Aktenzeichen 1 BvQ 33/11
Art 6 Abs 2 Abs 1 GG
§ 32 Abs 1 BVerfGG
Art 12 KiEntfÜbk Haag
Art 3 Abs 1 Buchst b KiEntfÜbk Haag
Verfahrensgang
vorgehend OLG Celle, 30. September 2011, Az: 18 UF 107/10, Beschluss
Tenor
1. Die Vollziehung des Beschlusses des Oberlandesgerichts Celle vom 30. September 2011 – 18 UF 107/10 – wird bis zur abschließenden Entscheidung über die noch nachzureichende Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht, längstens bis zum 30. November 2011, ausgesetzt.
2. Der Antrag der Antragsteller auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird abgelehnt.
3. …
Gründe
I.
1
Die Antragsteller wenden sich im Wege eines isolierten Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unter Ankündigung
der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung einer Kindesrückführung nach Art. 3 in Verbindung mit Art. 12
HKÜ.
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1. Die Antragsteller sind Eltern einer 1999 geborenen Tochter. Die Familie besitzt die norwegische Staatsangehörigkeit, Mutter
und Tochter haben daneben noch die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Familie lebte ursprünglich in Norwegen. Am 9. Februar
2010 entzog der Bezirksausschuss für Kinder-, Jugend- und Sozialhilfe in Oslo den Antragstellern die Personensorge für ihre
Tochter und übertrug sie auf das Jugendamt. Weiter ordnete er die Unterbringung des Kindes in einer besonders qualifizierten
Pflegefamilie an. Noch bevor der Beschluss vollzogen werden konnte, reisten die Antragsteller am 12. Februar 2010 aus Norwegen
aus und übersiedelten nach Deutschland, wo sie seitdem leben.
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2. Das Oberlandesgericht verpflichtete die Antragsteller mit Beschluss vom 30. September 2011 zur Rückführung des Kindes nach
Norwegen bis zum 21. Oktober 2011. Dabei ging das Oberlandesgericht davon aus, dass die Voraussetzungen für eine Rückführung
nach Art. 12 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b HKÜ vorlägen und gegen die Rückführung sprechende, schwerwiegende
Gründe im Sinne des Art. 13 HKÜ nicht ersichtlich seien. Es verwies darauf, dass es nach der Rückführung Sache der zuständigen
norwegischen Behörden sei, aufgrund der aktuellen Entwicklung des Kindes bei seinen Eltern über die von den Antragstellern
bei ihnen beantragte Rückübertragung des Sorgerechts zu entscheiden.
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3. Die Antragsteller beantragen den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung, die angeordnete Rückführung ihres
Kindes nach Norwegen und die bei einer Rückführung des Kindes zu erwartende Trennung des Kindes von ihnen verletze ihre Elternrechte
aus Art. 6 GG. Sie beantragen ferner Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten; eine Erklärung über
ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse haben sie nicht vorgelegt.
II.
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1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
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a) Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig
regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund
zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes
vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren erweist
sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 ; 103, 41 ; stRspr).
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Bei offenem Ausgang des in Aussicht genommenen Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn
die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen,
die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg versagt
bliebe (vgl. BVerfGE 88, 185 ; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem
verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab
anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 ; stRspr). Im Zuge der nach § 32 Abs. 1 BVerfGG gebotenen Folgenabwägung legt das Bundesverfassungsgericht
seiner Entscheidung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen
zugrunde (vgl. BVerfGE 34, 211 ).
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b) Nach diesen Maßstäben ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung angezeigt.
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aa) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die von den Antragstellern in Aussicht genommene und über die Begründung
des Antrags auf Erlass der einstweiligen Anordnung gegebenenfalls hinausreichend begründete Verfassungsbeschwerde sich von
vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweisen wird. Der Ausgang des in Aussicht genommenen Verfassungsbeschwerdeverfahrens
ist vielmehr offen.
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bb) Die Folgenabwägung nach § 32 BVerfGG führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
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Erginge die einstweilige Anordnung, so verbliebe das Kind vorläufig bei seinen Eltern, bei denen es sein bisheriges Leben
verbracht hat und bei denen es gegenwärtig nach den bisherigen Feststellungen des Oberlandesgerichts nicht gefährdet ist.
Die bisherige Betreuung des Kindes durch seine Eltern bliebe damit aufrechterhalten, ebenso sein bereits im Februar 2010 in
Deutschland begründeter Aufenthalt. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet, verzögerte sich allerdings
die vom Oberlandesgericht angeordnete Rückführung des Kindes nach Norwegen um einen gewissen Zeitraum.
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Erginge die einstweilige Anordnung nicht, so würde das Kind nach Norwegen zurückgeführt, dort gegebenenfalls von seinen Eltern
getrennt und in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als begründet
und führte dies zu einem erneuten Aufenthaltswechsel des Kindes zurück zu seinen Eltern, so wäre das Kindeswohl durch den
mehrfachen Wechsel der unmittelbaren Bezugspersonen und des Wohnumfeldes in wesentlichem Maße beeinträchtigt.
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Wägt man die Folgen gegeneinander ab, so wiegen die Nachteile, die im Falle des Erlasses einer einstweiligen Anordnung drohen,
weniger schwer als die Nachteile, die dem Kind und den Antragstellern im Falle der Versagung einer einstweiligen Anordnung
entstehen könnten.
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2. Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts kann – unabhängig von der fehlenden
Vorlage einer Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse – nicht stattgegeben werden. Das Land Niedersachsen
ist den Antragstellern zur Kostenerstattung verpflichtet, so dass es keiner Gewährung von Prozesskostenhilfe mehr bedarf.
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3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.