Familienrecht

Betreuungsverfahren: Anhörungspflicht des Betroffenen nach Erstattung des Sachverständigengutachtens; erneute Anhörung bei mündlich erstattetem Gutachten im Anhörungstermin

Aktenzeichen  XII ZB 204/20

Datum:
12.8.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2020:120820BXIIZB204.20.0
Normen:
§ 68 Abs 3 S 2 FamFG
§ 278 Abs 1 S 1 FamFG
§ 280 Abs 1 S 1 FamFG
Spruchkörper:
12. Zivilsenat

Leitsatz

1. Die nach § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG erforderliche Anhörung des Betroffenen ist grundsätzlich durchzuführen, nachdem ihm das nach § 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG einzuholende Sachverständigengutachten rechtzeitig bekanntgegeben worden ist (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 3. Juli 2019 – XII ZB 62/19, FamRZ 2019, 1648).
2. Hat ein Sachverständiger sein Gutachten ausnahmsweise im Anhörungstermin mündlich erstattet, ist sicherzustellen, dass der Betroffene ausreichend Zeit hat, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Kann oder will sich der Betroffene im Anhörungstermin nach einem Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer Stellungnahmefrist hierzu nicht abschließend äußern, ist ihm gegebenenfalls das Protokoll der mündlichen Gutachtenerstattung zu übersenden und seine Anhörung erneut durchzuführen.

Verfahrensgang

vorgehend LG Landshut, 2. April 2020, Az: 64 T 926/20vorgehend AG Landau (Isar), 19. März 2020, Az: XVII 2/13

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Landshut vom 2. April 2020 aufgehoben, soweit darin die Beschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Landau an der Isar vom 19. März 2020 zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Beschwerdewert: 5.000 €

