Familienrecht

Jugendamt, Ermessensentscheidung, Auswahlentscheidung, Kindeswohl, Leistungen, Beschwerde, Vormund, Berufung, Ermessen, Umgangsrecht, Vormundschaft, Amt, Verfahren, Auflage, Gelegenheit zur Stellungnahme, Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, kraft Gesetzes

Aktenzeichen  16 WF 15/21, 16 WF 16/21

Datum:
9.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 29611
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

u 50 F 1659/20 2020-10-29 Bes AGROSENHEIM AG Rosenheim

Tenor

1. Die Beschwerden gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Rosenheim vom 29.10.2020 in den Verfahren 50 F 108/20 und 50 F 109/20 werden zurückgewiesen.
2. Kosten für das Beschwerdeverfahren werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
3. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 1.000 € festgesetzt.
4. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

Die Beschwerden des Jugendamts F. vom 14.12.2020 im Verfahren 50 F 109/20 betreffend M.M., geb. am … 2003, und vom 15.12.2020 im Verfahren 50 F 108/20 betreffend M. J., geb. am …2013, richten sich gegen die Entlassung des Landratsamts R. als Amtsvormund und die Übertragung der Vormundschaft auf das Jugendamt F.
I.
Nach Aktenlage wurden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge M. und J. am 20.09.2020 im Landkreis R. aufgegriffen. Nicht eindeutig geklärt war deren Verwandtschaft. So wurden sie zunächst als Brüder, später als Onkel und Neffe bezeichnet. In der vom Senat durchgeführten Anhörung haben sie bestätigt Onkel und Neffe zu sein. Beide Minderjährige wurden von der Durchführung des Verteilungsverfahrens gemäß § 42b SGB VIII ausgeschlossen, da sich Verwandte in Deutschland befinden und eine Familienzusammenführung angebahnt werden soll.
Mit Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Rosenheim vom 12.10.2020 wurde in beiden Verfahren Vormundschaft angeordnet und das Kreisjugendamt R. als Vormund ausgewählt. Mit Schriftsatz vom 26.10.2020 an das Amtsgericht Rosenheim teilte das Kreisjugendamt R. mit, dass beide Mündel vom 22.09. bis 24.09.2020 abgängig waren und seit 24.09.2020 in H. wohnen. Aus diesem Grund werde gebeten, einen Vormund im Landkreis F. zu bestimmen.
In beiden Verfahren wurde daraufhin jeweils mit Beschluss vom 29.10.2020 das Kreisjugendamt R. als Vormund entlassen und das Amt für Jugend und Familie in F. als Vormund bestimmt, da das Kreisjugendamt R. aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts in H. gem. § 87c Abs. 3 SGB VIII nicht mehr zuständig sei. Vom Verteilungsverfahren gem. § 42b SGB VIII seien die Mündel ausgenommen worden.
Das gerichtliche Verfahren wurde aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts der Mündel in H. im Einvernehmen mit dem Amtsgericht Freising in der Folge gemäß § 4 FamFG an dieses Gericht abgegeben.
Mit den Schriftsätzen vom 14. bzw. 15.12.2020, beim Amtsgericht Freising jeweils eingegangen am gleichen Tag, legte das Amt für Jugend und Familie F. Beschwerde gegen die ihm am 17.11.2020 zugegangenen Beschlüsse vom 29.10.2020 in beiden Verfahren ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 87c Abs. 3 SGB VIII nicht hätte erfolgen dürfen, da es sich um minderjährige unbegleitete Flüchtlinge handele, bei denen sich die örtliche Zuständigkeit nach § 88a Abs. 4 SGB VIII richte. Der Aufenthalt im Landkreis F. sei nicht von Dauer, da es sich bei dem derzeitigen Aufenthalt im J. B. lediglich um eine Clearingmaßnahme handele und zudem eine Familienzusammenführung mit Verwandten im Raum Stuttgart und Saarbrücken erfolgen solle.
