Familienrecht

Gewöhnlicher Aufenthalt von Kindern bei Übersiedlung in anderen Mitgliedsstaat

Aktenzeichen  2 UF 265/16

Datum:
24.4.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
FamRZ – 2018, 38
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
Art. 8 EUEheVO
EuEhe-VO Art. 8, Art. 10, Art. 11, Art. 19 Abs. 2
HKÜ HKÜ Art. 3, Art. 15

 

Leitsatz

1. Maßgeblich für die Definition des gewöhnlichen Aufenthaltes nach Art. 8 EuEhe-VO ist eine gewisse Integration der Kinder in ein soziales und familiäres Umfeld. Entscheidend sind die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls. Dazu gehören die Umstände und Gründe des Aufenthalts der Kinder in einem Mitgliedsstaat sowie deren Staatsangehörigkeit. Um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit vom gewöhnlichen Aufenthalt abzugrenzen, ist grundsätzlich eine gewisse Dauer des Aufenthalts erforderlich, wobei es jedoch keine Mindestdauer gibt. Maßgeblich ist vielmehr der Wille der Betreffenden dort den ständigen und gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen in der Absicht zu begründen, ihnen Beständigkeit zu verleihen. (Rn. 20)
2. Gemessen an diesen Kriterien kann der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder praktisch mit der Übersiedlung in den anderen Mitgliedsstaat begründet werden, wenn man die Herkunft der Familie, die Staatsangehörigkeit, die Zielsetzung des Aufenthaltswechsels, die soziale Integration und das Einverständnis des Kindsvaters berücksichtigt.  (Rn. 21)