Gründe

I.
1
Die Betroffene wendet sich gegen die Verlängerung und Erweiterung ihrer Betreuung.
2
Für die Betroffene ist seit Februar 2013 eine Betreuung eingerichtet, zuletzt mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post und Entscheidung über Fernmeldeverkehr, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern, Wohnungsangelegenheiten sowie Vermögenssorge. Zudem besteht ein Einwilligungsvorbehalt für den Bereich der Vermögenssorge.
3
Mit Beschluss vom 2. Dezember 2019 hat das Amtsgericht die Einholung eines Gutachtens zu den medizinischen Voraussetzungen einer Betreuungsverlängerung angeordnet. Eine Erstellung des Gutachtens scheiterte zunächst daran, dass der Sachverständige keinen Kontakt zu der Betroffenen herstellen konnte. Auch ein ärztliches Attest konnte nicht eingeholt werden, da die Betroffene von der Betreuerin nicht dazu bewegt werden konnte, einen Arzt aufzusuchen. Zu einem für den 13. Februar 2020 angesetzten Anhörungstermin ist die Betroffene ebenfalls nicht erschienen. Ein Anhörungstermin in der Wohnung der Betroffenen ist gescheitert, weil die Betroffene trotz mehrfachen Klingelns, Klopfen und verbaler Aufforderung die Wohnungstür nicht öffnete.
4
Daher hat das Amtsgericht nach Bestellung eines Verfahrenspflegers die Vorführung der Betroffenen zu einem für den 18. März 2020 angesetzten Anhörungstermin angeordnet. Im Anhörungstermin hat der Sachverständige die Betroffene untersucht; sein Gutachten hat er zu Diktat des Gerichts erstattet. Anschließend hat das Amtsgericht die Anhörung der Betroffenen durchgeführt und sodann deren Unterbringung einstweilen bis längstens 28. April 2020 genehmigt.
5
Mit Beschluss vom 19. März 2020 hat das Amtsgericht die Betreuung für die Betroffene verlängert und den bisherigen Aufgabenkreis um die Bereiche der Organisation der ambulanten Versorgung sowie der Aufenthaltsbestimmung ergänzt. Den Einwilligungsvorbehalt für die Vermögenssorge hat das Amtsgericht ebenfalls verlängert und die Überprüfungsfrist auf den 19. März 2027 festgesetzt.
6
Die hiergegen gerichteten Beschwerden der Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Gegen diesen Beschluss hat die Betroffene Rechtsbeschwerde eingelegt, soweit darin ihre Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss vom 19. März 2020 betreffend die Betreuung zurückgewiesen worden ist.
II.
7
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Die angefochtene Entscheidung ist verfahrensfehlerhaft ergangen und hält deshalb einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
8
1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Beschwerdegericht unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über deren Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss vom 19. März 2020 entschieden hat.
9
a) Ebenso wie für die Verlängerung einer Betreuung (§ 295 Abs. 1 Satz 1 FamFG) gelten auch für die Erweiterung des Aufgabenkreises des Betreuers (§ 293 Abs. 1 Satz 1 FamFG) die Vorschriften über die Anordnung dieser Maßnahmen entsprechend. Gemäß dem danach entsprechend anwendbaren § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2019 – XII ZB 392/19 – NJW 2020, 852 Rn. 5 mwN).
10
b) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über deren Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 19. März 2020 entscheiden. Denn das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren war fehlerhaft, weil es die Betroffene angehört hat, ohne ihr zuvor das Sachverständigengutachten in ausreichender Weise bekanntzugeben.
11
aa) Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache setzt gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist ein schriftliches Gutachten mit seinem vollen Wortlaut im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen (§ 275 FamFG) grundsätzlich auch ihm persönlich zur Verfügung zu stellen. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Februar 2020 – XII ZB 179/19 – FamRZ 2020, 786 Rn. 7 mwN). Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, ist die nach § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG erforderliche Anhörung des Betroffenen daher grundsätzlich durchzuführen, nachdem das nach § 280 Abs. 1 Satz 1 FamFG einzuholende Sachverständigengutachten vorliegt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 6. Mai 2020 – XII ZB 6/20 – juris Rn. 7; vom 3. Juli 2019 – XII ZB 62/19 – FamRZ 2019, 1648 Rn. 13 mwN und vom 21. November 2018 – XII ZB 57/18 – FamRZ 2019, 387 Rn. 6 mwN). Auch wenn ein Sachverständiger sein Gutachten ausnahmsweise im Anhörungstermin mündlich erstattet hat, ist sicherzustellen, dass der Betroffene ausreichend Zeit hat, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern (vgl. Senatsbeschluss vom 6. April 2016 – XII ZB 397/15 – FamRZ 2016, 1148 Rn. 11 f.). Kann oder will sich der Betroffene im Anhörungstermin nach einem Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit einer Stellungnahmefrist hierzu nicht abschließend äußern, ist ihm gegebenenfalls das Protokoll der mündlichen Gutachtenerstattung zu übersenden und seine Anhörung erneut durchzuführen.
12
bb) Dem ist das amtsgerichtliche Verfahren nicht gerecht geworden. Der Sachverständige hat im Vorführungstermin vom 18. März 2020 unmittelbar nach der Untersuchung der Betroffenen sein Gutachten zu Protokoll diktiert. Sollte es sich hierbei um eine mündliche Gutachtenerstattung gehandelt haben, die vom Gericht protokolliert worden ist, hat es das Amtsgericht versäumt, der Betroffenen ausreichend Möglichkeit zur Stellungnahme hierzu zu gewähren. Denn das Protokoll wurde am 19. März 2020 und damit erst nach der am 18. März 2020 durchgeführten Anhörung der Betroffenen erstellt. Ob die Betroffene während des Diktats anwesend gewesen ist, was sich der Verfahrensakte nicht entnehmen lässt, ist unerheblich. Selbst wenn sie hierbei anwesend gewesen sein und das Diktat mitgehört haben sollte, hatte sie nicht die Möglichkeit, sich eingehend mit dem Gutachten auseinanderzusetzen, bevor sie noch in diesem Termin von dem Amtsrichter persönlich angehört worden ist.
13
Sollte es sich um ein schriftliches Sachverständigengutachten gehandelt haben, wofür spricht, dass die schriftliche Ausfertigung des Diktats dem Sachverständigen am 19. März 2020 per Fax „mit der Bitte um Unterschrift nach Überprüfung und ergänzenden Ausführungen zur Erweiterung der Betreuung (Aufenthalt fehlt)“ übersandt worden ist, ist dieses jedenfalls der Betroffenen nicht vor ihrer am 19. März 2020 durchgeführten Anhörung bekanntgegeben worden. Die erforderliche Überlassung des schriftlichen Gutachtens an die Betroffene konnte auch nicht dadurch ersetzt werden, dass der Amtsrichter sie vor der Anhörung über den wesentlichen Inhalt des Gutachtens in Kenntnis gesetzt hat. Denn auch dann hatte die Betroffene nicht die Möglichkeit, sich mit dem schriftlichen Gutachten auseinanderzusetzen und entsprechende Einwendungen zu formulieren (vgl. Senatsbeschluss vom 27. Mai 2020 – XII ZB 582/19 – juris Rn. 7). Einen Hinweis darauf, dass die Betroffene durch die Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens Gesundheitsnachteile entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG zu befürchten hätte, enthält das Gutachten nicht.
14
c) Unter diesen Umständen hätte das Landgericht der Betroffenen das protokollierte Gutachten übersenden und sie danach erneut persönlich anhören müssen. Da dies nicht erfolgt ist, ist die angegriffene Entscheidung bereits aus diesem Grund aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, weil das Landgericht die erforderlichen Feststellungen in verfahrensordnungsgemäßer Weise zu treffen haben wird.
15
2. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
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