Das Kreisjugendamt R. beantragte, die angegriffenen Beschlüsse aufrecht zu erhalten. Auch wenn der Aufenthalt in der Einrichtung B. nicht auf Dauer angelegt sei, bestehe er fort, bis die Frage einer Familienzusammenführung abgeklärt sei. Wegen der großen Entfernung zu der aktuellen Einrichtung entspreche die Führung der Vormundschaft durch das Kreisjugendamt R. zudem nicht dem Wohl der Kinder. Hinzu komme, dass bis dato kein persönlicher Kontakt zu einem Amtsvormund des Kreisjugendamts R. bestand, während die Kinder die Amtsvormünder des Amts für Jugend und Familie F. im Rahmen der Hilfeplanung bereits persönlich kennengelernt hätten.
Am 24.03.2021 hat der Senat beide Mündel persönlich angehört. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf den Vermerk vom 24.03.2021 Bezug genommen. Die Jugendämter R. und F. erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
Die Beschwerden sind gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässig, insbesondere steht einem ausgewählten Vormund ein Beschwerderecht gemäß § 59 Abs. 1 BGB gegen seine Auswahl und Bestellung als Vormund zu, weil er hierdurch in seinen Rechten betroffen ist (Keidel/Meyer-Holz, FamFG, 20. Auflage 2020, § 59 Rn. 65).
Die Beschwerden sind jedoch unbegründet.
Das Familiengericht hat nach §§ 1779, 1791b BGB zunächst das Kreisjugendamt Rosenheim und anschließend das Amt für Jugend und Familie Freising zum Vormund für die beiden Minderjährigen bestimmt.
Die örtliche Zuständigkeit eines Jugendamts richtet sich grundsätzlich nach den Zuständigkeitsvorschriften des SGB VIII. § 88a SGB VIII regelt die örtliche Zuständigkeit umfassend für Maßnahmen gegenüber unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen. Die örtliche Zuständigkeit für die Amtsvormundschaft ist in § 88a Abs. 4 SGB VIII geregelt.
Gemäß § 1779 BGB wählt das Familiengericht einen Vormund nach den in dieser Vorschrift verankerten Grundsätzen aus, soweit keine wirksame Berufung eines Vormunds durch die Eltern gemäß §§ 1776 ff. BGB erfolgt ist und auch die Voraussetzungen einer kraft Gesetzes eintretenden Amtsvormundschaft nicht vorliegen. Kommt § 1779 BGB danach zur Anwendung, entscheidet das Familiengericht nach pflichtgemäßem Ermessen und hat – unter Beachtung des Vorrangs eines ehrenamtlichen Einzelvormunds – den Vormund auszuwählen, der bei Beurteilung der gesamten Umstände am besten geeignet erscheint, die Mündelinteressen wahrzunehmen. Ob das Familiengericht bei der Bestellung eines Amtsvormunds gemäß § 1791b BGB unmittelbar an die Vorgaben des SGB VIII gebunden ist oder einen eigenständigen Entscheidungsspielraum hat, wird uneinheitlich beurteilt. Die Frage, ob aus sachlichen Gründen ein anderes Jugendamt ausgewählt werden kann, wird sowohl im Rahmen des Anwendungsbereichs von § 87c Abs. 3 S. 3 SGB VIII als auch im Kontext des hier in Frage stehenden § 88a Abs. 4 SGB VIII diskutiert (zur analogen Anwendung des § 87c Abs. 3 SGB VIII im Rahmen von § 88a jurisPK-SGB VIII/Lange, 29.06.2020, § 88a Rn. 53).
Rechtsprechung und Literatur gehen zum Teil von einer Bindung des Familiengerichts an die behördlichen Zuständigkeitsregeln des SGB VIII bei der Auswahl des Vormunds aus (OLG Celle FamRZ 2018, 1246; OLG Frankfurt FamRZ 2020, 1843; MüKoBGB/Spickhoff, 8. Auflage 2020, § 1791b Rn. 9; BeckOGK/Hoffmann, 01.12.2020, § 1791b Rn. 88; Heilmann/Köhler, Praxiskommentar Kindschaftsrecht, 2. Auflage 2020, § 58 SGB VIII Rn. 18 f.; LPK-SGB VIII/Kepert, 7. Auflage 2018, § 88a Rn. 8; jurisPK-SGB VIII/Lange, 29.06.2020, § 88a Rn. 54 ff.; zuletzt Lange JAmt 2021, 122). Ein Teil der Vertreter dieser Meinung gestattet allerdings Abweichungen von den Regelungen des SGB VIII aus „besonderen“ bzw. „zwingenden“ Gründen des Kindeswohls (OLG Karlsruhe JAmt 2016, 633; FamRZ 2017, 812; FamRZ 2019, 369; OLG Düsseldorf ZKJ 2020, 32). Diese Ansicht argumentiert damit, dass § 1791b BGB zwar die Möglichkeit eröffne, das Jugendamt zum Vormund zu bestellen und dem Familiengericht damit die Befugnis einräume, den betroffenen Minderjährigen auf eine Leistung der Jugendhilfe zu verweisen. Darin erschöpfe sich aber die durch § 1791b BGB erreichte Erweiterung familiengerichtlicher Befugnisse. Insbesondere dürfe das Familiengericht keine gesetzlich nicht vorgesehene sozialstaatliche Leistung – um die es sich bei einer Vormundschaft durch das örtlich unzuständige Jugendamt handeln würde – anordnen. Ein wie auch immer gearteter Ermessenspielraum des Familiengerichts könne auch nicht auf §§ 1887, 1889 Abs. 2 BGB gestützt werden, da diese lediglich den Wechsel zum Einzelvormund beträfen, nicht aber den Austausch von Jugendämtern. Außerdem stehe einem Ermessen des Familiengerichts § 56 Abs. 1 SGB VIII entgegen, nach dem das BGB nur insoweit für anwendbar erklärt werde, als das SGB VIII nichts Abweichendes bestimme. Angesichts dessen könne dem Kindeswohl nur innerhalb der dem Familiengericht vorgegebenen Zuständigkeitsregelungen des SGB VIII Rechnung getragen werden. Außerdem seien für die Träger der Jugendhilfe Möglichkeiten eröffnet, die Zuständigkeit für die Leistungsgewährung unter Berücksichtigung des Kindeswohls ggfs. abweichend zu regeln (§§ 42b Abs. 4 Nr. 1, 88a Abs. 2 S. 3 SGB VIII). Auch wenn es für das ortsnähere Jugendamt regelmäßig leichter möglich sei, den erforderlichen persönlichen Kontakt zum Mündel zu pflegen, während persönliche Treffen bei größeren Entfernungen einen erheblichen Aufwand begründen können, werde das Kindeswohl durch die Verringerung des vom Jugendamt zu leistenden Aufwands unmittelbar nicht besser gewährleistet, denn Vormundschaft diene nicht der persönlichen Betreuung. Der Vormund habe vielmehr Entscheidungen in rechtlicher Hinsicht für das Kind zu treffen. In welchem Umfang tatsächlich gewöhnliche Treffen erforderlich sind, um das Kindeswohl zu gewährleisten, hänge von der persönlichen Situation des Jugendlichen ab und sei abstrakt nicht zu beantworten.