Tenor

Das Verfahren wird gem. Art. 19 Abs. 2 EuEhe-VO bis zur Beendigung des in Irland vor dem Ennis District Court, Lifford Road, Ennis, Co. Clare zwischen dem Antragsteller und der Antragsgegnerin anhängigen Sorgerechtsverfahren betreffend die Kinder K. A., geb. …, M. A., geb. …, und N. A., geb. …, ausgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller und die Antragsgegnerin haben am …2005 in Irland geheiratet. Der Antragsteller ist deutscher Staatsangehöriger, die Antragsgegnerin hat die irische Staatsangehörigkeit.
In Irland wurden am …2006 die Zwillinge K. A. und M. A. sowie am …2010 das Kind N. A. geboren.
Am 19.06.2011 verzog die Familie nach Deutschland.
Anfang 2016 kam es zwischen den Eheleuten zu Streitigkeiten. Am 26.02.2016 unterzeichnete der Antragsteller eine notarielle Erklärung, nach der er das Aufenthaltsbestimmungsrecht betreffend die Kinder auf die Kindsmutter überträgt. Noch am gleichen Tag flog die Antragsgegnerin mit den Kindern nach Irland, wo sie sich seither mit ihnen aufhält. Seit 07.03.2016 besuchen die Kinder in Irland die Schule. Sie bewohnen mit der Mutter eine Wohnung in der Nähe ihrer Großmutter und ihres Onkels. Sie sind in örtlichen Vereinen engagiert.
Am 22.04.2016 beantragte die Antragsgegnerin vor dem Ennis District Court, Lifford Road, Ennis, Co. Clare in Irland das Sorgerecht für die drei Kinder (Az: …). Nach Auskunft des Verbindungsrichters in Irland, die von den Verfahrensbeteiligten nun auch nicht mehr in Frage gestellt wird, ist das Sorgerechtsverfahren dort zwar nicht aktiv (wegen des damals noch in Irland anhängigen Verfahrens nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen vom 25. 10. 1980 = kurz HKÜ), aber noch anhängig.
Im Gegenzug betrieb der Antragsteller vor dem High Court in Irland (Az: …) ein Verfahren mit dem Ziel der Rückführung der Kinder nach Deutschland aufgrund des HKÜ. Das dortige Verfahren endete durch Beschluss vom 29.07.2016, in dem das Gericht die Rückführung der Kinder ablehnte. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass nach der durchgeführten Beweisaufnahme der Aufenthaltswechsel der Kinder nach Irland mit dem Einverständnis des Kindsvaters erfolgt sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die Entscheidung verwiesen.
Ebenfalls parallel dazu betrieb der Antragsteller u. a. vor dem Amtsgericht in Aschaffenburg ein Verfahren zur Erteilung einer Widerrechtlichkeitsbescheinigung nach Art. 15 HKÜ. Mit Beschluss des Amtsgerichts Aschaffenburg (Az: 4 F 735/16) wurde festgestellt, dass die Verbringung der Kinder nach Irland widerrechtlich i. S. d. Art. 3 HKÜ ist. Gegen die Entscheidung wurde von der Kindsmutter form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt, über die vor dem Senat am 01.08.2016 (2 UF 140/16) mündlich verhandelt und Beweis erhoben wurde. In dem Rahmen wurde der Bruder der Antragsgegnerin R. Q. als Zeuge vernommen, der im Ergebnis bestätigte, dass der Kindsvater mit einem dauernden Aufenthaltswechsel der Kinder nach Irland einverstanden war. Darüberhinaus wurde eine WhatsApp-Nachricht des Antragstellers vor Unterzeichnung der notariellen Erklärung vorgelegt, die folgenden Wortlaut hatte:
„It also means if you want to go anywhere in the world with the kids I have no say in the matter. Which I never had anyway and if I had I never stopped you or will stop you.
I hope you will always act in the interest of M., K. and N. I hope you always be sure where they are. Your right becomes your duty.
It only shold take 10 min. If a Notar is available.”
In dem bereits erwähnten Termin vom 01.08.2016 vor dem Senat (2 UF 140/16) erzielten die Kindeseltern eine Vereinbarung, in der sich der Kindsvater verpflichtete, gegen die Entscheidung des High Court in Irland kein Rechtsmittel einzulegen, und beide Eltern die Auffassung vertraten, dass sich aufgrund der Entscheidung des High Court in Irland das Verfahren zur Erteilung einer Widerrechtlichkeitsbescheinigung nach Art. 15 HKÜ erledigt hat.
Bereits mit am 12.05.2016 beim Amtsgericht in Aschaffenburg eingegangenen Antrag verlangte der Kindsvater die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die drei Kinder (Az: 4 F 861/16).
Mit Beschluss des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 18.10.2016 wurde der Antrag des Kindsvaters abgelehnt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass keine internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte zur Regelung des Sorgerechts bestehe. Maßgeblich sei Art. 8 EuEhe-VO, also der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder. Ein Fall der Art. 10, 11 EuEhe-VO liege nicht vor, weil die Kinder nicht widerrechtlich nach Irland verbracht worden seien. Der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder sei in Irland.
Gegen die seiner Verfahrensbevollmächtigten am 24.10.2016 zugestellte Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit seiner am 04.11.2016 beim Amtsgericht in Aschaffenburg eingegangenen Beschwerde. Er will nach wie vor erreichen, dass er das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die drei Kinder erhält. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass es bei der Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach Art. 10 und 11 EuEhe-VO verblieben sei. Im Übrigen habe auch der High Court in seiner Entscheidung vom 29.07.2016 unter Punkt 27 ausgeführt, dass die Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die Sorgerechtsregelung anerkannt werde.
