Europarecht

Wiederaufgreifen des Verfahrens bei einer rechtskräftig bestätigten Ausweisung

Aktenzeichen  10 ZB 20.1592

Datum:
22.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 4154
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 2, Nr. 5
AufenthG § 11 Abs. 2 S. 1, Abs. 4 S. 1, § 53 Abs. 3
VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Sowohl der Widerruf einer rechtskräftig bestätigten Ausweisungsverfügung als auch ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG sind jedenfalls insoweit ausgeschlossen, als es um die Berücksichtigung von (nachträglichen) Sachverhaltsänderungen geht, die für den Fortbestand des Ausweisungszwecks erheblich sind; insoweit besteht in § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine bundesrechtliche Spezialvorschrift (BVerwG BeckRS 1999, 30085815). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zweck der Befristungsregelung ist es, dem Ausländer einen neuen Aufenthalt zu ermöglichen, wenn sich der Sachverhalt verändert hat, insbes. die mit der Ausweisung verfolgten ordnungsrechtlichen Zwecke erreicht sind. Daraus folgt, dass jedenfalls dann ein Widerruf ausscheidet, wenn es darum geht, einer Sachverhaltsänderung Rechnung zu tragen, nach der es nicht länger gerechtfertigt ist, allein wegen der Ausweisung einen Aufenthalt des Ausländers auszuschließen. Unter diesen Umständen kommt auch ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens gem. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nicht in Betracht (BVerwG BeckRS 1999, 30085815). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 19.2082 2020-05-26 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Unter Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. Mai 2020 wird der Streitwert für das Verfahren in beiden Rechtszügen auf jeweils 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage mit dem Antrag, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 29. Oktober 2019 zu verpflichten, die Ausweisungsverfügung des Regierungspräsidiums Tübingen vom 8. Januar 2014 aufzuheben, hilfsweise die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verkürzen, weiter.
Der auf die Gründe gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 und 5 VwGO gestützte Zulassungsantrag ist unbegründet. Weder weist die Rechtssache besondere rechtliche Schwierigkeiten auf (1.) noch liegt der gerügte Verfahrensmangel in Form eines Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) vor (2.).
1. Besondere rechtliche Schwierigkeiten, die die Zulassung der Berufung im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO rechtfertigen würden, liegen nicht vor.
Solche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn der Ausgang des Rechtsstreits aufgrund der summarischen Prüfung im Zulassungsverfahren als offen erscheint (vgl. Seibert in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 124 Rn. 106; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 27 ff.) oder sie in rechtlicher Hinsicht voraussichtlich größere, d.h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 15; B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 17 m.w.N.). Beides ist hier jedoch nicht der Fall.
Der Kläger macht geltend, der Rechtsstreit werfe die nicht ohne weiteres aus dem Gesetz beantwortbare oder bereits in der Rechtsprechung geklärte Frage auf, ob bei nachträglichen Änderungen der Umstände, die für den Fortbestand des Ausweisungszwecks erheblich sind und bei der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung nicht berücksichtigt werden konnten, eine Neubewertung gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit Art. 14 ARB 1/80 und Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens nach Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG zugänglich sein muss. Die vom Verwaltungsgericht unter Verweis auf eine Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg vom 12. Juli 2017 (OVG 11 B 9.16 – juris) vertretene Auffassung, insoweit bestehe nur die Möglichkeit der nachträglichen Aufhebung bzw. der Fristverkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, der als spezielle Regelung ein Wiederaufgreifen nach Art. 51 Abs. 1 BayVwVfG ausschließe, sei verfehlt. Denn sie verkenne, dass § 11 Abs. 4 AufenthG nur die Frage des Einreise- und Aufenthaltsverbots und damit eine Nebenentscheidung zur Ausweisungsverfügung erfasse und einer Änderung der Grundentscheidung (Ausweisung) im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens bei nachträglicher Änderung der Sachlage gerade nicht entgegenstehe. Dies gelte gerade bei türkischen Staatsangehörigen wie dem Kläger, deren Ausweisung sich nach § 53 Abs. 3 AufenthG in Verbindung mit Art. 14 ARB 1/80 und Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens richte. Insoweit sei auch klärungsbedürftig, ob die Nichtanwendung des Art. 51 BayVwVfG in diesen Fällen nicht gegen höherrangiges Recht verstoße.
Die damit aufgeworfenen Fragen weisen schon deshalb keine besonderen rechtlichen Schwierigkeiten auf, weil sie entgegen der Auffassung des Klägers in der obergerichtlichen Rechtsprechung bereits geklärt sind und der Kläger keine neuen Gesichtspunkte aufzeigt, die eine neuerliche Klärung in einem Berufungsverfahren angezeigt sein ließen (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 32).
