass zur Besorgnis gebe (vgl. UN Office of the High Commissioner for Human Rights – OHCHR, Working Group on Arbitrary Detention, Statement upon the conclusion of its visit to Hungary – 23 September – 2 October 2013, abzurufen unter http://www.ohchr.org). Auch der Kommissar des Europarats für Menschenrechte kam aufgrund eines Aufenthalts in Ungarn vom 1. bis 4. Juli 2014 zu der Feststellung, dass etwa 25% aller Asylbewerber in Haft genommen werden (vgl. Bericht vom 16.12.2014, abzurufen unter: http://www.coe.int/en/web/commissioner/countryreport/hungary). Diese Zahlen deuteten darauf hin, dass von den im Gesetz vorgesehenen Alternativen zur Haftanordnung sehr wenig Gebrauch gemacht werde.
Während der Kommissar des Europarats für Menschenrechte Anfang Juli 2014 noch keine neueren Fälle der Inhaftierung von Familien feststellen konnte (Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, Report following his visit to Hungary from 1 to 4 July 2014 vom 16.12.2014, Rn. 160), ergibt sich aus neueren Erkenntnismitteln, dass seit September 2014 auch verstärkt – bzw. nach Angaben des UNHCR – routinemäßig und ohne Einzelfallprüfung von der Möglichkeit, Familien mit minderjährigen Kindern zu inhaftieren, Gebrauch gemacht wird (vgl. die Stellungnahme des UNHCR gegenüber dem ungarischen Innenministerium vom 7. Januar 2015 „UNHCR comments and recommandations on the draft modification of certain migration, asylum related and other legal acts for the purpose of legal harmonization”, Seite 16, abrufbar unter: http://www.unhcrcentraleurope.org/pdf/recources/legadoc
uments/unhcrviewsoncentraleuropesnationalasylumlaws/unhcrcommentsandrecommendationstodraftlegalamendmenst.html). Über entsprechende Beobachtungen berichtet auch der Europäischen Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen (ECRE) (vgl. Bericht über die Inhaftierung von Familien vom 4.11.2014, abzurufen über http://www.asylumineurope.org/news/; Länderbericht für das Projekt AIDA – Asylum Information Database zu Ungarn vom 17.2.2015, abrufbar unter: http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary, vgl. dort S. 54). Auch aus dem aktualisierten aida-Länderbericht (Stand 1.11.2015 – abrufbar unter: http://www.asylumineurope.org/reports/country/hungary) sowie aus Auskünften des Auswärtigen Amtes (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Düsseldorf vom 19. 11.2014 und an das VG Regensburg vom 27.1.2016 – abrufbar in der öffentlich zugänglichen Datenbank MILO des Bundesamtes) geht hervor, dass Familien mit minderjährigen Kindern weiterhin inhaftiert und nicht von Asylhaft ausgenommen werden.
Hinsichtlich der Haftbedingungen lässt sich dem vorgenannten Aida-Länderbericht entnehmen, dass in Ungarn drei Asylhaftanstalten bestehen, die sich in Debrecen, Békéscsaba und Nyírbátor befinden. Die Hafteinrichtung Debrecen, in der seit Februar 2015 asylsuchende Familien untergebracht werden, ist nach Einschätzung des Ungarischen Helsinki Komitee (HHC) für den Aufenthalt von Familien mit minderjährigen Kindern nicht geeignet. Kinder hätten dort keine Möglichkeit zur Schule zu gehen und an sozialen oder erzieherischen Aktivitäten teilzunehmen. Spielzeug sei in der Asylhaftanstalt kaum vorhanden. Auch die Verpflegung sei für Kinder nicht angemessen (vgl. Seite 67 des Berichts). Des Weiteren gebe es in dieser Einrichtung nur eine kleinen Außenbereich, woran sich die Ungeeignetheit der Asylhafteinrichtung für die Inhaftierung von Familien ebenfalls zeige. Es handle sich hierbei um einen schmalen Hof, der nur unzureichend ausgestattet sei und nicht sinnvoll für körperliche Bewegung, Sport oder andere Aktivitäten genutzt werden könne. Darüber hinaus gebe es in dem Hof auch keine Bank und keinen Schatten (vgl. Seite 66 des Berichts). Die in der Asylhaftanstalt präsenten Sicherheitskräfte seien einschüchtern für Kinder (Seite 67). In allen Zentren gebe es Beschwerde über das aggressive Verhalten der Sicherheitskräfte (vgl. Seite 65 des Berichts).