Nach der Gegenansicht beschränken die behördlichen Zuständigkeitsregelungen des SGB VIII das Ermessen des Familiengerichts, das dem Entscheidungsmaßstab Kindeswohl verpflichtet ist, bei der Auswahl des Vormunds nicht (BayObLG FamRZ 1997, 897; OLG Zweibrücken FamRZ 2002, 1064; OLG Saarbrücken BeckRS 2003, 30331135; OLG Brandenburg FamRZ 2014, 1719; OLG Schleswig NJW-RR 2016, 1030; FamRZ 2016, 1474; OLG Dresden JAmt 2018, 463; FamRZ 2019, 990; Eschelbach in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Auflage 2019, § 88a Rn. 7; BeckOGK/Fazekas, 01.07.2020, § 88a Rn. 7; Erman/Schulte-Bunert, BGB, 16. Auflage 2020, § 1791b Rn. 3; NK-BGB/Fritsche/Katzenstein/Lohse, 4. Auflage 2021, § 1791b Rn. 4; Staudinger/Veit, Neubearbeitung 2020, § 1791b Rn. 24 und 27; LPK-SGB VIII/Kunkel, a.a.O., § 87c Rn. 25; Völker/Clausius, Sorge- und Umgangsrecht, 8. Auflage 2021, § 1 Rn. 222 und § 12 Rn. 121). Zwar sei das Ziel des § 88a Abs. 4 SGB VIII – sicherzustellen, dass die örtliche Zuständigkeit für Schutzmaßnahmen bzw. Leistungen an unbegleitete ausländische Minderjährige einerseits und die Wahrnehmung der Amtsvormundschaft für diese andererseits nicht auseinanderfallen, sondern demselben örtlichen Jugendhilfeträger zugeordnet sind – bei der vom Familiengericht zu treffenden Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Das Familiengericht sei aber bei Auswahl und Bestellung des für die Vormundschaft zuständigen Jugendamts ebenso wie bei der Entscheidung über einen Wechsel des Vormunds nicht an die Vorschriften des § 88a SGB VIII über die örtliche Zuständigkeit der Jugendämter gebunden. Es könne vielmehr statt des nach § 88a Abs. 4 SGB VIII zuständigen Jugendamts aus sachlichen Gründen auch ein anderes Jugendamt zum Vormund bestellen, denn die Auswahlentscheidung des Familiengerichts gemäß §§ 1779, 1791b BGB sei grundsätzlich eine Ermessensentscheidung. Ein Wechsel in der Person des bestellten Amtsvormunds könne nur auf der Grundlage von §§ 1889 Abs. 2, 1887 Abs. 1 BGB ergehen, die durch das SGB VIII nicht verdrängt würden. Zwar enthielte das SGB VIII Regelungen zur örtlichen Zuständigkeit des Jugendamts für die bestellte Amtsvormundschaft, jedoch habe bei einer Veränderung der maßgeblichen Umstände das Jugendamt einen Antrag auf Entlassung beim Familiengericht zu stellen, nachdem sich die gerichtliche Bestellung zum Amtsvormund auf ein bestimmtes Jugendamt beziehe. Für die dann vom Familiengericht zu treffende Entscheidung enthielte das SGB VIII keine Bestimmungen, weshalb diese nach Maßgabe von §§ 1889 Abs. 2 S. 1, 1887 Abs. 1 BGB ergingen. Diese Vorschriften wiederum stellten maßgeblich auf das Kindeswohl ab. Ergäben die Ermittlungen des Familiengerichts, dass eine als Einzelvormund geeignete Person nicht zur Verfügung stehe, könne gemäß § 1791b Abs. 1 BGB ein anderes Jugendamt zum Vormund bestellt werden. Unter mehreren in Betracht kommenden Jugendämtern habe das Familiengericht ohne Bindung an das SGB VIII dasjenige auszuwählen, das die Belange des Mündels voraussichtlich am besten wahrnehmen kann. Für ein ortsnäheres als das nach den Regeln des SGB VIII eigentlich zuständige Jugendamt sei es regelmäßig leichter möglich den erforderlichen persönlichen Kontakt zu halten, der durch größere Entfernungen wesentlich erschwert werde. Auch der im Rahmen einer Kindeswohlprüfung stets zu beachtenden Kontinuität könne neben einer größeren Ortsnähe ein entscheidendes Gewicht zukommen und gegebenenfalls sogar den Ausschlag geben. So könne der Kontinuitätsgrundsatz bei einem bald volljährigen Mündel einem erneuten Vormundschaftswechsel entgegenstehen, der zur Folge hätte, dass der Vormund sich erst (wieder) in die aktuelle Sachlage einarbeiten müsste und der Jugendliche sich erneut auf einen Sachbearbeiterwechsel einstellen müsste. Diese Situation könne es aus Kindeswohlgründen gebieten, den Vormund bis zum Erreichen der Volljährigkeit eingesetzt zu lassen (so OLG Karlsruhe JAmt 2016, 633).
Wieder eine andere Meinung nimmt schließlich eine Bindung des Familiengerichts an die Zuständigkeitsvorschriften des SGB VIII nur bei der Erstauswahl des Vormunds an, nicht aber bei einer Neuentscheidung, etwa wegen eines Aufenthaltswechsels des Mündels (Heilmann/Dürbeck, a.a.O., § 1791b Rn. 7a; Dürbeck FamRZ 2018, 553, 560).
Der Senat schließt sich der Meinung an, die – jedenfalls bei einer Neuentscheidung über die Vormundschaft nach einem Aufenthaltswechsel des Kindes – eine Bindung des Familiengerichts an die örtlichen Zuständigkeitsregeln des SGB VIII verneint. Das Familiengericht hat bei der Entscheidung ein Auswahlermessen und ist bei Ausübung dessen dem Kindeswohl verpflichtet. Eine zwingende Bindung an die Vorschrift des § 88a SGB VIII über die örtliche Zuständigkeit der Jugendämter besteht nicht, diese sind allerdings im Rahmen der Ermessensausübung mit zu berücksichtigen. Somit kann es auch ein anderes Jugendamt als das nach den SGB VIII-Regeln eigentlich zuständige zum Vormund bestimmen, wenn sachliche Gründe dies gebieten. Dies ist vorliegend der Fall, so dass nach dem Aufenthaltswechsel der betroffenen Minderjährigen abweichend von § 88a Abs. 4 SGB VIII das Amt für Jugend und Familie in Freising zum neuen Vormund bestellt werden konnte.
Soweit die Vertreter einer Bindung an die sozialrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften damit argumentieren, dem Kindeswohl sei durch eine Reduzierung des Aufwands des Jugendamts nicht gedient und die Zahl der tatsächlich gebotenen persönlichen Treffen bestimme der Einzelfall, so spricht dies gerade gegen eine Bindung des Familiengerichts an die Vorschriften des SGB VIII. Nach § 1793 Abs. 1a BGB hat der Vormund mit dem Mündel persönlichen Kontakt zu halten und soll ihn in der Regel einmal im Monat in seiner üblichen Umgebung aufsuchen, es sei denn, im Einzelfall sind kürzere oder längere Besuchsabstände oder ein anderer Ort geboten. Nach § 1800 S. 2 BGB hat der Vormund die Pflege und Erziehung des Kindes persönlich zu fördern und zu gewährleisten. § 55 Abs. 3 S. 3 SGB VIII wiederholt die Pflicht zum persönlichen Kontakt und zur persönlichen Förderung und Gewährleistung der Pflege und Erziehung des Mündels unter Bezugnahme auf §§ 1793 Abs. 1a, 1800 BGB ausdrücklich und verdeutlicht dadurch diese Verpflichtung. Die Argumentation, die Zahl der Treffen bestimme der Einzelfall, zeigt eindrücklich die Gefahr für das Mündelwohl bei Beibehaltung der Vormundschaft durch ein ortsferneres Jugendamt und den damit zusammenhängenden höheren Aufwand bei Einhaltung der Vorgaben des § 1793 Abs. 1a S. 2 BGB, die mit einer Einzelfallargumentation umgangen werden können, während die Vorschrift gerade ein Mindestmaß an persönlichen Kontakten zwischen Vormund und Kind sicherstellen soll. Zwar trifft es durchaus zu, dass im Einzelfall auch seltenere Treffen geboten und ausreichend sein können, die Abweichung von der Vorgabe muss aber stets auf das Kind bezogen sein und darf nicht im Zusammenhang mit einem eventuell höheren Aufwand für das zuständige Jugendamt stehen. Das Abstellen auf das betroffene Kind kann zudem dazu führen, dass auch häufigere Treffen geboten sind, die für ein ortsferneres Jugendamt noch schwieriger zu bewältigen wären und aus Gründen der Distanz dann unter Umständen zumindest teilweise unterbleiben.
