Aktenzeichen M 4 K 16.3992
GG Art. 6
EMRK Art. 8
StGB § 243
Leitsatz
1. Im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen dürfen bei der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, dass eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Staat kann es nicht hinnehmen, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung, aber auch von Betrieben und Geschäftsräumen zu kriminellen Zwecken verletzt wird und auf diese Weise der Zusammenhalt und die Offenheit einer Gesellschaft, die auf gegenseitigem Vertrauen basiert, unterminiert werden. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die vom Kläger angegriffene Feststellung des Verlustes des EU-Freizügigkeitsrechts ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§§ 113 Abs. 1 Satz 1, 114 VwGO).
1. Gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Freizügigkeitsrechts unabhängig von den Verlustgründen nach § 2 Absatz 7 und § 5 Absatz 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Dabei genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um die in Abs. 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen (§ 6 Abs. 2 S. 1 FreizügG/EU).
Im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen dürfen nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU). Verlangt wird eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Eintritt des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu differenzierende – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird. Ob eine Wiederholungsgefahr in diesem Sinne besteht, kann nur aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden. Dabei ist unter anderem zu prüfen, ob eine etwaige Verbüßung der Strafe erwarten lässt, dass der Unionsbürger künftig keine die öffentliche Ordnung gefährdende Straftat mehr begehen wird (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – Rn. 26 m.w.N – juris).
Weiterhin muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU). Bei der Entscheidung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen, § 6 Abs. 3 FreizügG/EU.
Darüber hinaus hängt die Rechtmäßigkeit der Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit davon ab, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit das private Interesse des Unionsbürgers deutlich überwiegt. Diese Abwägung hat die Ausländerbehörde im Rahmen der in jedem Fall gebotenen Ermessensentscheidung vorzunehmen. Bei der Prüfung, wo der angemessene Ausgleich zwischen den betroffenen berechtigten Interessen jeweils liegt, ist stets die besondere Rechtsstellung der vom Gemeinschaftsrecht privilegierten Personen und die besondere Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit zu berücksichtigen. Wie bei jeder Ermessensentscheidung ist bei der Interessenabwägung außerdem den Grundrechten Rechnung zu tragen. Namentlich der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienlebens ist zu Gunsten des Unionsbürgers zu beachten (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 27).
2. Gemessen hieran erweist sich die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt durch den Bescheid der Beklagten vom 8. August 2016 als rechtmäßig, weil in der Person des Klägers eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und weil diese gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung schwerwiegend ist und nach zutreffender Einschätzung durch die Beklagte das öffentliche Interesse am Fernbleiben des Klägers aus dem Bundesgebiet seine privaten Interessen am Verbleib deutlich überwiegt.
Nach den strafrichterlichen Feststellungen drang der Kläger viermal in eine Zahnarztpraxis ein und entwendete Gegenstände und Bargeld im Wert von mehreren tausend Euro.
Die strafrechtliche Verurteilung alleine genügt zwar nicht, um den Verlust des Freizügigkeitsrechts gem. § 6 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU zu begründen. Doch die öffentliche Ordnung ist durch den Kläger auch gegenwärtig noch gefährdet.
Aufgrund des beharrlichen Vorgehens ist eine erhebliche kriminelle Energie beim Kläger zu bejahen. Er brach im Zeitraum von nur einem Monat viermal in dieselbe Praxis ein. Dabei entstanden teils hohe Sachschäden, und auch das erlangte Diebesgut war von nicht unerheblichem Wert, bei der dritten Tat in Höhe von rund 20.000,- EUR. Der Angeklagte hat ferner jeweils zwei Alternativen des besonders schweren Falles verwirklicht. Er ist bei der Tatausführung jeweils in einen Geschäftsraum eingebrochen und hat gewerbsmäßig gehandelt, so dass er die Tatbestände des § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 3 StGB erfüllt hat. Durch die wiederholten Diebstähle wollte sich der Kläger eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle verschaffen. Dadurch konnte der Kläger u.a. sein Glücksspiel und seinen Alkoholkonsum finanzieren.
Angesichts der massiven kriminellen Energie kann nicht davon ausgegangen werden, dass die jetzige Erfahrung des Klägers mit dem Strafvollzug ihn künftig von der Begehung weiterer Straftaten abschreckt. Die Gefahr ist groß, dass sich seine wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert, was den Anreiz, sich durch weitere vergleichbare Delikte zu bereichern, noch erhöht. Die Gefahr ist besonders groß, da der Kläger bislang im Bundesgebiet nur gering qualifiziert beschäftigt war und er noch Schulden in Höhe mehrerer tausend Euro begleichen muss. Derzeit bedient er seine Schulden nicht, sondern hat dies lediglich angekündigt.