Vor diesem Hintergrund geht das Gericht aufgrund der vorgenannten Erkenntnismittel davon aus, dass bei den Klägern im Falle einer Rückkehr nach Ungarn wegen ihrer Weiterreise während des dortigen Asylverfahrens der Haftgrund der Verzögerung des Asylverfahrens oder der Fluchtgefahr angenommen werden wird und ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung droht. Weiterhin ist anzunehmen, dass die Unterbringungsbedingungen für Familien mit minderjährigen Kindern in Ungarn systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne der Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) in Bezug auf die Kläger zu 3) und 4) mit sich bringen. Dabei berücksichtigt das Gericht maßgeblich, dass die Kläger als Familie mit zwei minderjährigen Kindern einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe angehören. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dessen Rechtsprechung auf der Ebene des (nationalen) Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen kann (vgl. BVerfG, B. v 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – juris Rn. 32) und dessen Rechtsprechung maßgeblich für die Auslegung der Menschenrechte der EMRK ist, hat in seinem Urteil vom 4. November 2014 (29217/12 „Tarakhel gg. die Schweiz“, abrufbar unter: www.asylnet) hervorgehoben, dass Kinder über die Gruppe der Asylsuchenden hinaus einen besonderen Schutz genießen, da sie spezifische Bedürfnisse haben und extrem verletzlich sind. Dies gelte unabhängig davon, ob sie allein oder in Begleitung ihrer Eltern sind. Die Aufnahmebedingungen für asylsuchende Kinder müssten ihrem Alter und ihren Bedürfnissen angepasst sein. Im Fall Popov gegen Frankreich sah der EGMR bei einer 15-tägigen Inhaftierung von Kleinkindern in Frankreich angesichts der dortigen Haftbedingungen (Polizeipräsens, Angst vor Abschiebung, Spannungen unter den Insassen, kein kindgerechtes Mobiliar) die von Art. 3 EMRK geforderte Schwelle an Schwere überschritten und eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinsichtlich der Kinder als gegeben an. Die Bedingungen, unter denen die Kinder „angehalten“ wurden, seien nicht ihrem Alter angepasst gewesen. Die Dauer der „Anhaltung“ der Kinder über einen Zeitraum von 15 Tagen – wenn sie auch an sich nicht exzessiv erscheine – habe von ihnen angesichts der Ungeeignetheit der Infrastruktur für ihre Aufnahme und ihr Alter doch als unendlich lang empfunden werden können. Eine solche Situation könne zu Angst, psychischer Störung und Schädigung des Elternbildes der Kinder beitragen. Daraus folge, dass die Bedingungen, unter denen die Kinder für fünfzehn Tage angehalten wurden, nämlich in einer Umgebung von Erwachsenen, unter starker Polizeipräsenz und ohne Beschäftigung und zusätzlich zur Not ihrer Eltern, für ihr Alter offensichtlich ungeeignet waren. Die beiden Kinder hätten sich in einer Situation besonderer Verwundbarkeit befunden, die durch die Situation der Haft weiter verschärft wurde. Diese Lebensbedingungen hätten für sie eine Situation von Stress und Angst schaffen und besonders traumatisierende Folgen für ihre Psyche haben müssen. Die Behörden hätten den Kindern keine Behandlung gewährleistet, die mit den Bestimmungen der Konvention vereinbar ist (EGMR, U. v. 19.1.2012 – 39472/07 Nr. 91 – Popov/Frankreich).
Die in Bezug auf Ungarn vorliegenden Auskünfte rechtfertigen hier die Einschätzung, dass die Haftbedingungen in Ungarn den Bedürfnissen minderjähriger Kinder nicht hinreichend Rechnung tragen. Aufgrund der vorgenannten Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Bedingungen, unter denen asylsuchende Familien untergebracht werden, sich nicht für den Aufenthalt minderjähriger Kinder eigen. In der für die Unterbringung von Familien vorgesehenen Haftanstalt in Debrecen gibt es für Kinder weder soziale oder erzieherische Aktivitäten noch einen ausreichenden Außenbereich. Spielzeug ist kaum vorhanden. Durch die dort präsenten bewaffneten Sicherheitsleute wirkt die Haftanstalt für Kinder zudem besonders einschüchternd. Auch ein Aufenthalt für einen Zeitraum von wenigen Tagen (hier bis höchstens 30 Tage) erscheint dabei bereits geeignet, Stress, Angst und traumatisierende Folgen für die Psyche der Kinder hervorzurufen. Insgesamt hat das Gericht daher keinen Zweifel und die erforderliche Überzeugungsgewissheit, dass die ungarischen Asylhaftbedingungen für den Aufenthalt minderjähriger Kinder völlig ungeeignet sind und dass die von Art. 3 EMRK geforderte Schwelle an Schwere überschritten wird.
Vorliegend kann offen bleiben, ob auch in Bezug auf die Kläger zu 1) und 2) eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union gegeben ist. Denn eine Trennung der Familieneinheit wäre gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO und gemessen an dem in Art. 6 GG und 8 EMRK verbürgten Schutz der Familie unzulässig (vgl. VG München, U. v. 15.7.2015 – M 12 K 15.50489; OVG Niedersachsen, B. v. 2. 5. 2012 – 13 MC 22/12 – juris).
2.2. Ist die Feststellung nach § 27a AsylG rechtwidrig, ist auch kein Raum mehr für die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nach Ungarn. Die Abschiebungsanordnung in Nummer 2 des angegriffenen Bescheides vom 16. Mai 2014 war somit ebenfalls aufzuheben.
Das Bundesamt ist in der Folge kraft Gesetzes (vgl. § 31 Abs. 2 AsylG) verpflichtet, das Asylverfahren der Kläger fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. BayVGH, U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22).
3. Die Kostenfolge beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klagen auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen