Europarecht

Zuständigkeit der Oberlandesgerichte zur Überprüfung der Einverständniserklärung des Verfolgten mit vereinfachter Auslieferung

Aktenzeichen  1 Ausl AR 55/20

Datum:
18.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StV Spezial – 2021, 56
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
IRG § 14, § 15, § 22, § 40 Abs. 2, § 41 Abs. 3
StPO § 302 Abs. 1
RB-EuHB Art. 13 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 24.11.2020 in der Rechtssache C 510/19 ist abzuleiten, dass die deutschen Generalstaatsanwaltschaften mit Blick auf das in § 146 GVG verankerte externe Weisungsrecht keine unabhängige Justizbehörden im Sinne des Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26.02.2009 geänderten Fassung sind. (Rn. 2)
2. Vor diesem Hintergrund hat daher im Überstellungsverfahren im Zuge eines Europäischen Haftbefehls nunmehr das Oberlandesgericht und nicht die Generalstaatsanwaltschaft die Wirksamkeit der Erklärung des Verfolgten zu überprüfen, mit der er sich nach § 41 IRG mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt. (Rn. 2)
3. Die gegenüber dem Ermittlungsrichter erklärte Einverständniserklärung eines Verfolgten mit seiner vereinfachten Auslieferung nach § 41 IRG ist unwirksam, wenn er vor Abgabe dieser Erklärung nicht die Möglichkeit hatte, sich mit dem ihm nach § 40 Abs. 2 IRG bestellten Rechtsbeistand zu beraten. (Rn. 2)

Tenor

Gegen den Verfolgten wird zur Vorbereitung seiner Auslieferung an das Großherzogtum Luxemburg zur Strafverfolgung wegen der im Europäischen Haftbefehl genannten Straftaten gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG die Auslieferungshaft angeordnet.

Gründe

I.
Der sich zu diesem Zeitpunkt in anderer Sache in Strafhaft befindende Verfolgte wurde aufgrund eines Fahndungsersuchens der luxemburgischen Behörden dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts vorgeführt. Der Ermittlungsrichter hat auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft eine Festhalteanordnung gemäß § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG erlassen und ihm einen Rechtsanwalt als Beistand beigeordnet. Bei seiner Anhörung durch den Ermittlungsrichter bestritt der Verfolgte die ihm zur Last liegenden Tatvorwürfe. Er erklärte sich, ohne dass sein bestellter Rechtsbeistand zu diesem Moment anwesend gewesen wäre oder dass er Gelegenheit zur Rücksprache mit diesem gehabt hatte, mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden und verzichtete auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes. Mit Schreiben vom 16.12.2020 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft, gegen den Verfolgten gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG zur Vorbereitung seiner Auslieferung an Luxemburg zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der im Europäischen Haftbefehl genannten Straftaten Auslieferungshaft anzuordnen und festzustellen, dass die vereinfachte Auslieferung des Verfolgten zulässig ist.
II.
Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft vom 16.12.2020 auf Erlass eines Auslieferungshaftbefehls war stattzugeben.
wird ausgeführt
III.
Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft festzustellen, dass die vereinfachte Auslieferung des Verfolgten zulässig ist (eine entsprechende Entscheidung ist erst seit dem Urteil des EuGH vom 24.11.2020 in der Rechtssache C-519/19 veranlasst), kann hingegen derzeit nicht entsprochen werden, da dessen Erklärung vor dem Ermittlungsrichter, in der er sich mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärte, durch die Art und Weise ihres Zustandekommens unwirksam ist, nachdem er keine Möglichkeit hatte, sich vor Abgabe der Erklärung mit seinem Rechtsbeistand zu besprechen.
a) Nach obergerichtlicher Rechtsprechung kann der Verzicht auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes [Anm: Es folgen weitere Ausführungen] unwirksam sein, wenn der Antrag des Verfolgten auf Hinzuziehung eines anwaltlichen Rechtsbeistands übergangen wurde (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 21.08.2002 – 3 Ausl 33/02 bei juris). Dies muss umso mehr gelten, wenn das Gericht die Notwendigkeit einer Hinzuziehung anwaltlichen Rechtsbeistands erkennt, diesen auch bestellt, dann aber zum weiteren Verfahren, in welchem dann die Einverständniserklärung mit der vereinfachten Auslieferung erfolgt, nicht hinzuzieht.
b) Weiter entspricht es ständiger und gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass ein Rechtsmittelverzicht nach § 302 Abs. 1 StPO, der ebenfalls eine unwiderrufliche Prozesshandlung darstellt, dann unwirksam sein kann, wenn durch das Gericht einem Angeklagten vor Erklärung eines Rechtsmittelverzichts keine Gelegenheit gegeben wurde, sich mit seinem Verteidiger zu besprechen, oder der Verteidiger keine Gelegenheit erhalten hatte, seinen Mandanten zu beraten (vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 07.03.2017 – 3 StR 545/16 bei juris und schon 21.04.1999 – 5 StR 714/98 = BGHSt 45, 51 = NJW 1999, 2449 = StV 1999, 412 = wistra 1999, 306 = BGHR StPO § 302 Abs. 1 S. 1 Rechtsmittelverzicht 20 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 63. Aufl. § 302 Rn. 25 m.w.N.).
Sinn und Zweck dieser Rechtsprechung sind auch auf das Auslieferungsverfahren zu übertragen.
Bei der Einverständniserklärung mit der vereinfachten Auslieferung handelt es sich, ebenso wie beim Rechtsmittelverzicht nach § 302 Abs. 1 StPO, um eine unbedingte und unwiderrufliche (§ 41 Abs. 3 IRG) Prozesshandlung. Beide Erklärungen sind dadurch geprägt, dass der Betroffene auf die weitere gerichtliche Nachprüfung einer entweder ergangenen oder in Form der Auslieferung zu erwartenden Entscheidung verzichtet, obwohl ihm hierzu nach den gesetzlichen Vorschriften das Recht zugestanden hätte.
Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der Gesetzgeber seit der Neufassung des § 40 IRG (BGBl. I 2019, 2128), die auf einer europarechtlichen Verpflichtung beruht, in § 40 Abs. 2 IRG die Notwendigkeit der Bestellung eines Rechtsbeistands vorsieht. Damit verfolgt er erkennbar das Ziel, dass die Abgabe der Einverständniserklärung durch den Verfolgten freiwillig erfolgt und dieser sich bei Abgabe seiner Einverständniserklärung der sich daraus ergebenden Folgen bewusst ist (vgl. auch Art. 13 Abs. 2 RB-EuHB). Es wäre widersprüchlich und würde die so begründete Notwendigkeit der Bestellung eines Rechtsbeistands für das Auslieferungsverfahren konterkarieren, wenn der Verfolgte ohne die tatsächliche Möglichkeit vorheriger Beratung durch den Rechtsbeistand wirksam auf wesentliche Verfahrensrechte verzichten könnte.
c) Exakt diese Fallkonstellation ist im vorliegenden Fall gegeben. Zwar wurde dem Verfolgten zu Beginn seiner Anhörung vor dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts ein Rechtsanwalt als Rechtsbeistand bestellt, dieser wurde jedoch zur weiteren Anhörung nicht hinzugezogen in deren Verlauf sich der Verfolgte mit der vereinfachten Auslieferung und dem Verzicht auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes einverstanden erklärt hat. Dieser hatte somit, was aber gerade der Sinn der Bestellung des Pflichtbeistands war, gerade keine Gelegenheit, sich mit einer rechtskundigen Person über die Konsequenzen seiner verfahrensrechtlichen Erklärung zu besprechen.


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