Europarecht

Zeitliche Dringlichkeit in Patentsachen

Aktenzeichen  6 U 6968/20

Datum:
22.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
GRUR-RS – 2021, 12272
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
EPÜ Art. 52, Art. 87, Art. 100 Buchst. a, Art. 100 Buchst. c
ZPO § 945

 

Leitsatz

1. Die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung zu wahrende Dringlichkeitsfrist beträgt einen Monat. Sie wird in Lauf gesetzt, wenn der Antragsteller Kenntnis von der fraglichen Verletzungshandlung und dem hierfür Verantwortlichen hat und alle Informationen und Glaubhaftmachungsmittel besitzt, um mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen zu können. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
2. Sobald der Patentinhaber das mutmaßlich patentverletzende Erzeugnis in den Händen hat, trifft ihn die Obliegenheit, den betreffenden Gegenstand zügig und umfassend auf das Vorliegen einer Schutzrechtsverletzung zu untersuchen.  (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Patentinhaber ist in der Wahl des durch ihn mit der Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform beauftragten Labors grundsätzlich frei, solange das betreffende Labor nicht von vornherein ungeeignet erscheint, um die von ihm geforderten Untersuchungen in einem zeitlich vertretbaren Rahmen durchzuführen. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

21 O 11628/20 2020-11-04 Endurteil LGMUENCHENI LG München I

Tenor

I.  Die Berufung der Antragstellerin gegen das Endurteil des Landgericht München I vom 04.11.2020, Az. 21 O 11628/20, wird zurückgewiesen.
II.  Die Antragstellerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Gründe

II.
Die gemäß § 511 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere gemäß §§ 519 Abs. 1, Abs. 2, 517 ZPO form- und fristgerecht eingelegte und gemäß § 520 Abs. 2, Abs. 3 ZPO begründete Berufung der Antragstellerin hat keinen Erfolg.
Soweit das Landgericht das Bestehen des geltend gemachten Unterlassungsanspruchs in der Sache bejaht hat, wendet sich die Berufung hiergegen nicht.
Es fehlt jedoch an dem für die Zulässigkeit des Verfügungsantrags erforderlichen Verfügungsgrund. Die Antragstellerin hat die zeitliche Dringlichkeit nicht glaubhaft gemacht. Im Übrigen ist das Landgericht im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass kein hinreichend gesicherter Rechtsbestand des Verfügungspatents angenommen werden kann.
Der Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt gem. §§ 935, 940 ZPO eine objektiv begründete Gefahr voraus, dass die Rechtsverwirklichung des Antragstellers mittels eines erst im Hauptsacheprozess erlangten Urteils vereitelt oder erschwert werden könnte. Dies verlangt zum einen eine für die Eilmaßnahme sprechende rein zeitliche Dringlichkeit und daneben eine Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen den dem Schutzrechtsinhaber ohne den Erlass der beantragten Verfügung drohenden Nachteilen, welche gegen die Interessen des als Verletzer in Anspruch genommenen Antragsgegners abgewogen werden müssen. Das Vorliegen eines Verfügungsgrundes ist seitens der Antragstellerin darzulegen und glaubhaft zu machen (§§ 936, 920 Abs. 2 ZPO).
1. Die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendige Dringlichkeit kann im Streitfall nicht angenommen werden.
a) Die erforderliche zeitliche Dringlichkeit ist grundsätzlich zu verneinen, wenn der Antragsteller mit der Rechtsverfolgung ohne sachlichen Grund zu lange zögert, da er in diesen Fällen selbst zu erkennen gibt, dass er nicht derart eilig auf das begehrte Verbot angewiesen ist, dass es ihm nicht zugemutet werden könnte, sein Rechtsschutzziel in einem Hauptsacheverfahren durchzusetzen. Die nach ständiger Rechtsprechung des Senats dabei zu wahrende einmonatige Dringlichkeitsfrist wird in Lauf gesetzt, wenn der Antragsteller Kenntnis von der fraglichen Verletzungshandlung und dem hierfür Verantwortlichen hat und er alle Informationen und Glaubhaftmachungsmittel besitzt, um mit Aussicht auf Erfolg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung stellen zu können (st. Rspr. des Senats, vgl. die Nachw. bei Retzer in Harte/Henning, UWG, 4. Aufl., Anh. zu § 12 Rn. 957; s.a. Senat, GRUR 2020, 385 Rn. 60 – Elektrische Anschlussklemme). Die erforderlichen Glaubhaftmachungsmittel muss sich der Antragsteller zuvor mit der gebotenen Eile beschaffen (Retzer, a.a.O., § 12 Rn. 317). Sobald der Patentinhaber das mutmaßlich patentverletzende Erzeugnis in den Händen hat, trifft ihn die Obliegenheit, den betreffenden Gegenstand zügig und umfassend auf das Vorliegen einer Schutzrechtsverletzung zu untersuchen, also die notwendigen Untersuchungen alsbald in die Wege zu leiten, diese zielstrebig zum Abschluss zu bringen und, sofern sich ein positiver Befund ergibt, anschließend ohne übermäßiges Zögern die sich daraus ergebenden Verbietungsansprüche zu verfolgen (vgl. Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 13. Auflage, Kap. G Rn. 141). Generell darf er dabei einen sicheren Weg gehen und alle Glaubhaftmachungsmittel beschaffen, die bei einem denkbaren Verteidigungsverhalten des Gegners erforderlich werden können (Kühnen a.a.O.; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236, 238 – Flupirtin-Maleat). Maßgeblich ist stets, ob der Antragsteller das Seinige getan hat, um seine Verbietungsrechte zügig durchzusetzen, also ob er seine Rechtsverfolgung in einer Weise vorantreibt, die die Ernsthaftigkeit seines Bemühens erkennen lässt und es deswegen objektiv rechtfertigt, ihm Zugang zum einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu gewähren. Dass jede Aufklärungs- und Verfolgungsmaßnahme für sich betrachtet ggf. auch zügiger hätte absolviert werden können, ist nicht von Belang (Kühnen a.a.O. Kap. G Rn. 131; OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236, 238 – Flupirtin-Maleat).
b) Im hier zu beurteilenden Streitfall ist unter Berücksichtigung der Gesamtumstände festzustellen, dass die Antragstellerin im Rahmen der Ermittlung des Verletzungssachverhalts nicht die gebotene Eile und Zielstrebigkeit an den Tag gelegt hat, um den Schluss zu rechtfertigen, dass sie auf die Durchsetzung ihres Rechtsschutzziels in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren angewiesen ist (vgl. auch im Parallelverfahren LG Düsseldorf, Urt. vom 15.01.2021, Az. 4c O 55/20, Anlage PBP BE9).
(1.) Die Antragstellerin hatte ausweislich ihrer Berechtigungsanfrage an die Antragsgegnerin vom 27.02.2020 (Anlage ropl) seit diesem Zeitpunkt von der Existenz der angegriffenen Ausführungsform als solcher Kenntnis. Seit dem 24.04.2020 war der Antragstellerin bekannt, dass die angegriffene Ausführungsform der Antragsgegnerin in Deutschland vertrieben werden würde (vgl. Anlagen rop33, rop35a/35b), die Listung in der Lauer-Taxe erfolgte zum 01.05.2020. Der Erwerb des Testmusters der angegriffenen Ausführungsform erfolgte am 05.05.2020. Dieses wurde – im Hinblick auf die nach US-Recht geltenden Einfuhrbeschränkungen – am 11.05.2020 auf dem einfachen Postweg an die niederländische Tochtergesellschaft des in den USA sitzenden Labors … übermittelt. Von dort wurde das Muster an das Testlabor in den USA weiterversandt, wo es am 01.06.2020 einging. Die Untersuchung des Testmusters begann am 06.07.2020, das Ergebnis lag am 07.08.2020 vor.
(2.) Jedenfalls ab Erwerb des Testmusters am 05.05.2020 oblag es der Antragstellerin, im Interesse der Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes gegen den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform in Deutschland alle ihr möglichen und zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um eine zügige Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform durchzuführen. Der Patentinhaber ist in der Wahl des durch ihn mit der Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform beauftragten Labors zwar grundsätzlich frei, allerdings darf das betreffende Labor nicht von vornherein ungeeignet erscheinen, um die von ihm geforderten Untersuchungen in einem zeitlich vertretbaren Rahmen durchzuführen (OLG Düsseldorf Beschl. v. 15.2.2021 – 2 W 3/21, GRUR-RS 2021, 2572, LS 2. – Cinacalcet). Im Streitfall stellt sich die Beauftragung des von der Antragstellerin gewählten Labors in den USA vor dem Hintergrund, dass dieses bereits praktische Erfahrung mit der Testung von Cinacalcet-Produkten und sich dabei als sorgfältig und zuverlässig erwiesen hatte, zwar grundsätzlich als nachvollziehbar und sachlich gerechtfertigt dar (s.a. OLG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 17 – Cinacalcet). Allerdings waren bereits 9 Wochen ab dem Erwerb des Testmusters am 05.05.2020 und 5 Wochen ab Eingang des Testprodukts bei dem beauftragten Labor verstrichen, bis – am 06.07.2020 – überhaupt mit der Untersuchung einmal begonnen wurde. Dabei ist nach den zugrunde liegenden Feststellungen davon auszugehen, dass der Antragstellerin bekannt war, dass das Labor noch mit einer anderen Testrunde befasst war und eine Untersuchung des streitgegenständlichen Musters erst nach deren Abschluss beginnen würde. Ob vor diesem Hintergrund für die nunmehr anstehende Untersuchung die Beauftragung eines anderen Labors im Interesse einer zügigen Rechtsdurchsetzung angezeigt und sachdienlich gewesen wäre, wie von Antragsgegnerseite geltend gemacht wurde, oder ob die bereits erfolgte Vorbefassung des US-Labors mit Cinacalcet-Produkten aus der objektiven ex-ante Betrachtung in der Lage der Antragstellerin einen gewichtigen und zu berücksichtigen Grund für dessen erneute Beauftragung darstellt, bedarf keiner abschließenden Beurteilung. Denn auch wenn man zugunsten der Antragstellerin unterstellt, dass die Auswahl des Testlabors – insbesondere unter dem Aspekt, dass sich dieses Labor bereits mit den hier relevanten Produkten befasst und diesbezüglich bewährt hatte – unter Dringlichkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden war, so hat sie im Rahmen ihrer Glaubhaftmachungslast weiterhin darzutun, dass die Durchführung der Untersuchung mit dem nötigen Nachdruck verfolgt wurde und hierbei keine Verzögerungen eingetreten sind, die im Interesse eines eiligen Rechtsschutzes vermeidbar gewesen wären. In diesem Zusammenhang ist insbesondere darzulegen und glaubhaft zu machen, dass seitens der Antragstellerin mit der gebotenen Zielstrebigkeit – auch wenn eine größtmögliche Schnelligkeit nicht zu verlangen ist (vgl. Kühnen a.a.O., Kap. G Rn. 131; OLG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 17 – Cinacalcet) – die erforderlichen Schritte unternommen worden sind, um das Testverfahren durch das von ihr beauftragte Testlabor zu einem zügigen Ergebnis zu führen.
Nach dem Vortrag der Antragstellerin konnte die Untersuchung der hier angegriffenen Ausführungsform erst nach Abschluss der zweiten Testrunde mit Cinacalcet-Produkten anderer Generikahersteller beginnen, da sich anderenfalls die Untersuchungszeit aller Testungen der zweiten und dritten Runde verzögert hätte (vgl. eidesstattliche Versicherung …, Ziff. 4., Anlage rop34). Allerdings ist nicht nachvollziehbar dargetan, weshalb seit dem 23.06.2020 (Abschluss der zweiten Testrunde) noch einmal knapp zwei Wochen verstrichen sind, bis schließlich am 06.07.2020 die Untersuchung der angegriffenen Ausführungsform durch das Testlabor begonnen wurde. Dass in dieser Zeit Handlungen erfolgt wären, um die Aufklärung des Verletzungssachverhaltes voranzutreiben, was gerade angesichts der bereits verstrichenen langen Zeit im Interesse einer zügigen Rechtsdurchsetzung besonders angezeigt gewesen wäre, wurde weder substantiiert vorgetragen, noch ist dies sonst erkennbar. Soweit die Antragstellerin hierzu vorbringt, es hätten noch „interne Abstimmungen und Genehmigungen“ – deren Inhalt nicht näher dargelegt wird – eingeholt und die Kosten angewiesen werden müssen, fehlt – abgesehen von der Pauschalität dieses Vortrags – eine Erklärung dafür, weshalb dies im Interesse einer zügigen Rechtsdurchsetzung nicht bereits zuvor erfolgt ist, nachdem das Testmuster dem Labor bereits seit mehreren Wochen vorlag. Hierin unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt auch von den vom OLG Düsseldorf entschiedenen Fällen, auf die sich die Antragstellerin beruft (Az. I-2 W 3/21, GRUR-RS 2021, 2572 sowie Az. I-2 W 4/21, Anlage rop46). Dort hatte die Antragstellerin eine zweiwöchige Zeitspanne zwischen dem Eingang des Musters und dem Beginn der Untersuchung nach dem Dafürhalten des OLG Düsseldorf nachvollziehbar erläutert, so dass ein verzögerter Untersuchungsbeginn nicht festgestellt wurde (a.a.O., GRUR-RS 2021, 2572 Rn. 23 – Cinacalcet).
(3.) Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des lediglich allgemein gehaltenen Vorbringens der Antragstellerin zu generell üblichen Testabläufen (vgl. eidesstattliche Versicherung von … in Anlage rop34) nicht festgestellt werden kann, weshalb die erforderlichen Arbeitsschritte bei dem beauftragten Labor im Rahmen der hier konkret betroffenen Untersuchung der angegriffenen Ausführungsformen entsprechend lange gedauert haben. Abgesehen von der vorgenannten, nur allgemein gehaltenen eidesstattlichen Versicherung der Frau … wurde ein Testbericht zu der hier konkret vorgenommenen Untersuchung nicht vorgelegt. Somit wurde nicht dargelegt, welchen Inhalt und Umfang die Untersuchung tatsächlich hatte. Welche Arbeitsschritte zum Testen der angegriffenen Ausführungsform konkret wann und mit welcher Zeitdauer durchgeführt wurden, hat die Antragstellerin nicht schlüssig dargetan. So entfiel bei der Untersuchung des hier streitgegenständlichen Musters der erste in Anhang 1 der Anlage rop34 genannte übliche Arbeitsschritt, nämlich die Beschaffung des Musters bereits vollständig, nachdem dem Labor das streitgegenständliche Muster bereits seit dem 01.06.2020 vorlag. Für diesen im Streitfall nicht mehr auszuführenden Arbeitsschritt wird nach dem Vorbringen der Antragstellerin ein Zeitraum von zwei Tagen bis zu mehr als drei Wochen angesetzt (vgl. eidesstattliche Versicherung von …, Anlage rop34). Auch der zweite angegebene Arbeitsschritt – das Einloggen der Probe ins System des Labors – hätte jedenfalls mit dem Eingang der Muster am 01.06.2020 bereits vorgenommen werden können. Vor diesem Hintergrund ist das Vorbringen der Antragstellerseite zur erforderlichen Dauer der streitgegenständlichen Untersuchung nicht schlüssig.
