Aktenzeichen XII ZB 249/19
Leitsatz
Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 16. März 2016 – XII ZB 203/14, NJW 2016, 1828 und vom 30. Oktober 2019 – XII ZB 144/19, juris).
Verfahrensgang
vorgehend LG Bamberg, 12. März 2019, Az: 43 T 31/19vorgehend AG Forchheim, 22. Januar 2019, Az: 2 XVII 110/06
Tenor
Dem Betroffenen wird als Beschwerdeführer für das Verfahren der Rechtsbeschwerde ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt beigeordnet (§§ 76 Abs. 1, 78 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 ZPO).
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bamberg vom 12. März 2019 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Wert: 5.000 €
Gründe
I.
1
Der Betroffene wendet sich gegen die Erweiterung seiner Betreuung.
2
Für den Betroffenen ist seit Juni 2006 eine Betreuung eingerichtet. Die Betreuerin hat die Erweiterung der Betreuung um die Aufgabenbereiche Gesundheitssorge einschließlich hiermit verbundener Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten beantragt. Nachdem das Amtsgericht den Betroffenen, der zunächst mit der Erweiterung seiner Betreuung einverstanden war, angehört hatte, hat es die Betreuung antragsgemäß erweitert, die nunmehr insgesamt folgenden Aufgabenkreis umfasst: Vertretung in Nachlassangelegenheiten, Entgegennahme und Öffnen sowie Anhalten der Post in dem übertragenen Aufgabenkreis, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern sowie Gerichten, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten und Gesundheitssorge einschließlich hiermit verbundener Aufenthaltsbestimmung. Das Landgericht hat die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich dieser mit seiner Rechtsbeschwerde. Weder das Amtsgericht noch das Landgericht haben dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger bestellt.
II.
3
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
4
1. Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Die Voraussetzungen für beide, die bisherige Betreuung erweiternde Aufgabenbereiche lägen vor. Insbesondere sei der Betroffene aufgrund seiner Intelligenzminderung (IQ von 56) und den sich daraus ergebenden Verhaltensweisen beim Umgang im sozialen Umfeld nicht in der Lage, selbst diese Angelegenheiten zu regeln.
5
Die notwendige Anhörung des Betroffenen sei vom Amtsgericht durchgeführt worden. Angesichts dieser nur kurze Zeit zurückliegenden Anhörung, des Fehlens weiterer entscheidungserheblicher neuer Tatsachen seit der durchgeführten Anhörung und des aufgrund ausführlicher Dokumentation gut nachvollziehbaren Inhalts des Gesprächs habe von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen werden können.
6
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers verfahrensfehlerhaft unterblieben ist.
7
a) Ebenso wie für die Verlängerung einer Betreuung (§ 295 Abs. 1 Satz 1 FamFG) gelten auch für die Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers (§ 293 Abs. 1 Satz 1 FamFG) die Vorschriften über die Anordnung dieser Maßnahmen entsprechend. Gemäß dem danach entsprechend anwendbaren § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Nach diesen Maßgaben ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht, dass die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (Senatsbeschlüsse vom 16. März 2016 – XII ZB 203/14 – NJW 2016, 1828 Rn. 8 f. mwN und vom 30. Oktober 2019 – XII ZB 144/19 – juris Rn. 7).
8
Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Eine Verfahrenspflegschaft ist nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gemäß § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen. Es unterfällt der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (Senatsbeschlüsse vom 16. März 2016 – XII ZB 203/14 – NJW 2016, 1828 Rn. 8 mwN und vom 30. Oktober 2019 – XII ZB 144/19 – juris Rn. 8).
9
b) Gemessen hieran ist es verfahrensfehlerhaft, dass die Instanzgerichte von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen haben.
10
Maßgeblich für die hier zu beantwortende Frage der Bestellung eines Verfahrenspflegers ist, ob die Erweiterung des Aufgabenkreises aus Sicht des Betreuungsgerichts eine umfassende Betreuung als möglich erscheinen lässt (vgl. Senatsbeschluss vom 4. August 2010 – XII ZB 167/10 – FamRZ 2010, 1648 Rn. 11). Der danach von der Betreuung erfasste umfangreiche Aufgabenkreis verdeutlicht, dass der Betreuer in allen wesentlichen Lebensbereichen maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgestaltung des Betroffenen hat. Da die Interessen des Betroffenen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gemäß § 276 Abs. 4 FamFG vertreten worden sind, hätte nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den bereits genannten Voraussetzungen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden können (vgl. Senatsbeschlüsse vom 16. März 2016 – XII ZB 203/14 – NJW 2016, 1828 Rn. 11 mwN und vom 30. Oktober 2019 – XII ZB 144/19 – juris Rn. 10). Eine Abweichung vom Regelfall des § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG liegt hier schon deshalb fern, weil der Betroffene nach den getroffenen Feststellungen unter einer Intelligenzminderung (IQ von 56) leidet, die es ihm zusätzlich erschwert, sich in dem Betreuungsverfahren in hinreichender Weise Gehör zu verschaffen.
11
Indessen enthält weder der angefochtene Beschluss des Landgerichts noch die Entscheidung des Amtsgerichts eine Begründung für die unterbliebene Bestellung eines Verfahrenspflegers. Deshalb lässt sich nicht feststellen, aus welchen Erwägungen von der Anordnung einer Verfahrenspflegschaft abgesehen worden ist, und somit auch nicht, ob diese Entscheidung ermessensfehlerfrei zustande gekommen ist. Der angefochtene Beschluss ist demzufolge verfahrensfehlerhaft ergangen.
12
3. Die Zurückverweisung gibt dem Landgericht Gelegenheit, Feststellungen zum Fehlen des freien Willens gemäß § 1896 Abs. 1a BGB zu treffen und dem Sachverständigen aufzugeben, sein Gutachten auch auf den Bereich der Wohnungsangelegenheiten zu erstrecken. Weil der Beweisbeschluss des Amtsgerichts vom 12. Dezember 2018 diesen Aufgabenbereich nicht erfasst, hat der Sachverständige hierzu folgerichtig auch keine Ausführungen gemacht. Deswegen wird das Landgericht den Betroffenen auch erneut anzuhören haben. Außerdem wird das Landgericht dafür Sorge zu tragen haben, dass dem – gemäß § 275 FamFG verfahrensfähigen – Betroffenen das Sachverständigengutachten bekanntgegeben wird.
13
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen, § 74 Abs. 7 FamFG.
Dose
Schilling
Nedden-Boeger
Botur
Guhling