Europarecht

Zu den Voraussetzungen einer Gehörsrüge – erfolgsloser Berufungszulassungsantrag in asylrechtlichem Verwaltungsstreitverfahren

Aktenzeichen  24 ZB 21.30103

Datum:
11.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 2846
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 78 Abs. 3 Nr. 3, § 108 Abs 1 S. 1, § 138 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Die Gerichte brauchen sich nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen; es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gerügt, scheidet schon deshalb eine Gehörsverletzung im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG aus, weil die Grundsätze der Beweiswürdigung in der Regel nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen sind. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 4 K 19.31715 2020-12-09 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung bleibt ohne Erfolg.
1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels in Form der Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.
Der Klägerbevollmächtigte trägt vor, es liege ein Verstoß gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs vor, da das Gericht einen wesentlichen Teil des klägerischen Vorbringens, insbesondere die erlittenen Gewalttätigkeiten und die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin zu 1 sowie die hierzu vorgelegten Atteste nicht berücksichtigt habe. Auch sei das Gericht nicht auf die Rückkehrsituation der minderjährigen Klägerin zu 2, deren Zwangsverheiratung im Falle einer Rückkehr drohe, eingegangen.
Mit diesen Ausführungen zeigen die Klägerinnen keinen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG auf. Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenverantwortlich und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003, – 1 PBVU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409). Es gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60,305). Die Gerichte brauchen sich jedoch nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinanderzusetzen. Denn es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Etwas anderes gilt, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerwG, B.v. 2.5.2017 – 5 B 75.15 D).
Gemessen hieran liegt ein Gehörsverstoß nicht vor. So ist den Entscheidungsgründen zu entnehmen, dass sich das Gericht mit dem Vorbringen der Klägerinnen sowohl hinsichtlich der erlittenen Gewalttätigkeiten durch den Exmann der Klägerin zu 1 (vgl. UA Rn. 18: „…insbesondere die wiederholten gewaltsamen Übergriffe ihres geschiedenen Ehemanns“; (UA Rn. 20) „…geltend gemachte Gewalt durch Dritte“ und UA Rn. 22: „…tätliche Übergriffe vom geschiedenen Ehemann“) als auch hinsichtlich der vorgelegten ärztlichen Atteste (UA Rn. 34: „Aus den von ihr im Gerichtsverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen ergeben sich keine Hinweise für eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung der Klägerin zu 1, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde“) auseinandergesetzt hat. Auch wenn in den Entscheidungsgründen nicht explizit auf die Rückkehrsituation der Klägerin zu 2 eingegangen wird, ergibt sich aus diesen dennoch eindeutig, dass das Verwaltungsgericht der Auffassung ist, dass den Klägerinnen, also weder der Klägerin zu 1 noch der Klägerin zu 2, nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht (UA Rn. 17 ff.). So führt das Gericht aus, dass die Klägerinnen im Hinblick auf die geltend gemachte Gewalt durch Dritte auf Akteure, die Schutz bieten können sowie auf eine interne Fluchtalternative in der Westtürkei zu verweisen seien (UA Rn. 20). Sowohl die Ausführungen zur ausreichenden Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates (UA Rn. 20-22) wie auch die Ausführungen zur innerstaatlichen Fluchtalternative (UA Rn. 23) gelten damit gleichermaßen für beide Klägerinnen. Tatsächlich zielt das Vorbringen der Klägerinnen in der Sache auf eine ihrer Ansicht nach fehlerhafte Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO ab. Wird aber die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gerügt, scheidet schon deshalb eine Gehörsverletzung im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG aus, weil die Grundsätze der Beweiswürdigung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in der Regel nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem materiellen Recht zuzuordnen sind (BVerwG, B.v. 21.1.2019 – 6 B 120.18). Aus diesem Grund führt eine fehlerhafte Sachverhalts- oder Beweiswürdigung grundsätzlich zu einem materiell-rechtlichen Fehler, der im Asylprozess nicht zu einer Berufungszulassung führen kann, weil § 78 Abs. 3 AsylG einen dem § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entsprechenden Zulassungsgrund der „ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“ nicht vorsieht.
2. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist schon nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt. Der Klägerbevollmächtigte führt hierzu aus, das Erstgericht ignoriere die tatsächliche Situation für Frauen in der Türkei, „weshalb die Sache auch grundsätzliche Bedeutung“ habe.
Grundsätzliche Bedeutung hat eine Asylrechtsstreitigkeit, wenn mit ihr eine grundsätzliche, bisher höchstrichterlich und obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellungen bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufgeworfen wird, die sich in dem erstrebten Berufungsverfahren stellen würde und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Die Darlegung dieser Voraussetzungen erfordert wenigstens die Bezeichnung einer konkreten Frage, die sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für das Berufungsverfahren erheblich wäre (Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 78 AsylG Rn. 11, m.w.N.). Eine verallge-meinerungsfähige Frage tatsächlicher Natur ist als grundsätzlich bedeutsam anzusehen, wenn sich nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel klärungsbedürftige Gesichtspunkte ergeben, weil diese Erkenntnismittel in ihrer Gesamtheit keine klare und eindeutige Aussage zu der Tatsachenfrage zulassen. Insoweit verlangt das Darlegungserfordernis gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass die tatsächliche Frage nicht nur aufgeworfen wird, sondern im Wege der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil und mit den wichtigsten Erkenntnismitteln, etwa aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes, herausgearbeitet wird, warum ein allgemeiner Klärungsbedarf bestehen soll (Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 211 ff.). Dabei gilt allgemein, dass die Anforderungen an die Darlegung nicht überspannt werden dürfen, sondern sich nach der Begründungstiefe der angefochtenen Entscheidung zu richten haben.
Diesen Anforderungen entspricht der Zulassungsantrag nicht. Hier fehlt es bereits an der Formulierung einer für grundsätzlich bedeutsam gehaltenen Frage. Soweit der Bevollmächtigte der Klägerinnen ausführt, es lägen diverse unterschiedliche verwaltungsgerichtliche Entscheidungen (VG Karlsruhe, U.v. 19.7.2019 – A 10 K 15283/17; VG Berlin, U.v. 24.5.2017 – 36 K 216.16 A) zu der als Verfolgungsgrund vorgebrachten Problematik der Zwangsheirat vor, handelt es sich im Gewand der Rüge der grundsätzlichen Bedeutung um eine Divergenzrüge nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG. Die Darlegung der Divergenz erfordert jedoch nicht nur die genaue Benennung des Gerichts und die zweifelsfreie Angabe seiner Divergenzentscheidung. Darzulegen ist auch, welcher tragende Rechts- und Tatsachensatz in dem Urteil des Divergenzgerichts enthalten ist und welcher bei der Anwendung derselben Rechtsvorschrift in dem angefochtenen Urteil aufgestellte tragende Rechts- oder Tatsachensatz dazu in Widerspruch steht. Die divergierenden Sätze müssen einander so gegenübergestellt werden, dass die Abweichung erkennbar wird (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 17.7.2008 – 9 B 15.08 – juris; Happ in Eyermann VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 73 m.w.N.). Zudem ist nur die Abweichung von einer Entscheidung der in § 78 Abs. 2 Nr. 2 AsylG genannten Obergerichte relevant. Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass die Frage, ob den Klägerinnen wegen einer drohenden Zwangsheirat bzw. den erlittenen Gewalttätigkeiten subsidiärer Schutz bzw. Abschiebungsschutz zuzuerkennen ist, von den Umständen des konkreten Einzelfalles abhängt und nicht allgemein fallübergreifend beantwortet werden kann.
3. Von einer weiteren Begründung des Nichtzulassungsbeschlusses wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.


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