(4.) Demnach hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass sie im Streitfall diejenigen Maßnahmen, die erforderlich waren, um eine Testung der angegriffenen Ausführungsform durchführen zu lassen, mit der notwendigen Zielstrebigkeit durchgeführt hat, um einstweiligen Rechtsschutz zu erlangen. Ihr Verhalten lässt im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung nicht erkennen, dass ihr an einer zügigen Rechtsdurchsetzung gelegen war. Vielmehr hat sie sich nach den zugrunde liegenden Feststellungen im Wesentlichen darauf beschränkt, nach der Übermittlung des zu untersuchenden Musters an das Labor die sich hinziehende Dauer der Untersuchung bis zum Eingang eines Ergebnisses abwartend hinzunehmen.
(5.) Wenngleich es darauf nicht entscheidungserheblich ankommt, hat die Antragstellerin auch nach Vorliegen der Testergebnisse am 07.08.2020 nicht zu einer beschleunigten Rechtsdurchsetzung beigetragen. So wurde der Verfügungsantrag am letzten Tag der Monatsfrist, den 07.09.2020, bei Gericht eingereicht. Die Antragstellerin beruft sich in diesem Zusammenhang darauf, dass die Testergebnisse für insgesamt vier verschiedene Generika-Unternehmen mitgeteilt worden seien, gegen die parallele Verfügungsanträge aus insgesamt drei parallelen Patenten bei jeweils leicht abweichendem Sachverhalt gleichzeitig hätten vorbereitet und abgestimmt werden müssen, wobei kurz zuvor erst noch die jeweiligen Einspruchserwiderungen in den gegen die Verfügungspatente anhängigen Einspruchsverfahren fertiggestellt worden seien – welche allerdings bereits vom 24.08.2020 datieren (Anlage rop14a/14b). also zwei Wochen vor Stellung des Verfügungsantrags. Die Ausschöpfung der vorgegebenen Fristen setzt sich auch im Berufungsverfahren fort, indem auch hier sowohl die einmonatige Berufungseinlegungsfrist, als auch die zweimonatige Berufungsbegründungsfrist seitens der Antragstellerin jeweils bis zum letztmöglichen Tag ausgenutzt wurden. Zwar hat der Senat ein Ausschöpfen dieser Fristen bislang grundsätzlich nicht als dringlichkeitsschädlich angesehen (offen gelassen mit Urt. v. 30.6.2016 – 6 U 531/16, GRUR-RR 2016, 499 Rn. 77 – Verkaufsaktion für Brillenfassungen), allerdings könnte dies in Zusammenschau mit einem bereits zuvor an den Tag gelegten zögerlichen Verhalten anders zu bewerten sein, insbesondere wenn – wie im Streitfall – die Ermittlung des Verletzungssachverhalts bereits einen überaus langen Zeitraum in Anspruch genommen hat, da in diesen Fällen einem auf Eilrechtsschutz angewiesenen Antragsteller ganz besonders daran gelegen sein müsste, die notwenigen Schriftsätze baldmöglichst bei Gericht einzureichen.
Im Streitfall bedarf es hierzu allerdings keiner abschließenden Beurteilung, nachdem die Antragstellerin aus den vorstehend genannten Gründen bereits nicht glaubhaft gemacht hat, dass sie im Rahmen der Beschaffung der erforderlichen Glaubhaftmachungsmittel (Untersuchung des Verletzungsgegenstands) mit der gebotenen Zielstrebigkeit vorgegangen ist, die ein ernsthaftes Bemühen um die Erlangung eiligen Rechtsschutzes erwarten lassen würde.
2. Der erforderliche Verfügungsgrund ist daneben auch mangels hinreichend gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents zu verneinen, wie auch das Landgericht bereits befunden hat.
a) Das Erfordernis des Verfügungsgrundes umfasst in Patentstreitigkeiten auch die Darlegung und Glaubhaftmachung, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents hinreichend gesichert ist. Das Landgericht stellt diesbezüglich darauf ab, dass „jedenfalls in Fällen, in denen sich die Unwirksamkeit eines Patents geradezu aufdrängt und ein Widerruf im Rahmen eines anhängigen Einspruchsverfahrens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, die Annahme der für den Erlass einer einstweiligen Verfügung notwendigen Dringlichkeit nicht in Betracht“ komme (vgl. LGU Seite 10 unten). Dabei folgt es im Ansatz nicht der Rechtsprechung des Senats, der sich mit Urteil vom 12.12.2019 (GRUR 2020, 385 Rn. 69 – elektrische Anschlussklemme) der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Karlsruhe und Düsseldorf angeschlossen hat, wonach im Regelfall eine einstweilige Verfügung nur erlassen werden kann, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat, wenn also bereits eine die Schutzfähigkeit bestätigende Entscheidung im Einspruchs-/Beschwerdeverfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) oder des Bundespatentgerichts im Nichtigkeitsverfahren vorliegt (vgl. OLG Düsseldorf GRUR-RR 2008, 329 – Olanzapin; GRUR-RR 2011, 81 – Harnkatheterset; GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 14 ff – Cinacalcet II; OLG Karlsruhe GRUR-RR 2015, 509 – Ausrüstungssatz).
Von dem Erfordernis einer dem Antragsteller günstigen streitigen Rechtsbestandsentscheidung kann allerdings in Sonderfällen abgesehen werden (vgl. Senat a.a.O. Rn. 62, 69 – Elektrische Anschlussklemme; OLG Düsseldorf, BeckRS 2010, 15862 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 21 ff.; Kühnen a.a.O., Kap. G Rn. 55 ff.). Dies gilt insbesondere, wenn außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es für den Antragsteller wegen der ihm aus einer Fortsetzung der Verletzungshandlungen drohenden Nachteile unzumutbar machen, den Ausgang eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten. Bei einer Patentverletzung durch ein Generikaunternehmen – wie sie im Streitfall vorliegt – ist der hierdurch entstehende Schaden im Falle einer späteren Aufrechterhaltung des Patents vielfach sehr hoch und – mit Rücksicht auf den durch eine entsprechende Festsetzung von Festbeträgen verursachten Preisverfall – nicht wieder gut zu machen, wohingegen eine (wegen späterer Vernichtung des Patents) unberechtigte Verfügung lediglich zur Folge hat, dass das Generikaunternehmen vorübergehend zu Unrecht vom Markt ferngehalten wird. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass das Generikaunternehmen für seine Marktpräsenz im Allgemeinen keine eigenen wirtschaftlichen Risiken eingeht, weil das Präparat dank des Patentinhabers medizinisch hinreichend erprobt und am Markt etabliert ist. Daher kann in diesen Fällen eine Verbotsverfügung auch dann ergehen, wenn für das Verletzungsgericht keine endgültige Sicherheit über den Rechtsbestand gewonnen werden kann, wenn aber die besseren Argumente für die Patentfähigkeit sprechen, so dass sie sich positiv bejahen lässt, oder wenn (mit Rücksicht auf die im Rechtsbestandsverfahren geltende Beweislastverteilung) die Frage der Patentfähigkeit mindestens ungeklärt bleibt (Kühnen a.a.O. Rn. 60, 61; OLG Düsseldorf, a.a.O. – Flupirtin-Maleat; OLG Düsseldorf. a.a.O. Rn 22 – Cinacalcet II) Soweit die Antragsgegnerseite eingewandt hat, die Interessenlage weiche im hier vorliegenden Fall von der typischen Konstellation einer Verletzungshandlung durch ein Generikaunternehmen ab, weil zahlreiche andere Generikahersteller vergleichbare Cinacalcet-Produkte am Markt vertrieben, die seitens des Antragstellerin – weil sie nicht unter deren Patente fielen – nicht angegriffen werden könnten, so dass ein Preisverfall auch bei Unterbindung des Vertriebs der hier angegriffenen Ausführungsform nicht mehr zu verhindern sei, kann dahinstehen, ob dies eine strengere Rechtsbestandsprüfung gebieten könnte, nachdem – wie nachfolgend ausgeführt wird – eine hinreichende Sicherung des Rechtsbestands auch auf der Grundlage des oben dargestellten Maßstabs nicht angenommen werden kann.