Nachdem die Verfahrensbeteiligten ursprünglich übereinstimmend behauptet haben, dass in Irland kein Sorgerechtsverfahren betreffend die drei Kinder mehr anhängig ist, räumen sie nunmehr übereinstimmend ein, dass das Verfahren dort zwar ruht, aber noch anhängig ist.
Nach dem nunmehr festgestellten Sachverhalt, der von den Verfahrensbeteiligten auch nicht mehr in Frage gestellt wird, ist mindestens seit 22.04.2016 in Irland ein Sorgerechtsverfahren betreffend die drei Kinder anhängig, während in Deutschland die Anhängigkeit am 12.05.2016, also später eingetreten ist. Nach Art. 19 Abs. 2 EuEhe-VO hat das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, bis die Zuständigkeit bei dem zuerst angerufenen Gericht geklärt ist. Dadurch sollen negative Kompetenzkonflikte zwischen den Gerichten in den Mitgliedsstaaten verhindert werden (vgl. OLG Karlsruhe FamRZ 2011, 1528-1529).
Zur weiteren Verfahrensförderung weist der Senat jedoch bereits an dieser Stelle darauf hin, dass nach seiner Auffassung die Gerichte in Irland zur Regelung des Sorgerechts betreffend die drei Kinder international zuständig sind.
Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergibt sich weder aus Art. 10, noch aus Art. 11 EuEhe-VO. Beide Vorschriften (vgl. Art. 10 Satz 1 bzw. Art. 11 Abs. 1) setzen nämlich ein widerrechtliches Verbringen der Kinder voraus. Dies ist nicht der Fall, wenn der Wechsel des dauernden Aufenthalts mit dem Einverständnis des im Heimatstaat verbliebenen Elternteils erfolgt ist (EuGH vom 09.10.2014, Az: C-376/14 PPU; FamRZ 2015, 107-111).
Diese Voraussetzung liegt hier vor. Aus dem vor dem Senat anhängigen Verfahren 2 UF 140/16 ergibt sich, dass der Antragsteller durch notarielle Erklärung das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Kindsmutter übertragen hat. Dies ist ohne gerichtliche Mitwirkung nach deutschem Recht zwar nicht möglich. Hieraus ergibt sich jedoch das Einverständnis des Kindsvaters mit dem Aufenthaltswechsel der Kinder nach Irland. Dies wird bestätigt durch die oben zitierte WhatsApp-Nachricht des Kindsvaters, in der er einräumt, dass die Mutter nach der notariellen Erklärung mit den Kindern überall auf der Welt hingehen kann. Letztlich hat dies auch der vor dem Senat vernommene Zeuge R. Q. überzeugend bestätigt.
Diese Überzeugung entspricht im Übrigen auch der Auffassung des High Court in Irland in seiner Entscheidung vom 29.07.2016, in der die Rückführung der Kinder aufgrund des für nachgewiesen gehaltenen Einverständnisses des Kindsvaters abgelehnt wurde.
Mangels eines widerrechtlichen Verbringens i. S. d. Art. 3 HKÜ kann sich folglich die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte nicht aus Art. 10, 11 EuEhe-VO ergeben.
An dem Ergebnis ändert auch der Hinweis des High Court unter Nummer 27 seiner Entscheidung vom 29.07.2016 nichts, wonach die Zuständigkeit der deutschen Gerichte zur Regelung des Sorgerechts für die Kinder akzeptiert wird. Dieser Hinweis hat keinerlei Bindungswirkung, weil er nicht in einem Sorgerechtsverfahren, sondern in einem Kindesentführungsverfahren ergangen ist, bei dem es sich um einen völlig anderen Verfahrensgegenstand handelt (vgl. Art. 19 HKÜ).
Die internationale Zuständigkeit zur Regelung der Sorgerechtsfrage richtet sich folglich nach Art. 8 EuEhe-VO, maßgeblich ist damit der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder. Dieser hat bei Einleitung des Verfahrens in Irland aber bereits dort bestanden. Die Kinder haben mit der Mutter und mit dem Einverständnis des Vaters Deutschland mit dem Ziel verlassen, auf Dauer in Irland zu bleiben. Die Kinder und die Mutter sind irische Staatsangehörige, die Kinder sind in Irland geboren, sie wurden dort sofort eingeschult und sind in verschiedenen Vereinen integriert. Damit hat der Lebensmittelpunkt der Kinder bereits bei Antragstellung in Irland bestanden. Maßgeblich für die Definition des gewöhnlichen Aufenthaltes nach Art. 8 EuEhe-VO ist eine gewisse Integration der Kinder in ein soziales und familiäres Umfeld. Entscheidend sind die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls. Dazu gehören die Umstände und Gründe des Aufenthalts der Kinder in einem Mitgliedsstaat sowie deren Staatsangehörigkeit. Um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit vom gewöhnlichen Aufenthalt abzugrenzen, ist grundsätzlich eine gewisse Dauer des Aufenthalts erforderlich, wobei es jedoch keine Mindestdauer gibt. Maßgeblich ist vielmehr der Wille der Betreffenden dort den ständigen und gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen in der Absicht zu begründen, ihnen Beständigkeit zu verleihen. Die Dauer des Aufenthalts ist damit nur ein Indiz im Rahmen der Beurteilung der Gesamtumstände (EUGH vom 22.12.2010, Az: C-497/10 PPU, FamRZ 2011, 617-621).
Gemessen an diesen Kriterien kann kein Zweifel daran bestehen, dass der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder praktisch mit der Übersiedlung nach Irland bereits dort bestanden hat, wenn man die Herkunft der Familie, die Staatsangehörigkeit, die Zielsetzung des Aufenthaltswechsels, die soziale Integration und das Einverständnis des Kindsvaters berücksichtigt.


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