Die Frage, ob bei nach rechtskräftiger Bestätigung der Ausweisungsverfügung eintretenden und für den Fortbestand des Ausweisungszwecks relevanten Sachverhaltsänderungen ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG bzw. der entsprechenden landesrechtlichen Regelung des Art. 51 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG möglich oder zulässig ist, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls für den Fall der noch nicht erfolgten Ausreise des betroffenen Ausländers geklärt. Sowohl der Widerruf einer – wie im Fall des Klägers – rechtskräftig bestätigten Ausweisungsverfügung als auch ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG (bzw. der entsprechenden landesrechtlichen Bestimmung) sind jedenfalls insoweit ausgeschlossen, als es um die Berücksichtigung von (nachträglichen) Sachverhaltsänderungen geht, die für den Fortbestand des Ausweisungszwecks erheblich sind; insoweit besteht in § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG (nunmehr: § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) eine bundesrechtliche Spezialvorschrift (BVerwG, U.v. 7.12.1999 – 1 C 13.99 – juris Rn. 22 ff.). Die Wirkungen der Ausweisung dürfen erst zu einem Zeitpunkt wegfallen, der nach der Ausreise des Ausländers liegt (§ 8 Abs. 2 Satz 4 AuslG bzw. nunmehr § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Durch einen Widerruf der Ausweisung oder ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens könnten ohne vorherige Ausreise des Ausländers die Ausweisungswirkungen beseitigt werden, was § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG (nunmehr: § 11 Abs. 2 AufenthG) ausschließen will (BVerwG a.a.O. Rn. 23). Zweck der Befristungsregelung ist es, dem Ausländer einen neuen Aufenthalt zu ermöglichen, wenn sich der Sachverhalt verändert hat, insbesondere die mit der Ausweisung verfolgten ordnungsrechtlichen Zwecke erreicht sind. Daraus folgt, dass jedenfalls dann ein Widerruf ausscheidet, wenn es darum geht, einer Sachverhaltsänderung Rechnung zu tragen, nach der es nicht länger gerechtfertigt ist, allein wegen der Ausweisung einen Aufenthalt des Ausländers auszuschließen. Unter diesen Umständen kommt auch ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nicht in Betracht (BVerwG a.a.O. Rn. 24).
Somit hat das Verwaltungsgericht unter zutreffender Bezugnahme auf die Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg (OVG 11 B 9.16 – juris Rn. 16 f.) und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Recht festgestellt, dass eine nachträgliche Sachverhaltsänderung (hier: Änderung der Gefahrenprognose, behaupteter Wegfall spezialpräventiver Ausweisungsgründe) bei bereits bestehender Befristungsregelung zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, nur im Wege der Aufhebung oder der Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG berücksichtigt werden kann.
Ebenso wenig bedarf einer Klärung im Berufungsverfahren die Frage, ob es im Hinblick auf die Gewährleistung der Rechte aus dem ARB 1/80 und des Europäischen Niederlassungsabkommens „europarechtlich geboten (ist), eine Sachprüfung der Ausgangsentscheidung (Ausweisungsverfügung) im Wege des Wiederaufgreifens nach Art. 51 BayVwVfG zu ermöglichen“.
Die Voraussetzungen für eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur Überprüfung einer (nach innerstaatlicher Erschöpfung des Rechtswegs) bestandskräftigen Ausweisung sind in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union geklärt (vgl. z.B. U.v. 13.1.2004 – Rs. C-453/00, Kühne & Heitz -; U.v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06, Kempter – jeweils juris; vgl. auch BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15.08 – juris Rn. 30 ff.). Dass diese Voraussetzungen im Fall des Klägers vorliegen, wird im Zulassungsantrag weder geltend gemacht noch ist dies hier sonst ersichtlich.
2. Unabhängig davon, dass eine unionsrechtliche Vorlagepflicht ohnehin nur für letztinstanzliche Gerichte gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht, kann aus den oben dargelegten Gründen auch der gerügte Verfahrensmangel in Form eines Verstoßes gegen den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) durch die in erster Instanz unterbliebene Anrufung des Europäischen Gerichtshofs nicht vorliegen (zu den Voraussetzungen einer Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht und gleichzeitig der Gewährleistung des gesetzlichen Richters vgl. zuletzt BVerfG, B.v. 14.1.2021 – 1 BvR 2853/19 – juris Rn. 11 ff.).
Zulassungsgründe hinsichtlich der Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den hilfsweise geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Aufhebung oder Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG sind mit dem Zulassungsvorbringen nicht aufgezeigt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung für die Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1 und 3, § 45 Abs. 1 Satz 2 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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