b) Im Streitfall geht die Einspruchsabteilung des EPA in ihrer vorläufigen Stellungnahme vom 05.03.2021 (Anlage rop39a) von einer Aufrechterhaltung des Verfügungspatents aus. Die vorläufige Auffassung der Einspruchsabteilung ist allerdings nicht bindend und sie nimmt die spätere Entscheidung auch nicht vorweg. Andererseits ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der vorläufigen Stellungnahme der Einspruchsabteilung als technisch fachkundige Stelle regelmäßig bereits eine umfassende Prüfung zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund kann bei einer deutlich geäußerten und sorgfältig begründeten vorläufigen Auffassung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass die bescheidsmäßig dokumentierte Auffassung ihren Niederschlag in der späteren Entscheidung finden wird (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O., Rn. 23 – Cinacalcet II).
c) Vorliegend hat die Antragsgegnerseite allerdings beachtliche Einwände gegen die seitens des EPA geäußerte vorläufige Beurteilung vorgebracht, die in der Stellungnahme des EPA nicht behandelt werden. Aufgrund dessen kann der vorläufigen Stellungnahme des EPA eine hinreichende Indizwirkung für den Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht beigemessen werden:
(1.) Unzulässige Erweiterung
(a) Gem. Art. 100 lit. c) EPÜ kann der Einspruch gegen das Verfügungspatent darauf gestützt werden, dass der Gegenstand des europäischen Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder, wenn das Patent auf einer Teilanmeldung beruht, über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Nach Art. 76 Abs. 1 S. 2 HS 1 EPÜ kann eine europäische Teilanmeldung nur für einen Gegenstand eingereicht werden, der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Dabei sind nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern die zu Art. 123 Abs. 2 und Art. 100 lit. c) EPÜ entwickelten Grundsätze auch auf die Beziehung zwischen Teilanmeldung und Stammanmeldung zu übertragen, insbesondere, wenn es zu bestimmen gilt, was über den Inhalt der früheren Anmeldung i.S.v. Art. 76 Abs. 1 EPÜ hinausgeht (vgl. Benkard/Dobrucki/Bacchin, EPÜ, 3. Aufl. 2019, Art. 76 Rn. 9 m.w.N.; BeckOK PatR/Gleiter/Fischer, 19. Ed. 15.1.2021, EPÜ Art. 76 Rn. 34). Danach muss der Gegenstand der Teilanmeldung für den Fachmann unmittelbar und eindeutig aus der Stammanmeldung ableitbar sein (Benkard/Dobrucki/Bacchin, a.a.O., m.w.N.). Art. 76 Abs. 1 S. 2 und Art. 123 Abs. 2 EPÜ erfüllen denselben Zweck, nämlich zum einen Rechtssicherheit für Dritte zu gewährleisten, die sich auf den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung verlassen, und zum anderen einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Patentanmeldern und Dritten herzustellen, indem die Belange Dritter dadurch geschützt werden, dass es verboten ist, den Inhalt der Anmeldung durch Änderungen über die ursprüngliche Offenbarung hinaus zu erweitern (Benkard/Dobrucki/Bacchin, a.a.O., m.w.N.). Dabei ist unter „Inhalt“ i.S.v. Art. 76 Abs. 1 EPÜ der gesamte technische Inhalt der früheren Anmeldung, also ihre gesamte in den Ansprüchen und der Beschreibung enthaltene Offenbarung zu verstehen (Benkard EPÜ/Dobrucki/Bacchin, a.a.O., Art. 76 Rn. 7). Zur Feststellung einer unzulässigen Erweiterung ist der zur Prüfung gestellte Anspruch mit dem Inhalt der ursprünglichen Unterlagen zu vergleichen. Der Anspruch darf nicht auf einen Gegenstand gerichtet sein, den die Anmeldeunterlagen in der ursprünglich eingereichten Fassung aus der Sicht des Fachmanns nicht als zur Erfindung gehörend erkennen lassen (BGH GRUR 2017, 1105 Rn. 21 – Phosphatidylcholin; BGH GRUR 2011, 1109 Rn. 36 – Reifenabdichtmittel). Eine Änderung darf nach dem sog. „Goldstandard“ nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Durchschnittsfachmann im Prioritätszeitpunkt unter Heranziehen des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig – d.h. ohne weiteres Nachdenken und ohne nähere Überlegung – aus dem Offenbarungsgehalt der ursprünglichen Fassung in ihrer Gesamtheit entnimmt (vgl. EPA v. 8.7.2020 – T 437/17, GRUR-RS 2020, 16273 Rn. 21 – Schaufelartiger Backenbrecher). Alle in der Teilanmeldung beanspruchten Merkmale müssen entweder in der Beschreibung oder den Ansprüchen oder in Zeichnungen der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Entsprechung finden (Benkard EPÜ/Schäfers/Sendrowski, a.a.O., 123 Rn. 177).
(b) Bei dem Verfügungspatent handelt es sich um eine Teilanmeldung, die auf die Stammanmeldung WO ’928 (Anlage HW7) zurückgeht. Das Verfügungspatent muss daher – wie unter (a) dargelegt – nicht nur die Voraussetzungen des Art. 123 Abs. 2 EPÜ erfüllen, sondern auch die des Art. 76 Abs. 1 S. 2 EPÜ.
(aa) Das Verfügungspatent betrifft eine Schnellauflösungsformulierung enthaltend den Wirkstoff Cinacalcet-HCI. Gemäß Abs. [0002] der Patentschrift sind calciumrezeptoraktive Verbindungen wie beispielsweise Cinacalcet-HCI im Stand der Technik bekannt. Solche calciumrezeptoraktiven Verbindungen können unlöslich oder kaum löslich sein in Wasser, speziell in ihrem nicht-ionisiertem Zustand. Beispielsweise hat Cinacalcet eine Löslichkeit in Wasser von weniger als ungefähr 1 µg/ml bei neutralem pH. Die Löslichkeit von Cinacalcet kann ungefähr 1,6 mg/ml erreichen, wenn der pH im Bereich zwischen ungefähr 3 bis ungefähr 5 liegt. Liegt der pH jedoch ungefähr bei dem Wert 1, sinkt die Löslichkeit auf ungefähr 0,1 mg/ml. Eine solche begrenzte Löslichkeit kann die Anzahl der Formulierungen und Darreichungsformen begrenzen, welche für diese calciumrezeptoraktiven Verbindungen verfügbar sind. Begrenzte Wasserlöslichkeit kann zudem in einer niedrigen Bioverfügbarkeit der Verbindungen resultieren (Abs. [0002]).
Ausgehend von diesem Stand der Technik stellt sich das Verfügungspatent die Aufgabe, die Auflösbarkeit der calciumrezeptoraktiven Verbindung aus einer Dosierungsform – möglichst während der in vivo-Exposition – zu verbessern (Abs. [0003]). Ferner besteht dem Verfügungspatent zu Folge das Bedürfnis, die Bioverfügbarkeit der calciumrezeptoraktiven Verbindung während der in vivo-Exposition zu verbessern (s.a. EPA, vorl. Stellungnahme vom 05.03.2021, Rn. 6.18).
Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Verfügungspatent gemäß seines Patentanspruchs 1 folgende Zusammensetzung vor:
1. Eine pharmazeutische Zusammensetzung umfassend
2. a) Cinacalcet-HCI;
3. b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger, umfassend
3.1 mikrokristalline Cellulose in einer Menge im Bereich von 25–85 % und
3.2 Stärke in einer Menge im Bereich von 5–35 % und
3.3 wobei das Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem im Bereich von 1:1–15:1 liegt,
3.4 wobei der Prozentsatz nach Gewicht auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung bezogen ist.