Auch die Möglichkeit nach dem SGB VIII abweichende Zuständigkeiten zu vereinbaren (§§ 42b Abs. 4 Nr. 1, 88a Abs. 2 S. 3 SGB VIII), entbindet das Familiengericht nicht von einer eigenen Kindeswohlprüfung im Einzelfall. Andernfalls wäre das Familiengericht gegebenenfalls gezwungen unter Beachtung der Zuständigkeitsvorschriften des SGB VIII eine nicht kindeswohldienliche Entscheidung bei der Vormundsauswahl zu treffen, in der Hoffnung, dass die beteiligten Jugendämter sie in eine kindeswohldienliche korrigieren. Da in diesem Kontext stets auch fiskalische Interessen eine gewichtige Rolle spielen, könnte eine Korrektur jedenfalls nicht als Regelfall angenommen werden. Dass die strikte Bindung des Familiengerichts an die Vorgaben des SGB VIII als unbefriedigend empfunden wird, zeigt sich auch darin, dass selbst Vertreter dieser Meinung aus Kindeswohlgründen – wenn auch mit einer höheren Schwelle – Ausnahmen zulassen.
Die Annahme eines Ermessens des Familiengerichts bei der Auswahl eines anderen Amtsvormunds als des ursprünglich bestellten, wie im vorliegenden Fall, wird auch nicht durch § 56 Abs. 1 SB VIII ausgeschlossen. § 56 Abs. 1 SGB VIII enthält keine Regelungen zur Bestellung des Amtsvormunds, sondern dem insoweit eindeutigen Wortlaut nach nur zur Führung der Vormundschaft. Hierzu verweist die Vorschrift zunächst auf die Regelungen des BGB zur Führung einer (Einzel-)Vormundschaft und enthält daneben Sondervorschriften, die diese modifizieren und ergänzen (FK-SGB VIII/Hoffmann, a.a.O. § 56 Rn. 2; Wiesner/Walther, SGB VIII, 5. Auflage 2015, § 56 Rn. 1; jurisPK-SGB VIII/Fröschle, a.a.O., § 56 Rn. 20; LPK-SGB VIII/Kunkel/Leonhardt, a.a.O., § 56 Rn. 1). Was unter Führung der Vormundschaft zu verstehen ist, ist nach Ansicht des Senats konkret wieder durch einen Rückgriff auf das BGB zu bestimmen: Dort regeln im 3. Abschnitt des Buches 4 die §§ 1773 bis 1792 BGB die Begründung der Vormundschaft, mithin deren Voraussetzungen und die Auswahl des Vormunds, der in den §§ 1793 bis 1836e BGB die Regelungen zur Führung der Vormundschaft nachfolgen. Damit korrespondierend finden sich in § 56 Abs. 2 und 3 SGB VIII nur Ausnahmen zu Vorschriften aus dem Bereich der §§ 1793 bis 1836e BGB (in Absatz 2: §§ 1802 Abs. 3, 1818, 1803 Abs. 2, 1811, 1822 Nr. 6 und 7, landesrechtliche Ausnahmen betreffend die Aufsicht des Familiengerichts in vermögensrechtlicher Hinsicht und beim Abschluss von Lehr- und Arbeitsverträgen; in Absatz 3: Anlage von Mündelgeld).
Auch die Formulierungen in §§ 1887 Abs. 1, 1889 Abs. 2 BGB stehen einem Ermessen des Familiengerichts bei der Auswahl des Jugendamts in einem Fall wie dem vorliegenden nach Ansicht des Senats nicht entgegen, da das Abstellen im Text auf eine „Person“ auf dem vom Gesetz intendierten Vorrang des ehrenamtlichen Einzelvormunds beruht. Dass diese Formulierung das Ermessen des dem Kindeswohl verpflichteten Familiengerichts ausschließt und dieses zwingend an die Zuständigkeitsregelungen des SGB VIII bindet, kann ihr jedenfalls nicht entnommen werden.
Schließlich hat das Familiengericht durch die Bestellung eines anderen als des in § 88a Abs. 4 SGB VIII zuständigen Jugendamts auch keine gesetzlich nicht vorgesehene sozialstaatlich Leistung angeordnet, sondern lediglich geregelt, wer die Vormundschaft künftig zu führen hat.