Inwieweit noch eine Spielsuchtproblematik besteht, kann zwar nicht abschließend beurteilt werden. Die Taten dienten jedoch auch zur Rückgewinnung des verspielten Geldes.
Außerdem gab es zwischen den jeweiligen Taten jeweils zeitliche Zäsuren von mehreren Tagen, so dass der Kläger sich in dieser Zeit der Tragweite seines Verhaltens hätte bewusst werden und von seinem weiteren Vorgehen absehen können. Dass er sich nicht eines Besseren besonnen hat, sondern vielmehr über Wochen und Monate hinweg die Zahnarztpraxis regelrecht ausplünderte, zeugt von der erheblichen kriminellen Energie, die zu entfalten der Kläger in der Lage ist. Erst seine Verhaftung stoppte die Einbruchsserie.
In Polen hat der Kläger zwar nach eigenen Angaben bis auf seinen kranken Vater keine Kontakte mehr; insgesamt erweist sich die Situation in … wie zur Tatzeit als wenig tragfähig. Er verfügt über minimalen Wohnraum bei seiner Mutter und keinen nachvollziehbar gesicherten Arbeitsplatz. Eine ausreichende Gewähr für künftige Straffreiheit lässt sich daraus nicht ableiten. Auch die Tatsache, dass er bereits nach einem halben Jahr nach Einreise in die Bundesrepublik Deutschland, die erst 2014 erfolgt, straffällig geworden ist, lässt keine positive Prognose zu.
Es liegt auch eine Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft vor. Serienmäßige Einbruchsdiebstähle haben in den letzten Jahren überhand genommen und haben für die Betroffenen oftmals lebenslange psychische Folgen. Ein Staat kann es nicht hinnehmen, dass die Unverletzlichkeit der Wohnung, aber auch von Betrieben und Geschäftsräumen zu kriminellen Zwecken verletzt wird und auf diese Weise der Zusammenhalt und die Offenheit einer Gesellschaft, die auf gegenseitigem Vertrauen basiert, unterminiert werden. Dies gilt insbesondere bei drohenden nicht unerheblichen materiellen Schäden.
Die Ermessensausübung durch die Beklagte ist nicht zu beanstanden. Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK stehen der Beendigung des Aufenthaltes entgegen. Die Beklagte hat in ermessensfehlerfreier Weise in den Blick genommen, dass der Kläger bereits erwachsen und nicht mehr auf die Unterstützung seiner Mutter angewiesen ist. Auch seine Mutter ist nicht auf ihn angewiesen. Es ist dem Kläger zuzumuten, sich in seiner Heimat oder einem anderen Land, in welchem er aufenthaltsberechtigt ist, eine eigene Existenz aufzubauen. Angesichts der Tatsache, dass er bisher auch mehrere Aufenthalte in verschiedenen Ländern – Polen, Belgien, Frankreich – nachgewiesen und keine eigene Kernfamilie in Deutschland hat, liegen keine Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit vor. Selbst wenn der Kläger eine Arbeitsstelle antreten sollte, ist aufgrund seiner schwierigen finanziellen Lage und seiner Verschuldung nicht sicher, ob dies zur Finanzierung seines Unterhalts genügt. Abzuwägen sind seine Interessen mit denen der Allgemeinheit. Bei einer anderen Beurteilung der Sachlage könnte das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen erschüttert werden. Die hohe Zahl von Einbruchsdiebstählen erfordert eine wirksame Abschreckung potentieller Täter. Damit stehen den gewichtigen öffentlichen Belangen keine gleichgewichtigen persönlichen Interessen entgegen. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb der 35-jährige Kläger, der erst seit drei Jahren in Deutschland lebt, davon zwei Jahre in Haft, nicht in seinem Heimat-EU-Land eine Existenz aufbauen können sollte.
3. Aufgrund der rechtmäßigen Verlustfeststellung gem. § 6 Abs. 1 FreizügG/EU darf der Kläger nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen, wie es Ziff. 2 des streitgegenständlichen Bescheids regelt. Die Sperrfrist von zuletzt fünf Jahren begegnet keinen rechtlichen Bedenken und erscheint insbesondere angemessen, um dem beim Kläger bestehenden hohen Gefahrenpotential Rechnung zu tragen. Insbesondere im Hinblick auf die geringe Verwurzelung des Klägers in Deutschland sind Anhaltspunkte für Fehler bei der Fristbemessung nicht ersichtlich.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Gründe für die Zulassung der Berufung gem. § 124 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4, § 124a Abs. 1 VwGO liegen nicht vor.