Die Stammanmeldung WO ’928 (Anlage HW7) betrifft eine Schnellauflösungsformulierung einer calciumrezeptoraktiven Verbindung. Die Ausführungen zum Stand der Technik in Abs. [0002] der Stammanmeldung und zur patentgemäßen Aufgabe in Abs. [0003] der Stammanmeldung entsprechen den Ausführungen in Abs. [0002] und [0003] des Verfügungspatents.
Die Stammanmeldung umfasst vier verschiedene Erfindungskomplexe, nämlich eine pharmazeutische Zusammensetzung, die eine calciumrezeptoraktive Verbindung enthält und sich durch ein ganz bestimmtes Auflösungsprofil auszeichnet (Ansprüche 1 bis 60), ein Herstellungsverfahren für eine pharmazeutische Zusammensetzung (Ansprüche 61 bis 77), eine pharmazeutische Formulierung bestimmter stofflicher Zusammensetzungen ohne Rücksicht auf ein spezielles Auflösungsprofil (Ansprüche 78 bis 112) sowie ein Verfahren zur Steuerung der Auflösungsgeschwindigkeit (Ansprüche 113 bis 118). Sie lehrt also zum einen Stoffansprüche, die maßgeblich über ihr Auflösungsprofil gekennzeichnet werden (vgl. Ansprüche 1 bis 60, Beschreibung Abs. [0006], [0007]) und zum anderen solche, die ausschließlich über ihre stoffliche Konstitution definiert sind (vgl. Ansprüche 78 bis 112, Beschreibung Abs. [0033] bis [0040]).
(bb) Die Antragstellerin macht geltend, die maßgebliche Offenbarung des Anspruchs 1 des Verfügungspatents ergebe sich aus den Absätzen [0004], [0013], [0034] und [0035] der Stammanmeldung.
Abs. [0004] der Stammanmeldung beschreibt eine allgemeine und aus dem Stand der Technik bekannte Zielsetzung, einen bestimmten (calciumrezeptoraktiven) Wirkstoff in Kombination mit einem geeigneten Arzneimittelträger zur Verfügung zu stellen, wobei ein bestimmtes Auflösungsprofil erforderlich ist. Eine Arzneimittel-Verbindung des Wirkstoffs Cinacalcet-HCI mit bestimmten Anteilen an mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem spezifischen Gewichtsverhältnis wird in diesem Absatz nicht beschrieben. Der weiter von Antragstellerseite herangezogene Abs. [0013] der Stammanmeldung beschreibt die Verwendung des aus dem Stand der Technik im Prioritätszeitpunkt bekannten Wirkstoffs Cinacalcet-HCI als einen möglichen calciumrezeptoraktiven Arzneimittelbestandteil. Dazu wird näher erläutert, dass der Wirkstoff Cinacalcet-HCI in verschiedenen Formen bereitgestellt werden kann (etwa amorphe Pulver, kristalline Pulver und Gemische entsprechender Pulver). Die Ausführungen in Absätzen [0004] und [0013] offenbaren demnach die allgemeinen Merkmale 1., 2. und 3. von Anspruch 1 des Verfügungspatents („Eine pharmazeutische Zusammensetzung umfassend a) Cinacalcet-HCI, b) einen pharmazeutisch akzeptablen Arzneistoffträger“), sie geben dem angesprochenen Fachmann – einem Team aus einem Mediziner und einem Pharmazeuten mit jeweils mehrjähriger Berufserfahrung in der Entwicklung von pharmazeutischen Zusammensetzungen – aber keine näheren Hinweise in Bezug auf die in den Merkmalen 3.1 bis 3.4 enthaltenen konkreten Anforderungen an einen anspruchsgemäßen Arzneistoffträger.
Die Darlegungen in den Absätzen [0034] und [0035] beinhalten – wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat – jeweils einzelne Merkmale des Anspruchs 1, nämlich Abs. [0034] das Merkmal 3.3 („wobei das Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem Bereich von 1:1–15:1 liegt“) und Abs. [0035] die Merkmale 3.1 („mikrokristalline Cellulose in einer Menge im Bereich von 25–85 %“), 3.2. („Stärke in einer Menge im Bereich von 5–35 %“) und 3.4. („wobei der Prozentsatz nach Gewicht auf das Gesamtgewicht der Zusammensetzung bezogen ist“). Zwar genügt die Verbindung von Merkmalen, welche in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen einzeln, aber nicht in einer Kombination miteinander unmittelbar und eindeutig offenbart sind, den Anforderungen des Art. 123 Abs. 2 EPÜ grundsätzlich nicht, denn der Inhalt der ursprünglichen Unterlagen darf nicht als „Reservoir“ betrachtet werden, aus dem Merkmale aus verschiedenen Ausführungsformen beliebig miteinander kombiniert werden dürfen. Dies hätte nämlich zur Folge, dass künstlich eine völlig neue Ausführungsform mit einer neuen Merkmalskombination kreiert werden könnte (BeckOK PatR/Böhm, 19. Ed. 15.1.2020, EPÜ Art. 123 Rn. 144, 145 m.w.N.). Vorliegend ist der Antragstellerin jedoch insoweit zuzustimmen, als die Absätze [0034] und [0035] als zusammengehörig und aufeinander bezogen zu lesen sind. So wird in Abs. [0035] durch die Verwendung des bestimmten Artikels „The“ („The microcrystalline cellulose …“ und „The starch …“). unmittelbar und eindeutig auf die zuvor genannte Ausführungsform gemäß Abs. [0034] Bezug genommen. Soweit die Absätze [0034] und [0035] verschiedene Varianten möglicher Gewichts- und Mengenverhältnisse beschreiben, handelt es sich jeweils um beispielhafte Konkretisierungen in Bezug auf die zuvor allgemein angegebenen Bereiche, wie sie in Anspruch 1 des Verfügungspatents Niederschlag gefunden haben. So wird in Abs. [0034] das vorgeschlagene Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose und Stärke in einem allgemeinen Bereich von ca. 1:1 bis ca. 15:1 angegeben und werden anschließend lediglich beispielhaft Gewichtsverhältnisse im Rahmen dieses allgemeinen Bereichs genannt. In Abs. [0035] werden allgemeine Mengenbereiche von ca. 25 % bis ca. 85 % an mikrokristalliner Cellulose und von ca. 5 % bis ca. 35 % an Stärke beschrieben und anschließend jeweils beispielhaft in diesen Bereichen liegende Mengen genannt. Der Fachmann kann diesen Beschreibungsstellen folglich entnehmen, dass die prinzipiell angegebenen Bereiche (Gewichtsverhältnis von 1:1 zu 15:1 von mikrokristalliner Cellulose und Stärke; Mengenbereiche von ca. 25 % bis ca. 85 % an mikrokristalliner Cellulose und von ca. 5 % bis ca. 35 % an Stärke) beispielhaft („for example“) verengt werden können.