Schließlich soll § 87c Abs. 3 SGB VIII im Zuge des inzwischen verabschiedeten Gesetzes zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts (BT-Drs. 19/24445) dahingehend ergänzt werden, dass für die bestellte Amtsvormundschaft das Jugendamt zuständig ist, in dessen Bereich das Kind oder der Jugendliche zum Zeitpunkt der Bestellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Nach der Entwurfsbegründung (BT-Drs. 19/24445 S. 403/404) soll damit klargestellt werden, dass bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Mündels das Gericht bei seiner Entscheidung über die Entlassung des Jugendamts des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts nach § 1804 Abs. 3 BGB-E nicht an die Zuständigkeitsvorgabe gebunden ist, sondern aus Gründen des Mündelwohls auch ein Verbleiben der Amtsvormundschaft bei dem bisherigen Jugendamt möglich ist. § 1804 Abs. 3 BGB-E sieht künftig vor, dass das Familiengericht auf Antrag den bisherigen Vormund entlassen soll, wenn der Wechsel des Vormunds dem Mündelwohl dient, wobei ein entgegenstehender Wille des Mündels und der Vorrang der ehrenamtlichen Einzelvormundschaft zu berücksichtigen sind. Nichts anderes kann bei einem Aufenthaltswechsel im Rahmen des § 88 a Abs. 4 SGB VIII in einem Fall wie dem vorliegenden gelten.
Für die Bestellung des Amts für Jugend und Familie in F. spricht im vorliegenden Fall, dass sich beide Minderjährige seit 24.09.2020 im Zuständigkeitsbereich des Amts für Jugend und Familie aufhalten. Unstreitig hat es keine persönlichen Kontakte zum vorherigen Amtsvormund gegeben, während beide Minderjährige im Rahmen der Hilfeplanung persönliche Kontakte zum Amtsvormund in F. hatten. Dies haben die beiden Betroffenen bei der Anhörung durch den Senat bestätigt. Das Vertrauensverhältnis von M. zu seinem Vormund ist inzwischen bereits so ausgeprägt, dass er sich an diesen wandte, als die Ladung zur Anhörung bei ihm eingegangen ist und er dadurch verunsichert war. Im vorliegenden Fall spricht weiter die angedachte Familienzusammenführung sowie die Volljährigkeit eines Mündels M. bereits im September dafür, die Vormundschaft des Amts für Jugend und Familie in F. beizubehalten, um den Kindern den Wechsel zurück zum (ihnen persönlich auch noch gar nicht bekannten) Amtsvormund in R. und auch diesen wiederum nur für begrenzte Zeit zu ersparen. Dass der Wechsel zu dem Bruder von M. in Saarbrücken oder dem Cousin in Stuttgart weiterhin angestrebt wird, haben beide Betroffene in der Anhörung ebenfalls bestätigt.
Bei dieser Sachlage waren die Beschwerden des Amts für Jugend und Familie zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Zwar sollen danach die Kosten eines erfolglosen Beschwerdeverfahrens dem Beschwerdeführer auferlegt werden, zwingend ist dies indes nicht. Im vorliegenden Fall war dabei zu bedenken, dass die im Zentrum des Verfahrens stehende Rechtsfrage höchst umstritten und bislang höchstrichterlich nicht entschieden ist. Aus diesem Grund kann dem Beschwerdeführer auch nicht zur Last gelegt werden, dass keine Beschwerderücknahme erfolgte, als der Hinweis auf die Meinung des Senats erfolgte, da ein Interesse an einer höchstrichterlichen Klärung zu bejahen ist.
Aus diesem Grund hat der Senat auch die Rechtsbeschwerde gemäß § 70 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 FamFG zugelassen. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist geboten, da zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu der umstrittenen Frage nach der Bindung des Familiengerichts an die behördliche Zuständigkeitsregel des § 88a Abs. 4 SGB VIII bei der Auswahl eines Amtsvormundes eine – klärende – Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erforderlich ist.
Der Verfahrenswert folgt aus § 45 Abs. 1 und 3 FamGKG, wobei die Bedeutung der Sache nach Ansicht des Senats keinen höheren Wert als 1.000 € rechtfertigt (so auch OLG Düsseldorf ZKJ 2020, 32).


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