Vor diesem Hintergrund hat die Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Stellungnahme vom 05.03.2021 unter Ziff. 2.6. Folgendes ausgeführt:
„Die Einspruchsabteilung ist der vorläufigen, nicht bindenden Meinung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 wie erteilt die Erfordernisse der Artikel 76 und 123(2) EPÜ erfüllt. Die Absätze [0034] und [0035] geben das Verhältnis von MCC zu Stärke und die Menge an MCC und Stärke an, und alle Werte beziehen sich auf den breitest möglichen Bereich. Die Verwendung von HCI als Salz wird nicht als Auswahl betrachtet, da abgeleitet werden kann, dass dies die bevorzugte Form von Cinacalcet ist (siehe z.B. Beispiele). Daher ist die Einspruchsabteilung der vorläufigen Meinung, dass die Kombination dieser Merkmale aus diesen Passagen abgeleitet werden kann und Anspruch 1 in der erteilten Fassung die Erfordernisse des Artikels 100(c) EPÜ erfüllt. Auch die abhängigen Ansprüche erscheinen gewährbar.“
(cc) Der hiergegen von der Antragsgegnerin angeführte Einwand, wonach das Bindemittel mit einem bestimmten Gesichtsanteil in der Stammanmeldung als wesentliches Merkmal anzusehen sei, das nicht weggelassen werden könne, ohne dass eine unzulässige Erweiterung vorliege, wird zwar in Rn. 2.5 der vorläufigen Stellungnahme erwähnt, aber in der Begründung nicht behandelt. Ebenso wenig ist die Einspruchsabteilung auf die ihr vorliegenden eingehenden Ausführungen des Landgerichts zu dieser Frage im angegriffenen Ersturteil eingegangen. Wie vom Landgericht im Ersturteil zutreffend dargelegt, kann im Rahmen der Prüfung – ausgehend vom sog. Goldstandard, der darauf abstellt, was der Fachmann der Gesamtheit der Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (s.a. LGU Seite 12, letzter Abs.) – der sog. dreistufige Wesentlichkeitstest mit herangezogen werden. Danach darf das ersetzte oder gestrichene Merkmal in der ursprünglich eingereichten Offenbarung nicht als wesentlich dargestellt werden. Zudem muss der Fachmann unmittelbar und eindeutig erkennen, dass das Merkmal als solches für die Funktion der Erfindung unter Berücksichtigung der technischen Aufgabe, die sie lösen soll, nicht unerlässlich ist und dass das Ersetzen oder Streichen keine Angleichung eines oder mehrerer Merkmale erfordert. Die Antragstellerin wendet sich unter Berufung auf die Entscheidung des EPA vom 08.07.2020 – T 0437/17 (GRUR-RS 2020, 16273 – Schaufelartiger Backenbrecher) gegen die Anwendung des Wesentlichkeitstest. Hierzu ist festzustellen, dass das EPA in dieser Entscheidung ausgeführt hat, dass aus der Tatsache, dass sich bei Anwendung des dreistufigen Wesentlichkeitstests keine unzulässige Erweiterung des Anmeldegegenstandes ergebe, nicht automatisch gefolgert werden könne, dass keine unzulässige Erweiterung vorliege, insoweit also der Wesentlichkeitstest den sog. Goldstandard nicht ersetzen könne (EPA, a.a.O., Rn. 41 – Schaufelartiger Backenbrecher). Wenn festgestellt werden könne, ob eine Änderung im Rahmen dessen vorgenommen werde, was dem Fachmann unter Verwendung des allgemeinen Fachwissens, objektiv und relativ zum Anmeldetag, aus dem Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Schrift dargelegt sei, d. h ob die Änderung den Goldstandard erfülle, sei – so die Kammer des EPA – die sog. „Drei-Punkte-Wesentlichkeitsprüfung“ als „überflüssig, unnötig und irreführend“ anzusehen (EPA, a.a.O., Rn. 42). Andererseits weist die Beschwerdekammer aber darauf hin, dass die Erfüllung der Kriterien des Wesentlichkeitstests eine notwendige – wenn auch keine ausreichende – Voraussetzung für die Einhaltung des Artikels 123 Abs. 2 EPÜ sei (EPA, a.a.O., Rn. 39 – Schaufelartiger Backenbrecher: „The Board, in line with several decisions such as T 1472/15, point 2.3 of the reasons, and T 1852/13. point 2.2.3 of the reasons (none of them published in the OJ EPO), holds that the criteria (i)–(iii) listed above are to be seen as condiciones sine quibus non. which means that fulfilment of these criteria is a necessary requirement but not a sufficient one for the compliance of Article 123(2) EPC.“).
Im Rahmen der Prüfung, ob das ersetzte oder gestrichene Merkmal – hier die Verwendung eines Bindemittels mit einem bestimmten Gewichtanteil – in der ursprünglich eingereichten Offenbarung als wesentlich dargestellt wird, ist wiederum die Stammanmeldung in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Die Stammanmeldung lehrt dem Fachmann – wie oben dargelegt – in Ansprüchen 1 bis 60 (Beschreibung Abs. [0006], [0007]) Stoffzusammensetzungen, die über ihr Auflösungsprofil gekennzeichnet werden und in Ansprüchen 78 bis 112 (Beschreibung Abs. [0033] bis [0040]) Stoffzusammensetzungen, die ohne Benennung einer Auflösungsrate allein über ihre stoffliche Konstitution definiert sind. Bei dem hier geltend gemachten Anspruch 1 des Verfügungspatents handelt es sich um einen Stoffanspruch im Sinne der zweiten Gruppe, da dieser eine stoffliche Zusammensetzung ohne Angabe eines Auflösungsprofils beinhaltet. Die in Ansprüchen 78 bis 112 der Stammanmeldung offenbarten Stoffzusammensetzungen – insbesondere auch soweit sie Stärke in Verbindung mit mikrokristalliner Cellulose offenbaren (vgl. Ansprüche 98, 99, 106 bis 110) – enthalten sämtlich als Füllstoffe noch ein Sprengmittel und höchstens 5 Gew.-% eines Bindemittels (vgl. Rückbezug auf Anspruch 78). Dazu, weshalb sich die Verwendung eines Bindemittels mit einem bestimmten Gewichtsanteil im Zusammenhang mit der Beschreibung in Absätzen [0034] und [0035] der Stammanmeldung aus der Sicht des Fachmanns im maßgeblichen Prioritätszeitpunkt nicht als wesentlich und für die Lehre der Erfindung unerlässlich darstellt, verhält sich das EPA in dem Vorbescheid jedoch nicht. Die Argumentation der Antragsgegnerseite, wonach die in der Stammanmeldung offenbarte Lehre nur in der Zurverfügungstellung einer pharmazeutischen Zusammensetzung gesehen werden könne, die neben mikrokristalliner Cellulose und Stärke als Füllstoffe noch ein Sprengmittel und höchstens 5 Gew.-% eines Bindemittels enthalte, ist insoweit nicht von der Hand zu weisen, als eine schnell freisetzende Zusammensetzung, die ein Bindemittel in höheren Konzentrationen enthält – wie sie der offene Wortlaut des Anspruchs 1 des Verfügungspatents mitumfasst – in der Stammanmeldung nicht offenbart ist.
(2.) Neuheit
Die erforderliche Neuheit (Art. 100 (a) i.V.m. 52 EPÜ) steht im Hinblick auf das seit dem 04.04.2004 von der Antragstellerin in den USA auf den Markt gebrachte Produkt Sensipar® in Frage. Dass dem Verfügungspatent im weiteren Verlauf des Einspruchsverfahrens eine wirksame Inanspruchnahme der Priorität der US-Patentanmeldung US ’219 vom 12.09.2003 über die PCT-Anmeldung WO ’928 zuerkannt wird, stellt sich – auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Einspruchsabteilung in ihrer vorläufigen Stellungnahme – als unsicher dar.
(a) Nach Art. 87 Abs. 1 EPÜ genießt jeder, der in bestimmten Ländern ordnungsgemäß eine Patentanmeldung eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger, für die Anmeldung derselben Erfindung zum Europäischen Patent während einer Frist von zwölf Monaten nach dem Anmeldetag der Erstanmeldung ein Prioritätsrecht, welches es ihm erlaubt, für die spätere Nachanmeldung den früheren Zeitrang der Erstanmeldung so in Anspruch zu nehmen, als wäre die Nachanmeldung selbst bereits am Tage der Erstanmeldung eingereicht worden. Im Streitfall erfolgte die Anmeldung des Prioritätsdokuments US ’219 am 12.09.2003 in den USA durch die drei – am 18.06.2004 nachbenannten – Erfinder Die internationale Anmeldung WO ’928 wurde – unter Beanspruchung des Zeitrangs der Erstanmeldung – am 10.09.2004 beim Europäischen Patentamt eingereicht. Sie benennt als Anmelder für die USA die drei oben genannten Erfinder sowie einen weiteren Erfinder namens … und als Anmelder für alle übrigen PCT-Vertragsstaaten die Antragstellerin.
(b) Die Einspruchsabteilung des EPA hat in ihrer vorläufigen Stellungnahme vom 05.03.2021 (Ziff. 4.3 bis 4.6) vertreten, dass dem Verfügungspatent der Zeitrang der Erstanmeldung vom 12.09.2003 zuzusprechen sei. Dem stehe weder die Beteiligung weiterer Anmelder (Herr und die Antragstellerin) an der Nachanmeldung noch die territoriale Aufspaltung der Nachanmeldung nach geografischen Schutzgebieten entgegen. Sie hat hierzu Folgendes ausgeführt:
„Nach Rücksprache mit der Rechtsabteilung und unter Berücksichtigung der Einwendungen und Argumente der Patentinhaberin vertritt die Einspruchsabteilung die vorläufige Auffassung, dass dem Streitpatent die beanspruchte Priorität aus folgendem Grund formell zusteht:
4.4 Im Hinblick auf Artikel 76(1) EPÜ ist die Situation am Anmeldetag (10. September 2004) der frühesten Anmeldung (“Stammanmeldung“; PCT/US04/26732 = EP04781429) entscheidend für die Beurteilung der formalen Wirksamkeit der in Anspruch genommenen Priorität. Wie von der Patentinhaberin geklärt wurde und aus dem USPTO-Register in Bezug auf 60/502.219 ableitbar ist, wurde die US-Prioritätsanmeldung im Namen der Erfinder-Anmelder … und … eingereicht. … wurden auch als Anmelder (nur für die USA) in PCT/US04/26732 genannt.
4.5 Nach Artikel 87(1) EPÜ genießt jede Person, die eine Patentanmeldung ordnungsgemäß eingereicht hat, oder ihr Rechtsnachfolger zum Zwecke der Einreichung einer europäischen Patentanmeldung für dieselbe Erfindung ein Prioritätsrecht. Bei gemeinsamen Anmeldern, die die spätere EP-Anmeldung einreichen, genügt es, wenn einer der Anmelder der späteren Anmeldung der Anmelder (oder Rechtsnachfolger) der früheren Anmeldung ist. Eine besondere Übertragung des Prioritätsrechts auf die anderen Anmelder ist nicht erforderlich, da die spätere Anmeldung gemeinsam eingereicht wurde. Dasselbe gilt für den Fall, dass die frühere Anmeldung selbst von gemeinsamen Anmeldern eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass alle diese Anmelder (oder ihre Rechtsnachfolger) zu den gemeinsamen Anmeldern der späteren EP-Anmeldung gehören (siehe RiLi A-III, 6.1). Für PCT-Anmeldungen gelten dieselben Grundsätze auch dann, wenn die prioritätsbegründenden gemeinsamen Anmelder ausschließlich US-Anmelder sind und daher nicht Teil der europäischen Phase sind. Daher kann der/können die prioritätsberechtigte(n) Anmelder, selbst wenn es sich nur um Anmelder für bestimmte Bestimmungen handelt, das Prioritätsrecht in die PCT-Anmeldung mit voller Wirkung für die PCT-Anmeldung als Ganzes einführen. Diese Wirkung kann nicht allein dadurch als verloren gelten, dass die Anmeldung beim Eintritt in die europäische Phase als europäische Anmeldung bearbeitet wird und die prioritätsberechtigten Anmelder keinen Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents haben, weil sie nicht als Anmelder für die Bestimmung EP benannt wurden.
4.6 Auf dieser Grundlage ist die Einspruchsabteilung der vorläufigen Auffassung, dass Alvarez, Lawrence und Lin als Mitanmelder (nur für die USA) das Recht auf Inanspruchnahme der Priorität von US60/502,219 in PCT/US04/26732 als Ganzes eingeführt haben, so dass Amgen Inc. berechtigt war, es auch in Bezug auf die europäische Bestimmung wirksam zu beanspruchen, ohne dass es einer gesonderten Übertragung bedurfte. Die spätere Übertragung der Prioritätsanmeldung/des Prioritätsrechts von den Erfinder-Anmeldern auf Amgen Inc., auf die sich einige der Einsprechenden bezogen und die am 21. April 2006 vollzogen wurde, wird in diesem Zusammenhang nicht als relevant erachtet, sondern bestätigt vielmehr die Annahme, dass … zum Zeitpunkt der Anmeldung von PCT/US04/26732 noch im Besitz des Prioritätsrechts waren. Darüber hinaus werden solche späteren Abtretungen oft zu formellen Aufzeichnungszwecken vorgenommen. Für die Einspruchsabteilung erscheint es auch nicht entscheidend, dass in der PCT-Anmeldung eine vierte Person (…) als Erfinder-Anmelder (nur für die USA) angegeben wurde, da es entscheidend und ausreichend ist, dass die Anmelder von US60/502,219 zu den Anmeldern von PCT/US04/26732 gehörten.“
(c) Hiergegen verweist die Antragsgegnerin auf die Rechtsprechung der technischen Beschwerdekammern des EPA, die die Beurteilung der Einspruchsabteilung im Vorbescheid nicht trage, weil das Prinzip der gemeinsamen Anmelder bei Sachverhalten, die mit der hiesigen Fallkonstellation identisch oder jedenfalls weitgehend vergleichbar seien, von den Beschwerdekammern nicht angewandt, sondern und stattdessen eine gesonderte Übertragung des Prioritätsrechts gefordert werde. Soweit die Antragstellerin ihrerseits auf eine Reihe von Entscheidungen von Einspruchsabteilungen Bezug nimmt, die die gleiche Rechtsauffassung wie das EPA vertreten würden, legt sie keine Entscheidung einer Beschwerdekammer vor, die diese Auffassung bestätigt. Soweit sie außerdem Entscheidungen der Beschwerdekammern heranzieht, führt sie selbst aus, dass in keiner dieser Entscheidungen die Frage geprüft worden sei, ob sich das Prioritätsrecht auch aus der gemeinsam eingereichten PCT-Anmeldung ableiten lasse.
Unter Berücksichtigung der eingehenden Argumentation der Antragsgegnerseite, mit der diese der Annahme einer wirksamen Inanspruchnahme der Priorität der US-Anmeldung durch das Verfügungspatent entgegentritt, ist nicht prognostizierbar, dass die Beurteilung dieser Streitfrage durch die Einspruchsabteilung des EPA in ihrer vorläufigen Stellungnahme im weiteren Verlauf des Verfahrens Bestand haben wird.
Entsprechendes gilt für die von Antragstellerseite in ihrer Replik erstmals behauptete vorherige Übertragung des Prioritätsrechts seitens der Erfinder als Angestellte der Antragstellerin auf diese (vgl. Anlage rop 42/rop 42a, Ziff. 13–19), nämlich im Jahr 1996 von …, im Jahr 1999 von …, im Jahr 1999 von … und im Jahr 2002 von … Diesbezüglich hat die Antragsgegnerseite in Abrede gestellt, dass diese behaupteten Vorausabtretungen das Prioritätsrecht an der streitgegenständlichen Erfindung erfassen würden. Eine derartige Vorausabtretung würde im Übrigen der vorzitierten Argumentation des EPA unter Ziff. 4.6. die Grundlage entziehen, wonach die spätere Übertragung der Prioritätsanmeldung/des Prioritätsrechts von den Erfinder-Anmeldern auf die Antragstellerin die Annahme bestätigen würde, dass … und … zum Zeitpunkt der Anmeldung von PCT/US04/26732 noch im Besitz des Prioritätsrechts gewesen seien. Auch soweit das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung vom 04.03.2021 (2 U 25/20 GRUR-RS 2021, 4420 Rn. 31 ff.) zu einem Parallelpatent eine formlose konkludente Übertragung des Prioritätsrechts vor der PCT-Anmeldung auf die Antragstellerin angenommen hat (a.a.O. Rn. 34 ff.), ist nicht ersichtlich, dass dies in der Rechtsprechung der technischen Beschwerdekammern des EPA, auf die es im Einspruchsverfahren ankommt, bislang vertreten worden wäre. Im Übrigen hat die Antragsgegnerseite im Termin vor dem Senat in Frage gestellt, dass eine derartige konkludente Übertragung die Einhaltung den nach dem einschlägigen US-amerikanischen Recht geltenden formellen Anforderungen gerecht wird.
(3.) Erfinderische Tätigkeit
Gegen die vorläufige Annahme der Einspruchsabteilung des EPA vom 05.03.2021, wonach Anspruch 1 des Verfügungspatents auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht (Art. 100 (a) i.V.m. Art. 56 EPÜ), hat die Antragsgegnerseite ebenfalls gewichtige Einwendungen vorgebracht, die in dem Vorbescheid des EPA keine Berücksichtigung gefunden haben.
(a) Die Einspruchsabteilung ist der vorläufigen Ansicht, dass die experimentellen Daten bestätigen, dass durch die mit dem Verfügungspatent beanspruchten Zusammensetzungen eine schnelle Auflösung erreicht wird (vgl. Rn. 6.20). Sie führt in diesem Zusammenhang aus (Rn. 6.21):
„Das zu lösende Problem scheint daher darin zu bestehen, eine Zusammensetzung, die Cinacalcet umfasst, bereitzustellen, die eine sofortige, schnelle Freisetzung von Cinacalcet-HCI zeigt. Da D1 sich über eine Zusammensetzung völlig ausschweigt, stimmt die Einspruchsabteilung mit der Patentinhaberin darin überein, dass das Problem nicht als Bereitstellung einer alternativen Zusammensetzung von Cinacalcet-HCI angesehen werden sollte. Außerdem haben die Beispiele des Patents und die Versuchsberichte glaubhaft belegt, dass die beanspruchten Zusammensetzungen eine schnelle Auflösung erreichen.“
Die Einspruchsabteilung ist in ihrer vorläufigen Stellungnahme von der Entgegenhaltung D 1 (Franceschini et al., „Cinacalcet-HCL: a calcimimetic agent for the management of primary and secondary hyperparathyroidism“, 2003. Expert Opin Investig. Drugs, 12, Seiten 1413–1421, Anlage rop 23 a/b;25a/b) als nächstliegender Stand der Technik ausgegangen. In diesem Dokument werden orale Darreichungsformen des Wirkstoffs Cinacalcet offenbart, ohne sich jedoch zur spezifischen pharmazeutischen Zusammensetzung der Darreichungsform zu verhalten. Wenngleich die Einspruchsabteilung des EPA in der in Bezug auf das Verfügungspatents vorliegenden Stellungnahme (Rn. 6.24) berücksichtigt hat, dass Stärke und mikrokristalliner Cellulose aus der Sicht des maßgeblichen Fachmanns allgemein gebräuchliche Hilfsstoffe sind, konnte sie ausgehend von der D1 oder einem der anderen Dokumente keinen Anreiz für den Fachmann feststellen, genau die beanspruchten Hilfsstoffe in dem beanspruchten Verhältnis zu verwenden. Keines der im Einspruchsverfahren zitierten Dokumente zum Stand der Technik offenbart Einzelheiten einer pharmazeutischen Zusammensetzung enthaltend Cinacalcet-HCI, geschweige denn einer solchen, die eine vorteilhafte Auflösungsrate mit sich bringt. Entsprechendes hat auch bereits die technische Beschwerdekammer des EPA im Einspruchsverfahren gegen das Stammpatent EP ’182 zum Stand der Technik festgestellt (vgl. Beschluss vom 12.04.2018, Az. T 1063/15, Anlage rop 24a/b. Seiten 12, 13), und zwar ebenfalls unter Anerkennung des Arguments, dass es sich bei Stärke und mikrokristalliner Cellulose um allgemein gebräuchliche Hilfsstoffe handelte (vgl. Beschluss vom 12.04.2018, Az. T 1063/15, Anlage rop 24a/b/rop26a/b, Seiten 13, 2. Abs.).
Vor diesem Hintergrund führt das EPA in seiner vorläufigen Stellungnahme unter Rn. 6.24 aus:
„Die Einspruchsabteilung ist derzeit der vorläufigen, nicht bindenden Auffassung, dass eine erfinderische Tätigkeit anzuerkennen ist. Hilfsstoffe wie Stärke und MCC sind ausweislich des Lehrbuchwissens allgemein gebräuchliche Hilfsstoffe. Ausgehend von D1 oder einem der anderen Dokumente gibt es jedoch keinen Anreiz für den Fachmann, genau die beanspruchten Hilfsstoffe und insbesondere in dem beanspruchten Verhältnis zu verwenden. Dies kann aus dem zitierten Stand der Technik nicht abgeleitet werden, insbesondere da D1 über jede mögliche Zusammensetzung schweigt. Dieselbe Schlussfolgerung ergibt sich, wenn man von irgendeinem der zitierten Dokumente des Standes der Technik ausgeht. Daher scheint der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ zu erfüllen.“
Den Einwand, dass der Fachmann nur routinemäßige Formulierungsstudien durchführen müsse und die Verwendung der beanspruchten Hilfsstoffe zum allgemeinen Fachwissen gehöre, hat das EPA in seinem Vorbescheid berücksichtigt (Rn. 6.13), ist dem aber nicht beigetreten, sondern ist davon ausgegangen, dass das spezifische Verhältnis von mikrokristalliner Cellulose zu Stärke von Anspruch 1 nicht ohne erfinderischen Aufwand aus dem Stand der Technik abgeleitet werden habe können.
(b) Die Antragsgegnerseite wendet hiergegen ein, es sei nicht belegt, dass die Merkmale des Anspruchs 1 des Verfügungspatents das Problem einer schnellen Freisetzung lösen würden, vielmehr sei das konkret gelehrte Verhältnis der genannten Hilfsstoffe willkürlich gewählt. Das beanspruchte Gewichtsverhältnis von mikrokristalliner Cellulose zu Stärke habe keinerlei Einfluss auf das Freisetzungsverhalten des Wirkstoffs Cinacalcet. Nachdem also diese Maßnahme keinen Effekt in Bezug auf das zu lösende Problem habe, könne auch keine erfinderische Leistung gegeben sein. Auch sei der Anspruch weder durch eine bestimmte Maßnahme (stoffliche Zusammensetzung), noch durch einen zu erzielenden Zweck (Angabe eines bestimmten Auflösungsprofils) auf eine schnelle Freisetzung des Cinacalcet-HCI beschränkt, sondern könne etwa auch Zusammensetzungen mit erheblichem Bindemittelgehalt erfassen, die nicht mehr schnell freisetzend seien. Dass sich die Einspruchsabteilung mit diesen Fragen im Rahmen ihrer vorläufigen Stellungnahme auseinandergesetzt hätte, ist deren Begründung nicht zu entnehmen.
(4.) Im Ergebnis ist eine Prognose darüber, dass das Verfügungspatent im weiteren Verlauf des Einspruchsverfahrens Bestand haben wird, nicht zu treffen. Vielmehr stehen dem die angeführten, von Antragsgegnerseite erhobenen Einwendungen entgegen, die mit der vorläufigen Stellungnahme des EPA nicht ausgeräumt werden.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.


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